Geschrieben am 1. April 2024 von für Crimemag, CrimeMag April 2024

Bert Schmidt & Sohrab Shahid Saless – 3 x Adieu von Seeßlen/ Mayer/ Reifarth

© Fotos Bert Schmidt: Lucie Herrmann/ Sohrab Shahid Saless: Bert Schmidt

Sie haben bei sechs Filmen zusammengearbeitet: der Exil-Iraner Sohrab Shahid Saless und der Frankfurter Bert Schmidt: Regisseur, Drehbuchautor, Schnittmeister, Kameramann, Tonmann, Produzent und Aufnahmeleiter. Bert Schmidt ist im März 2024 gestorben, 74 Jahre alt. Er hat noch erleben können, dass sein schönes Buch über Saless fertig geworden und in die Welt gegangen ist.
Wir veröffentlichen dazu eine Besprechung von Georg Seeßlen, eine ergänzende von Alf Mayer, der Bert Schmidt lange kannte, und ein Farewell von Dieter Reifarth, der lange mit ihm zusammengearbeitet und produziert hat. Filmgeschichte, persönlich also. Und für Sie ja vielleicht mit mancher Einsicht.

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Bert Schmidt: Sohrab Shahid Saless – Film im Kopf. Belleville, München. 220 Seiten, broschiert, 226 Fotos und Abbildungen, viele davon in Farbe, 24 Euro.

Georg Seeßlen: Ein sehr schönes, sehr intimes Buch über Saless

Die Geschichte des neuen deutschen Films ist ohne ihn kaum vorstellbar: Sohrab Shahid Saless. Ein radikaler Filmemacher, höchstens mit Rainer Werner Fassbinder zu vergleichen, den er merkwürdigerweise nicht ausstehen konnte. Zugleich aber ist Saless auch ein ganz und gar einzelner, einer, der sein ganz eigenes filmisches Universum schuf. Ein Beobachter mehr als ein Erzähler. Einer, der Filme über eine Welt machte, in der fast nichts und niemand zu retten ist. Aus einer ganz direkten, sehr präzisen Auseinandersetzung mit der alltäglichen Wirklichkeit heraus entstanden Portraits von »normalen Menschen«, und die muss man nur genau genug ansehen um zu erkennen, dass es so etwas wie das Normale nicht gibt. Sohrab Shahid Saless hat dort hingeschaut, wo sonst keiner hinschaut, ins allernächste. In die Fremdheit des Menschen in seiner Welt, in die verzweifelten Versuche, in der Liebe oder in der Familie einen Halt zu finden. Und er tat das in einer Mischung von dokumentarischer Leidenschaft und Poesie. Das erste haben die meisten Zuschauer und Zuschauerinnen bewundert. Das zweite blieb manchmal verborgen. Saless’ Filme sind so traurig, dass man kaum bemerkt, dass sie auch schön sind.

Es ist die Wirklichkeit eines türkischen Arbeiters in Deutschland, zwischen Fabrik und Einsamkeit, Lärm und Stille: IN DER FREMDE (1974). Es ist die Wirklichkeit eines achtjährigen Jungen, dessen Mutter den Lebensunterhalt als Prostituierte beschafft: REIFEZEIT (1975).  Und dann in UTOPIA auch eine Gegenwelt: Die Frauen eines Bordells erheben sich gegen ihren Zuhälter und Ausbeuter. Aber danach führen sie nur sein System weiter. So schrecklich und ausweglos; eine große Negation, und das zu einer Zeit, 1983, da noch längst nicht alle Hoffnungen erloschen sind. Anton Tschechow war sein Bezugspunkt, dem er einen biographischen Essay-Film widmete und dessen »Der Weidenbaum« er 1984 verfilmte. Auch einer, dem sich die Endspiele so paradox ins Unendliche dehnen. Ein klein wenig erscheint dieser Film schon als Endpunkt für die Studien über den Alltag von einsamen Menschen.

