Geschrieben am 1. April 2019 von für Crimemag, CrimeMag April 2019

Bodo V. Hechelhammer über Willi Winkler „Das braune Netz“

Faktenlage nicht durchgehend alternativlos

Willi Winkler ist als Journalist und Publizist seit Jahren eine bekannte Größe. Er arbeitete bereits für die »Zeit«, war beim »Spiegel« und schreibt bis heute für die »Süddeutsche Zeitung«. Zahlreiche Bücher sind von ihm erschienen, darunter »Der Schattenmann« (2011) oder zuletzt »Luther. Ein deutscher Rebell« (2016).

Winklers neues Werk erscheint nicht zufällig in diesem Jahr. Denn 2019 feiert Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland, bekanntlich ein rundes Jubiläum. Sie wurde 1949 gegründet und wird somit 70 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch. Willi Winkler greift anlässlich des Jahrestags bewusst ein kontroverses, weil in seiner Grundaussage nach wie vor gesellschaftlich und politisch hochemotionales Thema auf: Ist das demokratische Experiment der Bundesrepublik Deutschland gelungen, nicht nur »trotz« einer erheblichen nationalsozialistischen Belastung der Eliten, sondern – provokant formuliert – sogar »wegen« dieser? In welchem Ausmaß verdankt die Festigung der westdeutschen Demokratie somit früheren Nationalsozialisten ihren Erfolg, womit nicht einfachste Mitläufer, sondern explizit Mitglieder verbrecherischer NS-Organisationen wie NSDAP, der SS oder des SD gemeint sind. »Richtige« Nazis eben.

Allerdings, dies muss zu Beginn gesagt werden: neu ist dieses Thema wahrlich nicht. Zahlreiche Bücher haben sich schon in den vergangenen Jahren mit dieser Fragestellung beschäftigt. Exemplarisch soll hierbei etwa »Die kalte Amnestie: NS-Täter in der Bundesrepublik« von Jörg Friedrich (1984) genannt werden. So sollte Winklers Buch vor allem als eine Art Zusammenfassung der Erkenntnisse vergangener Jahrzehnte anhand illustrer Beispiele verstanden werden.

In sieben Kapiteln, eingeleitet und abgeschlossen von einer kurzen Einführung und einem noch knapperen Schluss, breitet Winkler aus, an wievielen Stellen und Positionen frühere Nationalsozialisten oder Unterstützer des Systems am Aufbau Westdeutschlands mitgewirkt haben: vom Geheimdienst, dem Militär, über die Politik und die Wirtschaft bis in den Kulturbereich hinein. Unterschiedliche Netzwerke wirkten einfach weiter und instrumentalisierten stellenweise alte Feindbilder, nun aber im demokratischen Gewand. Zeitlich setzt das Buch unmittelbar mit dem Kriegsende an, um faktisch mit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler zu enden. Der schwierige Umgang mit der NS-Vergangenheit also ein Problem nur der »Konservativen«? Winkler nennt viele Namen, besonders viele bekannte Persönlichkeiten und Beispiele, wie etwa den Chef des Bundeskanzleramtes (BKAMt) Dr. Hans Globke als früheren Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetzte oder Günther Grass, Literaturnobelpreisträger mit Waffen-SS-Vergangenheit. Es sind die in diesem Kontext üblichen »Verdächtigen«. Er unterfüttert die Beispiele mit zahlreichen Zitaten. Ein Augenmerk liegt auf der besonders heiklen Frage des politischen Opportunismus. Denn es war ohne Frage in den Anfangsjahren der jungen Republik zunächst einmal die Zeit des erneuten Mitlaufens, des Schweigens und des Verdrängens. Ein wahrlich zeitloses Thema über Moral und politischer Verantwortung. Allerdings kommt die Zeitkomponente, das über Jahre andauernde Ringen der deutschen Gesellschaft mit sich und den richtigen Umgang mit seiner Vergangenheit, in diesem Buch deutlich zu kurz. 

