Geschrieben am 31. Dezember 2020 von für Highlights, Highlights 2020

CulturMag Highlights 2020, Teil 14 (Schifferle – Y. Schmidt – Schorneck – Schweiger)

Hans Schifferle –
Christian Y. Schmidt –
Tommy Schmidt –
Frank Schorneck –
Wolfgang Schweiger –

Hans Schifferle: Gladly he lived, gladly he died

WOLF-ECKART BÜHLER (1945-2020)

Im März dieses Jahres, bevor er wieder in irgendein Eck der Welt verreiste, wollte mich Wolf-Eckart Bühler noch besuchen. Weil ich gesundheitlich schwer angeschlagen war, kam das Treffen nicht zustande. Eine große vertane Chance. Denn wie ich bald erfahren mußte, hatte Bühler seine letzte Reise angetreten. Für mich völlig unerwartet war er im Juni im Alter von 74 Jahren verstorben. Obwohl Bühler 2018 in Locarno für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden war, gab es in den deutschen Print- und Online-Medien nur sehr wenige Nachrufe auf den Kritiker, Reisenden und Filmemacher, der doch durch seine Texte und Filme, aber auch durch sein zurückgezogenes, manchmal geheimnisvoll anmutendes Leben einen großen unterschwelligen Einfluß auf die deutsche Filmkultur ausübte. Aber vielleicht auch hätte Bühler dieser Nicht-Beachtung etwas abgewinnen können. Hat er doch selbst gerne über Filmemacher geschrieben, die lange Zeit von der Filmgeschichtsschreibung vernachlässigt wurden: Irving Lerner, Leo Hurwitz oder Jacques Tourneur.

Vor allem in den 70er Jahren hat Bühler für die Zeitschrift Filmkritik geradezu wunderbare Hefte verfaßt, etwa über John Fords stock company oder Howard Hawks, über den Polizeifilm, den Piratenfilm (mit Felix Hofmann) oder Hank Worden. Eine ganz eigene Art des Schreibens über das Kino hat er geschaffen. Seine Texte sind akademisch und literarisch, analytisch und mysteriös, kenntnisreich und stilisiert, manchmal aggressiv und arrogant, fast immer zärtlich. Kritik verstanden als Kunst des Lebens. Seine oft kunstvoll verdrehten Sätze machen den Leser schwindelig und verunsichern ihn in seinem Denken. Der Bühler-Stil hat Autoren wie Norbert Grob, Norbert Jochum oder Fritz Göttler stark inspiriert. Bühler gehörte einer jungen Generation von Autoren der Filmkritik an, die allmählich vom Einfluß der Frankfurter Schule abrückten hin zu einem wilden und coolen linken Denken. In seiner schönen Schwabinger Wohnung stand in den Bücherregalen marxistische Literatur neben Biographien von John Wayne. An der Wand hing ein riesiges Standbild aus John Fords THE SEARCHERS. Das amerikanische Kino der Roosevelt-Ära, die auch John Ford geprägt hatte, hat Bühler interessiert. Und er war fasziniert von den Arbeitern und „Proletariern“ unter den Hollywoodleuten, von John Fords stock company und besonders von dem Nebendarsteller Hank Worden, der als Mose Harper in THE SEARCHERS ein greisenhaftes heiliges Kind spielt und dabei vielleicht sogar die Essenz des Kinos verkörpert. Bühler hat Worden nach München eingeladen und in Amerika besucht. Filmgeschichte als Freundschaftsgeschichte. Ein unglaublich schönes Bild der Vorstellung: Wie Bühler in den 70ern mit seinem VW-Käfer den baumlangen Worden und seine Frau am Flughafen München-Riem abholt und durch München kutschiert. Hollywood-Mythos und BRD-Realität ganz nebenbei miteinander verquickt!

Das Kino ins Leben geholt hat Bühler auch bei Howard Hawks. Die Hawksschen Männerfamilien, die schlußendlich vervollständigt und kritisiert werden durch eine oder mehrere Frauen, hat er durchaus als Skizzen für sozialistische Lebens- und Arbeitsgemeinschaften gesehen.