In seinen letzten Filmen taucht Saless, in WECHSELBALG (1987) und ROSEN FÜR AFRIKA (1990), noch einmal in die Höllen auswegloser Beziehungen und Familien. Wie vieles davon mag seiner eigenen Erfahrung als Ver- und Getriebener und mit einer Kindheit in zerbrochener Familie und mit Eltern ohne Liebe entsprechen? Insbesondere die problematischen Mutterfiguren in seinen Filmen führen auf die Spuren einer schwierigen Biographie. Bei seinem letzten Film, da war wohl sein steter Kampf mit den Produktionsproblemen und vielleicht auch mit den eigenen Dämonen schon verloren. GRABBES LETZTER SOMMER (1980) ist das Endspiel eines gescheiterten Dichters, und Bert Schmidt sieht darin eine Vorahnung von Saless’ eigenem Schicksal.

Bert Schmidt hat ein sehr schönes, sehr intimes Buch über Saless veröffentlicht, keine kritische Monographie, kein »Leben und Werk«, sondern oft sehr persönliche Erinnerungen an gemeinsame Dreharbeiten, Episoden am Rande, Überlegungen und Reflexionen des Regisseurs und einiger seiner Begleiter. Es ist randvoll mit Bildern, neben Film-Stills Fotografien, die bei den Dreharbeiten oder auf Reisen, etwa zu Filmfesten, entstanden. Dieses Buch »liest« man am besten wie wenn man einen Film sieht, einen respekt- und liebevollen Film, der gleichwohl die dunkleren Seiten des Regisseurs nicht verschweigt, seine Despotie, seine »Monomanie«, die stetigen Streitigkeiten am Set und in der Post-Produktion. Schmidts Buch über Sohrab Shahid Saless ist auch ein Buch über das Filmemachen. Und wie es beim Filmemachen so ist, da gibt es Triviales, Persönliches, Zufälliges – erst hinterher erweist sich, was davon für den Film wirklich wichtig war.

Die meisten Filme von Saless entstanden in Zusammenarbeit mit dem deutschen Fernsehen, das in den siebziger und achtziger Jahren kaum vergleichbar war mit dem, was wir heute kennen. Dass Filme wie die seinen, die weiter entfernt von einem Feelgood-Movie oder einer Genre-Übung nicht gedacht werden können, überhaupt entstehen konnten, und dass sie sogar zu durchaus passablen Sendezeiten programmiert wurden, wirkt im Nachhinein wie ein kleines Wunder. Und doch waren, wie wir dem Buch entnehmen können, diese Produktionen auch Kämpfe. Nicht alle wurden gewonnen; HANS, EIN JUNGE AUS DEUTSCHLAND wurde nach Eingriffen der Produktion ohne Nennung des Regisseurs-Namen ausgestrahlt.

Was die iranische, die deutsche und schließlich die amerikanische Erfahrung miteinander verbindet, ist der einsame Mensch in einem Machtgefüge, gegen das niemand eine wirkliche Chance hat. »Wir alle leben mit einer Vorstellung von Utopia, aber diese Utopie erweist sich als die Hölle, beherrscht von Despoten. Wird ein Despot beseitigt, kommt schon der nächste (einer von uns!) Und übernimmt das Kommando« so Bert Schmidt zu UTOPIA, aber es ist wohl der Kern von Saless’ Sicht auf die Welt. Konsequenter hat wohl kaum einer das »Happy Ending« verweigert. In seinem Film EMPFÄNGER UNBEKANNT (1983) wird die Vernichtung der Juden in der Zeit des Nazi-Regimes ganz direkt mit der Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart zusammen geschnitten. Dazu gibt es die Geschichte einer Frau, die ihren deutschen Mann verlassen hat und mit einem arbeitslosen türkischen Architekten zusammen lebt und am Ende, statt in das bürgerliche Leben zurückzukehren Selbstmord begeht. Und in »Hans, ein Junge aus Deutschland« lässt er seinen Helden, einen jüdischen Jungen, die Nazi-Zeit überleben, aber danach erhält seine Mutter immer noch Droh- und Hassschreiben, und die sehen 1985 genau so aus wie sie 1950 womöglich ausgesehen haben und wie sie heute aussehen.

