Geschrieben am 17. Oktober 2017 von für Bücher, Crimemag

True-Crime-Roman: Miron Zownir und Nico Anfuso: Pommerenke

415+OLHOzCL__SX303_BO1,204,203,200_Verrückt? Oder nicht?

Von Anne Kuhlmeyer

Es gab ihn wirklich. Heinrich Pommerenke terrorisierte die Menschen 1959 im Schwarzwald mit einer Verbrechensserie. Als man ihm 1960 den Prozess machte, hatte er sich, gerade zweiundzwanzigjährig, fünfundsechzig Delikte – vier Morde, zahlreiche Vergewaltigungen, Körperverletzungen, Raubüberfälle, Einbrüche – zu Schulden kommen lassen.

Die junge Journalistin Billie besucht ihn Jahrzehnte später in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal, um ein Buch über ihn zu schreiben. Vielleicht ist es die Faszination des Bösen, die sie antreibt, aber auf jeden Fall ist es ihre unsichere ökonomische Lage. Sie jobbt hier und da und erhofft sich durch das Buch finanziellen Erfolg, nicht zuletzt um von ihrem frisch Angetrauten, dem Filmemacher Branco, unabhängig zu sein.

Romantisch hätten sie sein sollen, die Flitterwochen in Bella Italia, aber es schüttet aus Eimern und Branco wird noch vor der Ankunft im Süden zu einem Dreh nach New York gerufen. Gedrückt kehrt Billie ins herbstgraue Berlin zurück, sie putzt den Loft, trödelt von Erinnerungen und Langeweile geplagt, findet nicht in ihr neues Leben. Als der Kater ausbüxt, entdeckt sie Ratten auf der Hintertreppe, die an ein Abrisshaus grenzt. Ein hübsches Bild für Gesellschaft, Familie, rattedas Selbst – vorne blank und hinten verrottet – wird da präsentiert. Billies Unruhe steigert sich, obwohl sie an ihrem Projekt arbeitet. Oder deshalb? Sie schläft nicht mehr, ist appetit- und interesselos. Nur wenn sie die Aufzeichnungen, Zeitungsartikel, Interviews durchsieht, vergeht die Zeit im Flug. Plötzlich ist Branco zurück, doch sie begegnet ihm gleichgültig. Während sie ihre Liebe behauptet, liest sie sich durch Pommerenkes Geständnis, durch Tage voller Gewalt und Verwahrlosung, durch Hass und Blut und Hunger. Heinrich nennt sie ihn, denn ohne die Nähe des Du hätte er nicht mit Billie gesprochen. Ein Gewandelter möchte er sein, einer der vor Gott bestehen kann. So jedenfalls erzählt sich der alte Mann seine Geschichte neu, die Schuld abspaltend, damit er leben kann. Das machen wir an sich alle so, nur ist es den meisten von uns (hoffentlich den meisten!) möglich, schlimme Erfahrungen und eigene Vergehen zu betrauern, zu bereuen, zu integrieren. Menschen mit Störungen der Ich-Struktur gelingt das nicht. Heinrich ist so einer. Gewalt und Vernachlässigung hat er erfahren, nirgendwo findet er Anschluss, verspinnt sich in ein Größenselbst, und scheitert. Ohne den Halt der Gemeinschaft, gehetzt von eigenen Bedürfnissen, die er sozialverträglich nicht befriedigen kann (also, weil er nicht KANN), projiziert er seinen Hass auf Frauen. Die geben ihm nicht, was ihm zusteht. Er nimmt es sich mit Gewalt, mitgefühlsfrei und impulsgesteuert. Das hat er gelernt. (Wir sehen jetzt mal vom genetischen Faktor ab.) Unbestritten bliebe ihm aber eine Wahl, ein alternativer Weg, den er nicht geht …

treppe1Billie vertieft sich in den Sog der Grausamkeiten, zieht sich von Freunden zurück, streitet mit Branco, der hilflos der Veränderung seiner Frau zusehen muss. Ganz großartig beschrieben ist, wie Billie allmählich in eine psychotische Episode driftet. Das Getriebensein durch die Manie, Energie und Glück, die ihr entspringen, Verwirrung von Zeit und Raum, der Verlust der Selbstreflexivität, die Brüche in der Kontinuität der Gedanken und ihres Ausdrucks, die notdürftige Neuverknüpfung, die zu Angst führt, aber in gewissem Maße das Ich sichert, bevor es vollständig ins Nichts diffundiert – das ist wirklich wunderbar gemacht. Ebenso plausibel wird Billies Beschäftigung mit der Geschichte Heinrichs zum auslösenden Ereignis für die Psychose (nicht zur Ursache, ist ja klar).

Die Leserin braucht am Anfang des Romans ein wenig Geduld, bis die Ereignisse Fahrt aufnehmen, bis Nico Anfuso das Leben des Heinrich Pommerenke re- und Miron Zownir, gegenläufig gewissermaßen, das von Billie dekonstruieren. Aber diese Geduld wird mit tiefen Einblicken in das Seelenleben zweier Menschen in Ausnahmesituationen belohnt. Ja, auch exzessive Gewalt eines schwer strukturgestörten Menschen ist eine Ausnahmesituation, nur ist ihr Auftreten nicht berechenbar. Insofern war es zum Schutz der anderen wichtig, dass Heinrich sein Leben in Unfreiheit verbrachte. Er starb 2008 an einer ganz normalen Krankheit. Die fiktive Billie wird von ihrem Branco eingefangen, zwar ebenso knallverrückt, wie sie war, aber mit der Hoffnung auf Besserung in der Gemeinschaft.

Anne Kuhlmeyer

Miron Zownir und Nico Anfuso: Pommerenke: Ein True-Crime-Roman. CulturBooks Verlag, Hamburg 2017. 408 Seiten, 23,- Euro.

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