Geschrieben am 1. April 2024 von für Crimemag, CrimeMag April 2024

Gegenwartsliteratur: Ulrich Peltzer »Der Ernst des Lebens«

Geht die Wette auf?

Eine selten gewordenes Exempel realistischer Gegenwartsliteratur, besprochen von Dietrich Leder

Realistische Romane, die von Verbrechen handeln, ressortieren seit mehr als zwei Jahrzehnten als Krimis. Ein Genre, das in Deutschland bis in die 1970er-Jahre als trivial galt und also allein in Taschenbuchausgaben vorkam. Es wurde dann vermutlich durch das vom Fernsehen und seinen seriellen Produktionen angefachte Interesse nobilitiert, so dass nicht nur die us-amerikanischen Krimi-Klassiker in besseren Übersetzungen erschienen, sondern neue Kriminalromane aus dem In- wie dem Ausland als teure Hardcover herausgebracht wurden. Gleichzeitig nahm die Zahl jener realistischen Romane ab, die nicht um subjektive Befindlichkeiten kreisen, sondern sich der gesellschaftlichen Verhältnisse in beispielhaften Erzählungen annehmen. Sie sind gleichsam in den Kriminalroman ausgewandert.

Ulrich Peltzer, dessen erster Roman „Sünden der Faulheit“ 1987 im Zürcher Ammann-Verlag erschien, ist bis heute literarisch einem reflektierten Realismus verpflichtet. Seine Romane berichten von besonderen Menschen, die in krisenhaften Situationen geraten, die ebenso selbstverschuldet wie gesellschaftlich determiniert sind. In „Sünden der Faulheit“ beispielsweise steht ein Musikjournalist im Mittelpunkt, der sich Im West-Berlin Mitte der achtziger Jahre durchschlägt, sich ob seines Alkohol- und Drogenkonsums verschuldet hat, von den Geldeintreibern eines Kredithais gejagt wird, mit einem Sauf-Kumpel aus der Akademie der Künste ein Oelze-Gemälde stiehlt, dessen Besitzverhältnisse durchaus obskur sind, so dass sich die unterschiedlichsten Interessengruppen auf die Suche nach den Dieben aufmachen.

Doch weder die kriminelle Handlung noch die Ermittlung der Polizei oder der Versicherung stehen im Mittelpunkt des Romans. Der kriminelle Plot wird gleichsam verschleppt. Im Mittelpunkt dessen, was erzählt wird, steht viel mehr die in viele soziale Gruppen parzellierte Stadtgesellschaft, die der Protagonist und seine Widersacher durchkreuzen. Die Beschreibungen der Kneipen, Bordelle, der Hinterhöfe und der Hotels sind so präzise, dass man nach ihnen einen Stadtplan eines Teils der West-Berliner Subkulturen in den Jahren vor der Wiedervereinigung zeichnen könnte.

In Peltzers neuem Romans „Der Ernst des Lebens“, der jetzt im März bei S. Fischer herauskam, geht Bruno van Gelderen, der Protagonist und Ich-Erzählers, zum Studium nach Berlin, als die Stadt und das Land gerade wiedervereinigt worden war. Er gehört einer Generation an, die mit der Ideologie aufwuchs, dass der Kapitalismus den real-existierenden Sozialismus bezwungen habe und nun an der Vervollkommnung seiner selbst arbeiten könne. Alles soll nun etwas Spielerisches an sich haben, selbst der Kauf von Aktien privatisierter Staatsunternehmen wie der Telekom wird komödiantisch beworben. Brunos erste Geschäfte folgen diesem Prinzip von einem fidelen Kapitalismus, so verdient er sein erstes Geld 1990 mit der Organisation von Wetten auf den Ausgang der Fußballweltmeisterschaft.

Als er wenige Jahre später das Studium der Politikwissenschaften abbricht, arbeitet er in einer Konzertagentur, an die er zufällig geraten war, und driftet in der Freizeit durch die Stadt und überlasst dem Zufall viele Entscheidungen. Irgendwann beginnt er zu spielen, er wettet auf Trab- und Galopprennen, zockt an Automaten in Glückspielhallen und in Casinos. Er wird nach dem Kick, den das Wetten, Spielen und Zocken auslöst, süchtig. Stimuliert von Drogen, die ihn das stundenlange Hantieren an den Glückspielapparaten durchstehen lassen, gibt er erst sein eigenes Geld, dann das von Freunden und der Familie unter Vortäuschung von Geschäften geliehene aus. Verschuldet und ob seiner Betrügereien isoliert begeht er zwei Überfälle, die ihm eine zweieinhalbjährige Haftstrafe eintragen. Der kalte Entzug im Gefängnis erdet ihn, zugleich – welch selbstironische Wendung des Schriftstellers Peltzer – entdeckt er die Literatur für sich, wird zum begeisterten Leser etwa der Lyrik von Joseph Brodsky.

