Geschrieben am 1. April 2024 von für Crimemag, CrimeMag April 2024

Der Fotoband »Arbeiter« von Sebastião Salgado

Bilder von archaischer Wucht

Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen,
bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.
Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. (1.Mose 3)

»Eine Archäologie des Industriezeitalters… ein Abschiedsgruß an die allmählich verschwindende Welt der Handarbeit« nannte Sebastião Salgado sein 1993 bei Aperture erschienenes, längst vergriffenes Werk. Der Verlag Taschen aus Köln, der mit der brasilianischen Fotografen-Legende ein rundes Dutzend überaus beachtlicher Bücher produziert hat – darunter die monumentale Schöpfungs-Hommage »Genesis«, »Amazonia« (Markus Pohlmeyers Besprechung hier) oder »Kuwait« (bei uns hier) – spendiert nun eine formidable Neuauflage. Oder um es mit Lelia Wanick Salgado zu sagen: „Er verlängert das Leben dieses Werks um viele Jahre.«

»ARBEITER« ist monumental. 400 Seiten in einem übergroßen Quartformat (24,5 x 33 cm), 2,85 kg schwer, 350 Duoton-Fotografien, acht Klappseiten, die in der Doppelseitenversion (es gibt auch je nach links oder rechts aufzuschlagende) das Buch dann fast einen Meter breitmachen. Als sehr praktisch beweist sich die dem Buch beiliegende Begleitbroschüre, die auf 24 Seiten Bild für Bild ausführlich erklärt und zu den Einzelkapiteln Hintergrund über die jeweilige Hand-Arbeit bietet.

Die Arbeit an diesem Buch begannen Salgado und seine Frau Lélia Wanick 1984. Damals schon war ihnen die allmähliche, weltweite Verdrängung der Handarbeit ein drängendes und vielschichtiges Problem – der englische begriff »manual labour« fasst darin auch die Schwerarbeit, für die wir im Deutschen sprachlich zulegen müssen. »Manufactum«, handgemacht, das ist bei uns so etwas wie life-style-Accessoire, nicht unbedingt haarsträubende, schweißtreibende, körper- und gesundheits-zerschleißende, lebensgefährliche, unwürdige und unmenschliche Arbeit. (Ein Freund von mir, staatlicher Arbeitsschützer, hält es kaum aus, sich das Buch anzusehen.)

1986 gewann das Projekt Gestalt, 1989 war etwa die Hälfte der Arbeit getan. Ein Musterband überzeugte den Geschäftsführer der Professional Photography Division bei Kodak so sehr,  dass sich daraus ein produktives Arbeitsverhältnis, jede Menge Unterstützung, offene Türen und manch nützlicher Kontakt oder Auftrag entwickelte, dies rund um den Globus, wo eben Kodak mit Pressehäusern, Ausstellungsmachern, Institutionen und Unternehmen Ruf und Gewicht hat. Einige Zeitungen und Magazine förderten das Projekt durch bezahlte Vorabveröffentlichungen von Bildstrecken, so etwa das US-Magazin Life, die britische Sunday Times, Il Venerdi di Republica (Italien), El Pais Semanal (Spanien), Paris Match und Libération oder der Stern.

Das Projekt umfasste Tausende von Arbeitsabzügen. Nach dem ersten Durchlauf blieben über viertausend Fotos übrig. Daraus kondensierten sich 350. Sie sind eine Weltreise zu Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts, oft vor Dreck strotzend, rund um den Globus mit ihren Händen Schwerstarbeit verrichten. Das Buch bringt uns zu Zuckerrohrpflückern nach Kuba, führt ins Inferno einer indonesischen Schwefelmine, zu Thunfischfängern nach Sizilien, zu Fabrikarbeitern nach China, zu Fleischern in Schlachtfabriken in den USA und zu Webern nach Bangladesch.