Sohrab Shahid Saless’ Deutschland-Filme aus den siebziger und achtziger Jahren sehen aus, als hätte vor einem halben Jahrhundert jemand einen Zukunftsblick in unsere Gegenwart getan.

Aber Deutschland sollte nicht das Ende seiner eigenen Reise sein. Sohrab Shahid Saless übersiedelte in die USA. Die Nachricht von seinem Tod erreichte uns 1998 aus der Ferne.

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Sohrab Shahid Saless am Strand von Santa Monica, Oktober 1979 © Bert Schmidt

Alf Mayer: Bert, der Schnittmeister

Dieser leicht skeptische Blick – den hatte Bert Schmidt auch. Das wird ihm gefallen haben, sich genau dieses eine lässige Foto von Sohrab Shahid Saless als Cover für sein Buch auszusuchen, an dem er so lange gearbeitet, das er so lange ersehnt hatte. Er selbst hat dieses Bild Ende damals Oktober 1979 am Strand von Santa Monica geschossen. Herbert Achternbusch hatte gesagt, »Gemma runter zum Oschn‘!« Also waren sie an den Strand gegangen, an den kalifornischen ‹Ozean›: Bert Schmidt und Sohrab Shahid Saless, Achternbusch und dessen Aufnahmeleiter Dietmar Schneider. Tags zuvor waren sie bei Francis Ford Coppola gewesen, fast eine Audienz, hatten dort auch Wim Wenders getroffen. Ein paar Tage später kam Werner Herzog dazu – humpelnd, von einer Recherche-Reise in Südamerika zu FITZCARRALDO.

Die kleine Gruppe war mit Unterstützung des Goethe-Instituts durch einige amerikanische Städte unterwegs – für eine Retrospektive von neuen deutschen Filmen, organisiert und vermittelt vom »Variety«-Filmkritiker Ron Holloway, der in Berlin lebte und ein großes Faible für »German Kino« hatte. So groß, dass er dafür auf eigene Kosten sogar eine Zeitschrift herausgab, die es in 25 Jahren auf über 80 Ausgaben brachte. Für Ron, dessen Freundschaft ich als Kritikerkollege genießen konnte, gehörte der Exil-Iraner Saless ganz selbstverständlich zum Neuen Deutschen Film, mehr noch: zu dessen wichtigsten Regisseuren.

Aber jemand wie Saless musste wohl erst gute 25 Jahre tot sein, ehe wir ihn nun endlich – und sogar mit zwei sich wunderbar komplementierenden Büchern – gewürdigt sehen. In der letzten CulturMag-Ausgabe habe ich die dreibändige monumentale Monographie von Behrang Samsami besprochen: »Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless. Annäherungen an ein Leben und Werk« (Exil-Verlag Frankfurt, 1500 Seiten, 99 Euro). So haben wir nun zwei Annäherungen an einen, der sich mit der ganzen Welt zerstritt.

Das Komplementärstück zu Samsamis Studie und auf seine Weise richtig einzigartig ist »Sohrab Shahid Saless. Film im Kopf« von Bert Schmidt. Es ist das Buch eines handwerklich rundum erfahrenen, anspruchsvollen Filmemachers über einen handwerklich erfahrenen, anspruchsvollen Filmemacher. Bert Schmidt war bei sechs Saless-Filmen dessen Regieassistent.

Mit eben diesem Titel war Bert offiziell schon bei der USA-Reise dabei. Und das, obwohl er noch keinen einzigen Film mit Saless gemacht hatte. Aber sie hatten sich bereits beim Handwerk kennengelernt, hatten so eng miteinander an einer Filmidee und dann an einem Drehbuch gearbeitet, dass man sich »gut von der Arbeit kannte« und eben wusste, was der andere tut und taugt, und dass man sich vertrauen und aufeinander einlassen kann und mag – Lust auf Zusammenarbeit hat.