Besonderen Raum in Bühlers Schreiben und Denken nahm dann die Hexenjagd der McCarthy-Zeit ein, die Ära der Schwarzen Listen, der Kommunistenjagd, des Verrats, der Verunsicherung. Freilich hat Bühler diese Zeit in den USA genau historisch situiert. Aber sie wurde für ihn auch zu einer beispielhaften Zeit, beinahe zu so etwas wie eine condition humaine der Moderne. Das Leben und Wirken des Schauspielers, Romanciers, Seefahrers und Abenteurers Sterling Hayden, der in der McCarthy-Ära eine zwielichtige Rolle spielte und darunter sein ganzes folgendes Leben litt, hat Bühler nicht mehr losgelassen.

Beinahe organisch ist aus Bühlers filmkritischem Schreiben seine Filmarbeit erwachsen. Filmhistorische TV-Features führten zur Kino-Doku LEUCHTTURM DES CHAOS, die er 1983 zusammen mit Manfred Blank realisierte. Aus diesem Dokumentarfilm entwickelte sich der Spielfilm DER HAVARIST, ein grandioses, aktualisiertes Biopic über Hayden, das Martin Moszkowicz 1984 produziert hat. Bühler läßt Hayden von mehreren Schauspielern porträtieren: von Burkhard Driest, Hannes Wader und Rüdiger Vogler. Eine Persönlichkeit, dargestellt als Patchwork, eine Identität als Mosaik. Diesen genialen Kunstgriff hat später Todd Haynes für seinen Bob-Dylan-Film wiederverwendet. Bühlers schönster Film für mich ist AMERASIA (1985), ein aufregender Mix aus dokumentarischen und fiktiven Elementen. Ein schwarzer Amerikaner, der in Vietnam gekämpft hat, kehrt nach Südostasien zurück, um seine Vergangenheit und Zukunft wiederzufinden. Er begegnet dort unzähligen Kindern, die von amerikanischen GIs abstammen. Über diesen verwegenen und lyrischen Film, in dem Bühler den Vietnamkrieg als Kulmination aller amerikanischer Kriege (auch der Indianerkriege) sieht, habe ich mal in einem Filmtip in der Süddeutschen Zeitung geschrieben, er sei Bühlers persönliche Version von Fords THE SEARCHERS. Bühler meinte zu meiner Bemerkung, sie sei wohl falsch, aber sie habe ihm gefallen.

In den 90er Jahren hat Bühler immer mehr sein Schreiben über das Kino und auch seine Filmarbeit eingeschränkt, um schließlich fast gänzlich damit aufzuhören. Filmkritiken schreiben, hat er mir einmal gesagt, das macht auf Dauer krank. Daß er nicht mehr über das Kino schrieb und kein Kino mehr machte, das war natürlich auch ein Statement der Rebellion und Konsequenz, den Tod der Cinephilie frühzeitig widerspiegelnd. Seine Reisen, seine Abenteuer hat er fortgesetzt, mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Hella Kothmann hat er in den 90ern zwei unglaublich detailgenaue Reiseführer über Vietnam und die Toskana verfaßt. Die Laufbahn Bühlers führte vom Kritiker zum Filmemacher zum Abenteurer, zum Wanderer, dessen Leben schließlich zwischen Legende und Wahrheit pendelte. Es hieß, er besitze ein berüchtigtes Café in Saigon mit dem Namen „Apocalypse Now“.

Ich bin Bühler zum erstenmal bei einer Retro zu Joseph H. Lewis im Münchner Filmmuseum begegnet. Und immer wenn ich ihn wiedersah, wobei oft Jahre dazwischen lagen, hatte ich das Gefühl, einen alten Freund wiederzutreffen, mit dem mich ein bestimmtes Außenseitertum verband. Seine lässige Art war genuin, gerade weil sie auf Ambivalenz und Zerrissenheit baute. „Gladly he lived, gladly he died“, stand in seiner Todesanzeige. Ein schöner Spruch von Stevenson, der mir jetzt Kraft gibt, wo ich mich mit dem Tod befassen muß. Ich würde mich freuen, das Treffen vom März dieses Jahres nachzuholen und den Desperado Eckart wiederzusehen in jenem fernen Land jenseits der Leinwand.