Immer wieder werden aber auch Fakten mitunter verkürzt wiedergegeben und uminterpretiert und damit im Sinn der Winklerschen Gesamtaussage geschmeidiger und passend gemacht. Drei Beispiele mögen dies verdeutlich:  In der Zeittafel (S. 412) wird erklärt, dass der am 1. April 1956 gegründete Bundesnachrichtendienst (BND) bereits mit diesem Datum »dem Kanzleramt« unterstellt gewesen sei. Dies ist faktisch falsch. Der BND war vielmehr bewusst zunächst lose dem BKAMt nur angegliedert, wurde erst nach öffentlich skandalisierten Pannen der Jahre 1961 und 1962 am 2. Oktober 1962 durch eine Kabinettsentscheidung dem BKAMt direkt unterstellt. Eine historische und sprachliche Ungenauigkeit um mehrere Jahre also, die eine gänzlich andere politische Verantwortung der Bundesregierung suggeriert. Zweitens: Im Abschnitt über die »Rote Kapelle« wird in einem Atemzug von der einstigen »Nazi-Gegenspionage« und dem BND-Abteilungsleiter namens Karl Eberhard Henke erzählt. Henke übte jedoch nie die hohe Funktion eines Abteilungsleiters aus, war zwar ein analytisch ausgezeichneter, jedoch nur »einfacher« Mitarbeiter ohne Führungs- und Entscheidungsfunktion. Dies wird so auch explizit in dem Dokument geschrieben, auf welches sich Winkler in seiner Fußnote beruft.
Ein letztes Exemplum: Im Kapitel über den »Spiegel« behauptet Winkler apodiktisch, dass der BND-Präsident das Hamburger Wochenmagazin in seiner Berichterstattung kontrolliert habe: »Gehlen hat seinerseits und völlig unabhängig vom Kanzleramt so gute Verbindungen zum Spiegel, dass er die Berichterstattung beeinflussen und dieses in seinem Sinn (wenn auch nicht immer in dem Adenauers) kontrollieren kann« (S. 288). Der »Spiegel« als faktisches Propaganda-Instrument des Geheimdienstes ist eine, entsprechend der scharf intendierten Aussage, doch sehr gewagte These. Freundlich ausgedrückt.

Winklers Erzählungen dienen vor allem der Untermauerung seiner Hauptaussage, dass das Zurückgreifen auf die Eliten der NS-Zeit nach 1945 quasi alternativlos für den demokratischen Staatsaufbau gewesen sei. Der positive Ausgang der Geschichte wird hierbei als Bestätigung herangezogen.

Willi Winkler hat ohne Frage ein gut zu lesendes Buch verfasst, mit einem breiten Ansatz und dabei sehr pointiert in journalistischer Schreibe. Als erfahrener Journalist und Publizist kann er das, man merkt seine Selbstüberzeugung geradezu beim Lesen. Denn der aufmerksame Leser nimmt fortwährend einen geradezu besserwisserhaften Unterton war, der allzu gern den oberflächlichen Lesern suggerieren möchte, dass seine Aussagen und Deutungen alternativlos seien. Dazu verallgemeinert er an vielen Stellen, um gleichzeitig seine Aussagen zu verschärfen. Ein durchaus probates Mittel, um ein Buch – und zwar explizit kein wissenschaftliches Sachbuch – zu schreiben, was vor allem verkauft werden soll. Jedoch bedeutet dies zugleich, dass sich der interessierte und kritische Leser eben auch die Faktenlage umso genauer erarbeiten muss. Der unschätzbare Vorteil ist, dass man sich über das Thema tatsächlich seine Gedanken machen muss. »Das braune Netz«, so wie von Willi Winkler gesponnen, regt somit zum Nachdenken und zur Diskussion im Jubiläumsjahr Deutschlands an: Und gute Bücher sollen genau das!

Bodo V. Hechelhammer

  • Willi Winkler: Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde. Rowohlt, Hamburg 2019. 414 Seiten, 22 Euro.

Der Autor ist Chefhistoriker des BND, der aber hier bei uns völlig privat schreibt und uns seiner Expertise wegen ein geschätzter Rezensent ist. Seine Texte bei CrimeMag hier.

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