Bert hatte auf der Berlinale zwei Filme von Saless gesehen, die ihn beeindruckten: IN DER FREMDE im Wettbewerb 1975 und TAGEBUCH EINES LIEBENDEN im Forum 1977. »Beide griffen Themen aus einer Alltagswelt auf, die in Filmen dieser Zeit kaum behandelt wurden. Auch war Saless’ Erzählweise ungewöhnlich: dieser langsame Rhythmus, diese sparsamen Dialoge ohne jede Geschwätzigkeit. Ich fand es verlockend, bei ihm mitzuarbeiten«, heißt es im Buch. Bert Schmidt, der in Paris die gleiche Filmschule besucht hatte wie Saless, das Conservatoire Indépendant du Cinema Français, besuchte ihn im Juli 1979 bei den Dreharbeiten zu DIE LANGEN FERIEN DER LOTTE H. EISNER, jener Grande Dame des Films, zu der Werner Herzog ‹barfuß im Eis› bis in die französische Hauptstadt gelaufen war.

Danach kam Saless nach Frankfurt. Berts Freund und späterer langjähriger Compagnon Dieter Reifarth in ihrer Filmmanufaktur strandfilm – sein Nachruf hier unten im Anschluss – organsierte dort als Programmleiter des Kommunalen Kinos eine Saless-Retrospektive. Natürlich ging man abends zusammen in die Kneipe. Dieter (ein großer Geschichtenerzähler bis heute) erzählte dabei von einem Mann, der jeden Sonntag früh in seinem Viertel durch seine Straße ging und laut: »Aufstehen!« schrie. Saless wollte aus dieser kleinen Geschichte ein Drehbuch entwickeln. Zunächst verfasste er zusammen mit Dieter und Bert eine Art Treatment. Auf Karteikarten. Jede Szene eine eigene Karte.

ORDNUNG, 1980

Das Kleine Fernsehspiel des ZDF zeigte Interesse. Also bezog Saless bei Bert in dessen Frankfurter Studio Quartier. »Tagsüber schrieb er und hörte dabei ununterbrochen Platten von Jan Gabarak, dem Melancholiker des Saxophons, den er in meiner Plattensammlung entdeckt hatte. Abends kamen Dieter Reifarth und ich hinzu und diskutierten über seinen Entwurf. Wir haben vor allem mit ihm an den Dialogen gefeilt… Wir waren die Ko-Autoren des Films. Es entstand das Drehbuch zu ORDNUNG unter dem Arbeitstitel AUFSTEHEN! Und es sollte noch im gleichen Jahr verfilmt werden.«

Das war alles kurz vor der USA-Reise und bevor Sohrab Shahid Saless so schön skeptisch in Berts Kamera schaut. Mehr als 190 der 226 Fotos und Abbildungen im Buch – durchaus großzügig gestaltet und in einem etwas übergroßen Quartformat – stammen von Bert Schmidt. Alleine das ist ein gewaltiger Schatz: Ein Handwerker, der einem Handwerker bei der Arbeit zuschaut und die ganze künstlerische Schönheit und Qual zu würdigen und uns zu verdeutlichen weiß.

Ein Buch, ganz ohne Glamour. Auch ganz ohne all die Locken, die das Filmfeuilleton noch auf jeder Glatze dreht. Hier geht es um die pure Filmarbeit und wie man sie macht und organisiert. Und wie es knirscht und manchmal kracht bei der Zusammenarbeit. Ein Buch über den künstlerischen Anspruch und all die Niederungen, die er kostet. Ein Blaumann-Buch. Ungeschminkt. Bodenständig. Ehrlich. Schonungslos, weil der Respekt ja da ist – von Filmmeister zu Filmmeister. Ein seltenes Buch. So etwas gibt es viel zu wenig.