Der Cineast Hans Schifferle lebt in München, ist Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher über Geschichte und Gegenwart des Genre- und Undergroundfilms, vom Italo-Western bis zum Schmalfilmporno. Sein Nachruf auf WEB erschien zuerst im aktuellen Heft, dem Rahmen 35, von SigiGötz-Entertainment, wo er Hausautor ist. Wir danken Verlag und Autor und empfehlen ein Abonnement, für 14 Euro ist man für ein Jahr und drei Lieferungen dabei. WEB mit seinem berühmten Aufsatz „Tod und Mathematik“ bei Culturmag hier, seine Farewell für Sterling Hayden hier und Alf Mayer über seine Filme hier.

Tommy Schmidt: Mary 
unschuldig verloren

Mary lag hochschwanger im Laderaum eines Paketlieferwagens. Es war kurz vor Weihnachten, im Laderaum stapelten sich Geschenke und der Fahrer hatte es verdammt eilig. Immerhin, er hatte Mary mitgenommen und setzte Mary, die glaubte, es ginge bald los, vor einer Klinik im Stadtgebiet Münchens ab, mehr konnte er nicht für sie tun. Es war schon dunkel und er musste unbedingt heute noch die Pakete ausliefern. 

Mary war unschuldig. Ihre erste und einzige intime Erfahrung war Gewalt, Schmerz und Ohnmacht. Und als sie Joe textete, sie bekäme ein Kind von ihm, antwortete er nicht mehr. Wo sollte sie jetzt noch hin? Zu ihrer Cousine nach München. Wo sonst? 

Allerdings wurde ihr an der Raststätte Ingolstadt das Smartphone gestohlen und außer einem sehr dicken Bauch und ein bisschen Geld hatte sie nichts mehr, wirklich gar nichts, auch nicht die Kontaktdaten ihrer Cousine.

Der Wachdienst der Klinik wies sie ab: Alles voll Corona, keine Chance. Also schleppte sie sich zu einem Hotel in der Nähe. Aber auch da: Corona. Beim überüberübernächsten Hotel traf Mary auf einen Wachmann, der sie in die Tiefgarage ließ: Dort stünden ein paar ausrangierte Betten, dort könnte sie sich niederlassen. Da lag sie nun, in einer Kellerhalle auf einem alten Doppelbett unter dem Star Inn Milbertshofen. 

Zur gleichen Zeit hatte Swetlana eine Eingebung. Sie rauchte gerade eine Zigarette auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt, wo sie den ganzen Tag im Akkord Regale einräumt hatte. Die Hebamme aus Serbien hatte schon lange keine Geburtshilfe mehr geleistet, denn in Serbien konnte sie nicht bleiben und in Deutschland war ihr Examen nicht anerkannt worden. Nun aber, als sie von Weitem den leuchtenden Stern vom Star Inn Milbertshofen sah, folgte sie ohne darüber nachzudenken der Stimme eines Engels, der zu ihr sprach: „Dort bekommt eine junge Frau ihr erstes Kind. Sie ist allein. Hilf ihr!“ 

Swetlana ist schnell bei Mary und es ist auch höchste Zeit, denn die Abstände zwischen den Wehen werden schon kürzer. 

Doch kaum hat sich Swetlana zu Mary aufs Bett gesetzt, fahren drei Sportwagen laut donnernd in die Tiefgarage. Drei junge Fahrer steigen aus, um sich zu beschimpfen, jeder gegen jeden, sie greifen einander an, Fäuste fliegen, Tritte werden ausgeteilt, es wird geschlagen und gewürgt. 