Auch das Cover-Bild des Buches: Dhanbad, état de Bihar, Inde, 1989 © Salgado

Das Buch ist in sechs große Kapitel gegliedert. Zusammen mit dem Schriftsteller Eric Nepomuceno schrieb Salgado im Oktober 1992 einen vierhändigen, sehr poetischen Einführungstext. Unseren Planeten sehen sie geteilt: »… die Erste Welt auf dem Gipfel der Verschwendung, die Dritte Welt in den Tiefen der Bot und – am Ende dieses Jahrhunderts – die Zweite Welt, die auf den Sozialismus baute, in Trümmern…«


Teil I enthält:
Zuckerrohr, Brasilien und Kuba
Tee, Ruanda
Tabak, Kuba
Kakao, Brasilien
Parfüm, Réunion

Teil II:
Fischerei, Galicien
Thunfischfang Sizilien
Schlachthof, South Dakota

Teil III:
Textilien, Bangladesch und Kasachstan
Fahrräder, Shanghai und Tientsin, China
Motorroller, Pune, Indien
Motorräder, Madras, Indien
Automobile, Ukraine, Russland, Indien und China
Werften, Polen und Frankreich
Schiffsabwrackung, Bangladesch
Titan und Magnesium, Kasachstan
Blei, Kasachstan
Stahl, Frankreich und Ukraine
Eisenbahnen, Frankreich
Eisenerz, Kasachstan

Teil IV:
Kohle, Indien
Schwefel, Indonesien
Gold, Serra Pelada, Brasilien

Teil V:
Öl, Baku
Ölquellen, Kuwait

Teil VI:
Eurotunnel, Frankreich und England
Sardar-Sarovar Damm und Bewässerungskanal, Indien
Indira-Gandhi-Kanal, Rajastan, Indien

Man muss immer wieder den Atem anhalten in diesem Buch. Oft mag man nicht glauben, was man sieht. Oder wie das jemand aushält.

Etwa der Thunfischfang auf Sizilien, zu dem eine der großen Klappseiten gehört: mit 18 Fotos. Oder die Goldmine in der brasilianischen Serra Pelada, die weltgrößte Freiluftmine, der Ort des größten Goldrausches seit über hundert Jahren, seit den Goldfunden in Klondike. Ein Jahrzehnt lang weckte Serra Pelada die Sehnsüchte nach dem legendären Goldland El Dorado. In den 1980er Jahren arbeiteten dort rund 50.000 Goldgräber unter unmenschlichen Bedingungen, sogenannte Garimpeiros. Sebastião Salgado gelang dort 1986 der Zugang. Er sagt: „Die meisten Journalisten würden da nur einen Tag bleiben. Ich blieb über einen Monat. Als ich in der Mine ankam und in dieses Loch blickte, sah ich dann eine Masse von Menschen, die alle ohne irgendwelche Hilfsmittel mit der bloßen Hand gruben. Ich dachte, das kann nicht wahr sein – ich hatte die Minen König Salomos vor Augen. Das Geräusch der auf den Boden hämmernden Spitzhacken klang wie das Geräusch in den Seelen dieser Schürfer. Sie waren zu Sklaven des Goldes geworden.“

Alle Fotos © Sebastião Salgado/ Taschen.com

Als Salgado seine Aufnahmen einer untergehenden, teilweise archaischen Arbeitswelt machte, dominierten Farbfotos die Hochglanzseiten der Zeitschriften. Schwarz-Weiß war eigentlich passé, doch die Fotostrecke zur Goldmine der Serra Pelada und die Wucht seiner biblisch anmutenden Reportage etwa führte zu einer Rückbesinnung auf die monochrome Fotografie. 

Die Kraft der Fotografie liegt für Salgado in ihrer Gerinnung zum Kristall: »Fotografie ist Gedächtnis« sagt er im Youtube-Film zu diesem Buch. Er betont: »Fotografien sind die Archive der Geschichte.« In dem Moment, indem man den Auslöser drückt und einen Moment festhält, meißelt man ihn in Stein, bewahrt ihn für die Welt.

Alf Mayer

Sebastião Salgado – Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters. Redaktion, Konzeption und Gestaltung: Lélia Wanick Salgado. Deutsche Ausgabe, übersetzt von Waltraud Götting. Mit beigelegter Bildtext-Broschüre, 24 Seiten. Verlag Taschen, Köln 2024. Hardcover, 24.5 x 33 cm, 2,85 kg, 400 Seiten, 80 Euro. –Verlagsinformationen von Taschen.com. – Sebastião Salgado bei Taschen hier.

Zaporijjia, Ukraine (à l’époque URSS), 1987 © Sebastião Salgado
Rajasthan, Inde, 1990 © Sebastião Salgado

P.S. Der Film über das Buch zeigt die Herstellung selbst als Arbeitsprozess. Für den Druck begleiten Salgado und seine Frau die Bilder von Anfang von den ersten Abzügen im eigenen Fotolabor bis hin zur Abnahme der Andruckbögen in der Druckerei.

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