Assistenz holt Bert Schmidt sich dabei von Jürgen Breest (ZDF-Redakteur), Friederike Brüheim (Hauptdarstellerin in WECHSELBALG), Christhart Burgmann (damals Kulturredakteur beim WDR-Fernsehspiel und für ANTON PAVOLOVIČ ČECHOV – EIN LEBEN zuständig), Sigi Gierich (Oberbeleuchter bei ORDNUNG), Claus Grütz (Produzent bei EMPFÄNGER UNBEKANNT), Claus Mayershofer (Rechtsanwalt), Claus-Jürgen Pfeiffer (Ausstatter bei UTOPIA), Dieter Reifarth, Wolf-Dietrich Peters-Vallerius (als Tonmeister bei UTOPIA dabei). Sie geben ihm Auskunft – und auch diese Interviews sind auf den Punkt. Elmore Leonard hätte an Berts knochentrockener Schreibe Spaß gehabt. Da ist kein Wort, kein Adjektiv zuviel. Schnörkel gibt es nicht. Die fallen vom Schneidetisch. Bert war ein begnadeter Schnittmeister. (Dazu bei Dieter Reifarth mehr.)

Saless und Schmidt beim Dreh von HANS, EIN JUNGE AUS DEUTSCHLAND, 1985

Eine einzige Textseite braucht Bert Schmidt, um die Arbeitsweise von Saless zu beschreiben, dessen »Kino im Kopf«. Gerafftes Zitat daraus: »Saless kam jeden Tag mit einem genauen visuellen Konzept an den Set. Auf dem für ihm vom Ausstatter ausgemessenen Grundriss hatte er für jede Einstellung die Positionen der Darsteller und die Standpunkte der Kamera eingezeichnet. Bildausschnitte, Schwenks, Kamerafahrten und sogar die jeweilige Brennweite der Optik waren angegeben, auch der Schnitt schon vorgedacht. Mastershots von den Szenen, wie in Hollywood weit verbreitet, drehte er nur selten. Das Licht wollte er immer natürlich, weich. »Es schneit Licht…«, war ein Lieblingsausdruck von ihm. Die Kamera war immer in Augenhöhe. Die Erzählperspektive die eines unbeteiligten Beobachters … und es gibt keine Jumpcuts. Er vermeidet konstruktivistische Montage, wie sie bei Eisenstein vorkommt. Eisenstein schnitt oft ohne die übliche raum-zeitliche Kontinuität, wie sie im Erzählkino von Hollywood Standard war. Trotzdem zitierte Sales Eisenstein gerne. Er verwendete den Namen ‹Eisenstein› oft als Synonym für Schnitt: »ich mache Eisenstein« sagte er.«

Mit 25 Screenshots der Anfangsszene von HANS, EIN JUNGE AUS DEUTSCHLAND verdeutlicht Bert, wie Saless den filmischen Raum etabliert, in dem sich seine Protagonisten bewegen. »Ganz wichtig die Totalen und Halbtotalen. Seltener Nahaufnahmen. Menschen bleiben auf Distanz, bzw. wir sehen, wie sie sich zueinander gruppieren.« Ein ZDF-Fernsehspiel-Redakteur meinte immer, die Totalen seien nicht fernsehgerecht, weil die Bilder zu tief seien. »Warte nur ab! Eines Tages werden große Bildschirme kommen«, antwortete ihm Bert. – Hier ein Wort auch zum Raum, den das Buch dem Text und den Bildern gibt: Die Gestaltung ist großartig und luftig, dabei sachlich und durchdacht. Die Gestaltung von Heidi Sorg und Christof Leiste verdient einen Extra-Credit. Bravo.

Und was das Buch nicht verschweigt und in vielen Situationen benennt: Sohrab Shahid Saless war kein einfacher Zeitgenosse. „Er hat dem Filmemachen alles untergeordnet, seine Beziehungen, seine Freundschaften. Er musste, sagte er mir einmal: »… dieses Surren des Filmmaterials durch die Kamera hören«. Er lebe förmlich auf, wenn er es nach langer Zeit wieder vernähme. Wie weit diese Anhängigkeit ging, schilderte er mir bei anderer Gelegenheit: »Wenn ich eine Szene drehen will und im Nachbarzimmer liegt mein Vater im Sterben, dann sage ich zu ihm: ‹Warte mit dem Sterben! Ich muss erst diese Einstellung abdrehen.›«

Jetzt hat auch Bert Schmidt seine letzte Einstellung gedreht. Seine Lebensgefährtin Lucie Herrmann konnte ihm in seinen letzten Tagen noch die Rezension von Georg Seeßlen vorlesen (hier oben). Es war die allererste Besprechung des Buchs – und sie hat ihn sehr gefreut und gerührt. Und ja, Bert, ich hab‘ jetzt auch eine Träne im Auge. Farewell! – Und Danke! für dieses schöne Buch.