Swetlana stellt sich mitten zwischen Christian, David und Mustafa und brüllt:
„Sofort aufhören. Hier kriegt eine Frau ein Kind und ihr werdet mir jetzt bei der Geburt helfen! Du holst jetzt warmes Wasser und Handtücher. Du hilfst mir, die Gebärende zu massieren. Und du hilfst ihr beim Atmen und Pressen. Los geht’s!“

Swetlana trifft bei Christian, David und Mustafa den gleichen Nerv: Ohne einen Moment des geringsten Zweifels tun sie, was Swetlana sagt: Christian holt warmes Wasser und Handtücher, David hilft, Mary zu massieren und Mustafa hilft ihr beim Atmen und Pressen. Gemeinsam und mit vereinten Kräften schaffen sie es: Jesse wird gesund geboren. 

David macht ein Selfie. Und das Selfie zeigt eine Überraschung: alle sechs – Mary, Jesse, Swetlana, Christian, David und Mustafa – tragen golden leuchtende Heiligenscheine.

Tommy Schmidt (60) ist Autor, Performance- , Medien -, und Aktionskünstler und arbeitet als Motivationstrainer für eine bedeutende Kommunikationsagentur. Sein erster Roman „Heaven’s Gate“ erschien 2017 im CulturBooks Verlag. Tommy Schmidt hat zwei Söhne und lebt in München. Seine Texte bei uns hier, hier und hier.

Frank Schorneck

Ein Jahresrückblick auf 2020? Sollte doch eigentlich ein Leichtes  sein, in einem Jahr sozialer Distanzierung, Homeoffice und gefestigter Liebe zur heimischen Couch eine Liste persönlicher literarischer, musikalischer oder filmischer Highlights aufzulisten. Irgendwie ist aber das Gegenteil der Fall, wenige Stunden vor Redaktionsschluss kann ich mich immer noch nicht entscheiden, welche Bücher in diesem denkwürdigen Jahr eine besondere Bedeutung für mich hatten. Und das liegt keinesfalls daran, dass es nicht genügend interessante Neuerscheinungen gegeben hätte. Da wäre zum Beispiel Karosh Taha zu nennen, die mit Im Bauch der Königin einen eindrucksvollen zweiten Roman aus dem interkulturellen Schmelztiegel Ruhrgebiet heraus mit spannenden Frauenfiguren vorgelegt hat. Auf ganz andere Art, weniger direkt als vielmehr poetisch, nähert sich Iris Wolff in Die Unschärfe der Welt einer Familiengeschichte aus dem Banat. Stilistisch mögen beide Romane weit auseinanderliegen, die Suche nach Identität und Wurzeln und gleichzeitig das Loslösen von denselben ist beiden immanent.

Ein Roman, den ich vielleicht besonders hervorheben möchte, ist eine Taschenbuchneuveröffentlichung: Sebastian Barrys Ein langer langer Weg wird auf dem Klappentext als irische Antwort auf Im Westen nichts Neues bezeichnet. In der Tat ist auch Barrys Roman ein eindrucksvoller und schockierender Antikriegsroman, der die Greuel des ersten Weltkriegs aus der Sicht von Fußvolk und Kanonenfutter schildert. Hinzu kommt hier die spezielle irische Komponente, dass man als junger Ire in der Armee des Englischen Königs neben den Schlachtfeldern und Schützengräben in Belgien noch ganz andere Kämpfe als die gegen die „Hunnen“ auszufechten hat. Als der Heimaturlaub in Dublin ausgerechnet in die Zeit der blutigen Niederschlagung des Osteraufstandes fällt, gerät die Welt des jungen Willie Dunne komplett aus den Fugen.

Zwei schon etwas ältere Romane habe ich in diesem Jahr erst für mich entdeckt, als ich sie gemeinsam mit meiner Tochter gelesen habe. Zwei wunderbare Coming-of-Age-Stories, eine aus männlicher, eine aus weiblicher Sicht. Da ist zum einen Matthias Brandts Blackbird, zum anderen Kirsten Fuchs‘ Mädchenmeute. Beide auf ganz eigene Art voller Humor und Gefühl – mit jeweils ganz eigenem und überzeugendem Tonfall.