Nach der Entlassung arbeitet er als Journalist für eine Berliner Fußballzeitschrift, die sich auch der Vereine der unteren Ligen annimmt. Bei einer dieser unterklassigen Mannschaften begegnet er dem Sponsor des Vereins, einem aus Georgien stammenden Unternehmer, der das Geld seiner Kunden in Fonds anlegt. Ihr Gespräch weckt das Interesse des Unternehmers, so dass er wenig später einstellt, damit er Interessentinnen und Interessenten von den Fonds des Unternehmens überzeugt. Bruno entpuppt sich in der Folge ein guter Verkäufer – nicht, weil er den Kunden etwas vorschwärmt, sondern im Gegenteil, weil er sie zum Reden über sich selbst einlädt und weil er ihnen dabei aufmerksam und zugewandt zuhört.

Klar wird aber auch: Das Investment selbst ist ebenfalls ein Spiel, eine Wette auf steigende oder fallende Kurse von Aktien, Rohstoffen, Währungen und Immobilien. Ein Fonds heißt denn in Analogie zu einer Glückspielkette „Merkur Invest“. Bruno beteuert denn auch, dass das Unternehmen, das ihn anstellte und sehr gut bezahlte, bei den Anlagen seriös vorging. Dass es am Ende zu einem Finanzcrash kam, soll den Wirrungen des Kapitalmarktes und nicht irgendwelchen Betrügereien geschuldet sein. Aber ob das stimmt? Das kann die Leserin oder der Leser nicht entscheiden, denn alles, was er in „Der Ernst des Lebens“ erfährt, hört er von Bruno. Er ist ja, wie erwähnt, der Ich-Erzähler des Romans, der seine Lebensgeschichte – das legen eine Reihe von Gesprächspartikeln nahe – jemanden mündlich vorträgt. Er geht dabei nicht chronologisch vor. Er springt vor und zurück, schlägt große und kleine Bögen, lässt manches aus, während er anderes ausführlich darstellt. So fügen sich beispielsweise seine Berichte von den Kundengesprächen zu einem Panorama einer Unternehmergeneration, für die der Erhalt des Vermögens zu einem Selbstzweck wurde, dem sie wie einem Hobby frönen.

Erinnerungsfloskeln, wie sie viele deutsche Romane beschweren, denen nach dem Erzähler aus diesem oder jenem Anlass etwas einfällt oder er dieses oder jenes erinnert, vermeidet Peltzer. Brunos Lebensbericht mäandert mal vor sich hin, als entspränge er dem Talking cure einer Psychoanalyse, mal läuft er auf Pointen zu, als fände er an den Tresen einer Kneipe statt, mal trägt er Züge einer profanisierten Beichte, die als Lohn für das Bekenntnis der Schuld eine gewisse Entlastung erheischt. In diesem Sprachbewusstsein des Romans erweist sich Peltzer als reflektierter Realist, dem James Joyce nähersteht als beispielsweise Thomas Mann.

Seine Sprache des Ich-Erzählers spiegelt in bestimmten Begriffen und Redewendungen die durchlebte Zeit von 1990 bis in die Gegenwart wider, wie er selbst an modische Kleidungsstücke, besonderen Einrichtungsgegenstände, aber auch an Konzerte, Popsongs und Sportereignisse eben der Zeit erinnert. Das erhöht zugleich den Lesegenuss all jener, die diese Zeit miterlebten, seien sie nun älter oder gleich alt mit dem am Ende etwa fünfzigjährigen Protagonisten. Den jüngeren bleibt das große Vergnügen der mal amüsanten, mal irritierenden Gesellschaftsgeschichte eines Hallodris und Spielers, der am Ende mit viel Glück aus dem Spiel, als das er sein Leben begriff, auszusteigen vermochte. Aber seine Berufs- und Lebensperspektive als Galerist für moderne Kunst, die sich am Ende der 301 Seiten andeutet, hat dann doch wieder etwas von einem Spiel und vor allem einer Wette an sich, von der nur eines sicher ist: Dass sie nicht aufgeht.

Dietrich Leder

Ulrich Peltzer: Der Ernst des Lebens. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 301 Seiten, 24 Euro.

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