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Dieter Reifarth: Bert, der Skeptiker – Ein Farewell

Das letzte Buch das Bert mir empfahl trägt den Titel „Der Anfang vom Ende“. Es wurde 1943 von Mark Aldanow geschrieben, war lange in Vergessenheit geraten und erschien vergangenes Jahr erstmals auf Deutsch (hier bei uns besprochen). Da wir beinahe zeitgleich unsere Tumordiagnosen erhielten fragte ich Bert, ob der Titel programmatisch zu verstehen sei. Er meinte: „Versteh’s wie Du willst, es ist einfach ein großartiges Buch“. – Wie recht er hatte!

Kürzlich las ich darin folgende Sätze: „Vor jedem Buch nahm er sich vor, vollkommen anders zu schreiben – so, wie noch nie geschrieben und noch niemand vor ihm geschrieben hatte. Daraus wurde nichts: Alles Neue war nur gut vergessenes Altes (…) Der Fortschritt in der Kunst lief auf ein leichtes Vorantreiben dessen hinaus, was andere geschaffen hatten.“ Bei diesen Sätzen dachte ich an Bert, den Skeptiker.

Anfang der Siebziger Jahre lernten wir uns kennen. Bert hatte bereits ein Filmstudium in Paris absolviert und gerade sein Soziologiestudium in Frankfurt begonnen. Wir kamen im damaligen Kommunalen Kino zusammen, um das Programm für eine „antimilitaristischen Filmwoche“ zu entwerfen. Er war seinerzeit im Verband der Kriegsdienstverweigerer aktiv, nachdem er selbst drei Monate Wehrdienst absolviert hatte, verweigerte und das verbliebene eineinviertel Jahr als Ersatzdienst in einer Sozialeinrichtung ableistete. Bert verfügte über eine profunde Kenntnis der Filmgeschichte, nicht zuletzt genährt durch die ständigen Besuche in der Cinémathèque Français während seines Studiums in Paris.

Es folgten die Jahre seiner Mitarbeit im Kommunalen Kino. Mitarbeit hieß, jeder musste alles machen und können – vom Kartenabreißen über das einwandfreie Filmvorführen im Überblendbetrieb bis zum Programmerstellen. Nebenbei haben wir uns, zusammen mit Jürgen Wiesner als Fotografen im damaligen Theater am Turm ausprobiert, mit Vollrad Kutscher kleine Filme gedreht und zusammen ein Atelier mit Fotolabor in einem Hinterhaus im Nordend betrieben. Dem lag die Idee gemeinsamen Arbeitens im Zeichen vollkommener Autarkie zugrunde.

Wir meinten, alle Produktionsmittel selbst erwirtschaften zu müssen und waren uns nicht zu schade im Nebenerwerb kilometerweise Stromleitungen zu verlegen und ganze Gebäude zu elektrifizieren. Natürlich ging unsere Idee nicht auf, denn im Zuge des Anschaffens der Produktionsmittel vergaßen wir geflissentlich, wozu wir sie eigentlich brauchten.

Bert arbeitete Mitte der Siebziger Jahre für Rosa von Praunheim an dem zweiteiligen Dokumentarfilm DER 24. STOCK. Danach schloss er sein Soziologie-Studium mit einer Diplomarbeit über Steven Spielbergs JAWS (Der weise Hai) ab, die wegen ihrer präzisen Analyse der über tausend Einstellungen des Films außerordentlich beeindruckte.

Bald darauf lernte er Sohrab Shahid Saless kennen, mit dem gemeinsam wir das Drehbuch zu dessen Film ORDNUNG schrieben. Sohrab bot ihm an, die Dreharbeiten als Regieassistent zu begleiten und Bert meinte, einmal werde er das wohl noch machen. Aus dem einen Mal wurde eine dauerhafte Verbindung die über fünf weitere Filme währte.

BÜCHER, 1987

1986 drehten wir unseren ersten gemeinsamen Kurzfilm über den Buchhändler Alfons Streibel der inmitten eines Ozeans Zehntausender Bücher auf kaum 20 Quadratmetern im Frankfurter Nordend residierte. Der Film war zügig abgedreht, wir waren erleichtert das keiner der gigantischen Büchertürme eingestürzt war und gingen in den Schnitt. Den hatten wir uns so vorgestellt, dass wir mit der Cutterin die Sequenzen besprechen, sie nach ihrem Gusto arbeiten lassen und Kaffee trinken gehen. Als wir dann sahen, was aus unserem Material geworden war, wurde uns bewusst, dass wir die Sache selbst in die Hand nehmen mussten.

Rasch wurde mir klar, dass Bert ein exzellenter Schnittmeister war, dessen Gespür für die Formbarkeit fragilen dokumentarischen Materials und dessen Sinn für filmische Musikalität einzigartig waren. Alles was ich über Filmschnitt weiß, habe ich von ihm bei der Arbeit an diesem Kurzfilm gelernt. Immerhin hat mich das befähigt, später Dutzende Filme zu schneiden. Der Film wurde 1987 veröffentlicht. Wir erhielten für BÜCHER den „Preis für Kommunikationskultur“. Auf den waren wir deshalb sehr stolz, weil er nur ein einziges Mal vergeben wurde.

Unser nächster Film VIVACE erzählte vom Auftakt eines Tages in der der U-Bahnstation Hauptwache und dem allmorgendlichen Auftritt des Geigers Helmut Scholz. ZEIL FRANKFURT beschrieb das Leben auf der damals umsatzstärksten Verkaufsmeile Europas, die wir ein Jahr lang beobachteten. Der Arbeitstitel des Films war CONGA BLUES und bezog sich auf Terry Keegan und dessen Antwort auf die dumpfe Betriebsamkeit des Konsums – muntere Performances von einzigartiger Vitalität und Rhythmik.

Darauf folgte DER KOFFER – LA VALISE Á LA MER. Der Kurzfilm widmete sich der Künstlerin Nicole Guiraud und einer Arbeit, in welcher sie, als Opfer eines Sprengstoffanschlages, ihrem Trauma nachspürte. Die filmische Herausforderung dieser Arbeit war: „Wie visualisiert man eine detailreiche Bodeninstallation die nicht vielmehr als einen Quadratmeter maß?“ Dank unseres Freundes und erfindungsreichen Kameramannes Kurt Weber, mit dem wir jetzt zum zweiten Mal zusammenarbeiten durften, kam ungewöhnliche Aufnahmetechnik wie Periskop und Endoskop zum Einsatz. Ein Abenteuer für uns alle, weil wir noch nie damit gearbeitet hatten, uns nicht recht vorstellen konnten, was die seltsamen Gerätschaften abbilden würden. Der Film wurde schließlich mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Großen Preis von Oberhausen und einem Bundesfilmpreis.

Inzwischen hatten wir an Marcel Ophüls‘ oskarprämiertem Dokumentarfilm HOTEL TERMINUS mitgearbeitet, waren Teilhaber an Kurt Otterbachers Firma strandfilm geworden und Bert widmete sich mit zwei Filmen dem Herzen, sowohl in metaphorischer wie in fleischlicher Hinsicht: In HERZBLATT lässt der New Yorker Zauberer Jeff Sheridan den Eisernen Steg verschwinden um seiner Angebeteten zu imponieren. In der Heiner Müller-Adaption HERZSTÜCK legt Er Ihr sein Herz zu Füßen, ohne den Fußboden zu beschmutzen. Neben den Filmen die sozusagen „von Herzen“ kamen machten wir auch etliche für die Kasse, darunter eine fünfundzwanzigteilige Serie zur ‚Geschichte der Luftfahrt‘ im Auftrag der Deutschen Lufthansa AG.

Für Vlado Kristl, hatten wir bereits TOD DES BEAMTEN und die Zeichenfilme DIE HÄLFTE DES REICHTUMS FÜR DIE HÄLFTE DER SCHÖNHEIT und ALS MAN NOCH AUS PERSÖNLICHEN GRÜNDEN GELEBT HAT produziert. Bei einem Besuch in seinem neuen Domizil im südfranzösischen Fanjeaux drehten wir gemeinsam den ausgesprochen munteren Kurzfilm DREI FAULE SCHWEINE.

Wir verstanden unser Metier eher ganzheitlich. Das hieß, wir machten nicht nur eigene Filme, sondern schnitten auch für Kolleginnen und Kollegen, betreuten Skripte, oder produzierten im Rahmen von strandfilm. Auf diesem Weg arbeitete Bert an etlichen Filmen, deren Erfolg gewiss nicht zuletzt seinem Engagement und Können zu verdanken war. Dieses besondere Können findet meiner Meinung nach in seinem Film DER TANZ DES SISYPHOS von 2003 den deutlichsten Ausdruck. Vergangenen August wollte Peter Nestler sich den Film abermals anschauen. Danach schrieb er uns: „Lieber Bert und lieber Dieter, habe mir den Film und das Bonusmaterial in einem durch angesehen. Große Klasse, ganz reich, bereichernd und fesselnd. Wenn ich beides nicht gesehen hätte, würde mir was fehlen.“

DER TANZ DES SISYPHOS, 2003

Meine Antwort: „… auch ich hab beides nochmals geschaut, lieber Peter. Du hast recht, ein exzellentes Werk, dem die Zeit nicht das geringste anhaben konnte. Im Gegenteil: Wir begegnen hier Menschen von wohltuender Bescheidenheit, immensem handwerklichem Können (Weltklasseartisten eben!) und einem inzwischen beinahe vollständig abhanden gekommenen Arbeitsethos. Berts Film beschreibt wie kein anderer das Abschiednehmen, erzählt mit großer Empathie von Montego‘s letztem Anlauf der nicht auf der Bühne, sondern in der Einsicht endet, dass seine Zeit um ist. Zugleich tröstet uns der Film in der Art, wie er auf das Leben seiner Protagonisten zurückblickt – reich an wahrer ‚Knochenarbeit‘, betörend in seiner Heiterkeit und den großen Glücksmomenten.“

Gewiss war DER TANZ DES SISYPHOS Berts persönlichster Film, vielleicht der Einzige, der ihm wirklich aus dem Herzen sprach.

Letztes Jahr dann abermals Gemeinsames, dieses Mal als Schicksalsgenossen, nachdem wir beide Tumordiagnosen erhielten. An seinem Geburtstag Ende Januar sprachen wir noch einmal lange miteinander. Bert war sehr lebhaft, sagte, er freue sich ungemein darüber dass sein Buch „Sohrab Shahid Saless – Film im Kopf“ nach jahrelanger Auseinandersetzung nun endlich erschienen sei.

Bis bald, alter Freund!
Möge die Erde Dir leicht sein.

Bert Schmidt mit Lucie Herrmann und Christof Lauer bei der Premiere von
TALKING TO YOU. CHRISTOF LAUER (SAX), 2023 im Frankfurter Filmmuseum

P.S. Es ist dann seine letzte Arbeit geworden, Kamera und Schnitt für den Film seiner Lebensgefährtin Lucie Herrmann: TALKING TO YOU. CHRISTOF LAUER (SAX), D 2023, 93 Min, während Corona und ohne jede Förderung entstanden. Beide haben sie ihre Herzenssachen immer ohne Kompromiss gemacht. Lucie Herrmann schließt mit diesem kristallklar schönen Musikfilm an ihren OH HORN! über den Posaunisten Albert Mangelsdorf von 1980, damals über einen Zeitraum von vier Jahren gedreht, geschliffen und poliert. Zwei Diamantfilme.

(Im Selbstverleih, Kontakt: talkingfilm(at)lucie-herrmann-film.de)

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