Aber alle Bücher der Welt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Jahr die Live-Musik besonders fehlte. Es ist purer Zufall, dass Anfang und Ende meines Konzertjahres durch „Lilly among Clouds“ in Essen markiert wurden. Als die Lieblingssängerin meiner Tochter im Januar mit ihrer Band in der Weststadthalle auftrat, war Corona noch eine Randnotiz in den europäischen Nachrichten, im Herbst in der Zeche Carl war es ein sehr intimes, coronagerechtes Konzert in Duo-Besetzung. Ansonsten spielte sich vieles in diesem Jahr in Streams ab. Besonders familiär ging es bei Matze Rossi auf dem Dachboden zu, oder auch zu Glen Hansards fünfzigstem Geburtstag in seinem Cottage. Letzterer hat aber auch eine sehr professionelle Aufnahme im Rahmen der „Other Voices“ Reihe in der National Library Dublin machen dürfen. Hansards Songs im Ambiente einer Bibliothek – was will man mehr? 

Im Singer-Songwriter-Bereich wird es sicherlich wieder Konzepte für Livegenuss geben, sobald die Temperaturen klettern. Bis ansonsten Live-(Rock-)Musik wieder den Geruch von Bierduschen und Schweiß statt Desinfektionsmittel atmet, bis Circle-Pit und schiefe Chorgesänge wieder Abstand und Maske ersetzen, wird es noch Monate dauern. Für die Zeit liefern die Ibbenbürener Donots mit „Birthday Slams live“ ein fantastisches Doppelalbum, das bestens die gute Laune konserviert, die auf einem Donots-Konzert herrscht – bei den Musikern ebenso wie beim Publikum. 21 Songs mit zahlreichen musikalischen Gästen dokumentieren die Gigs, die Ende 2019 zum 25 jährigen Bandjubiläum stattgefunden haben.

60 Jahre alt wiederum wurde in diesem Jahr das Kunstmuseum Bochum. Mit der Eröffnung einer Dauerpräsentation der eigenen Sammlung in den frisch renovierten Räumen der Villa Marckhoff sollte diese im April eröffnet werden. Weil ich vor über zehn Jahren miterlebt habe, wie zunächst nur die Fassade des Gebäudes im Mittelpunkt stand und nach und nach die Pläne wuchsen, fand ich besonders spannend, wie aus den ehemaligen Büroräumen eine prachtvolle Kunst-Villa wurde. (Sammlung – Kunstmuseum Bochum) Hoffentlich wird bald wieder Gelegenheit sein, dieses und andere Museen zu besuchen. Es sind nicht die Blockbuster-Ausstellungen mit internationalem medialem Hype und langen Warteschlangen, die ich vermisse, sondern die Ausstellungen, in denen man sich Ruhe und Zeit nehmen – und wo das Abstandhalten von ganz allein funktioniert.

Frank Schorneck ist Rezensent und Literaturveranstalter (u.a. „Macondo – Die Lust am Lesen“) sowie Vorleser. Mit seinen Kollegen von der www.whiskylesung.de widmet er sich dem Wechselspiel von Alkohol und Literatur. Seine Texte bei CulturMag.

Christian Y. Schmidt: Epochenwechsel

Meinen letzten Jahresrückblick hier hatte ich mit „Das Jenseitsjahr“ überschrieben, weil in ihm der Tod eine große Rolle spielte. Er endete allerdings optimistisch, nämlich so: 

„Das nächste Jahr wird bei uns in China das der Ratte sein. Das  steht dann wieder ganz im Zeichen des Diesseits, da es ja bekanntlich im Jenseits keine Ratten gibt.“ 

Wie wir inzwischen wissen, hatte ich leider nicht recht. Auch 2020 stand ganz im Zeichen des großen Thanatos; im Jenseits wimmelt es offenbar doch vor Ratten. In dem Moment, in dem ich dieses hier schreibe, sind weltweit über 1,6 Millionen Menschen an Covid_19 gestorben und ein Ende ist nicht abzusehen. 

Ich war und bin von der Pandemie wahrscheinlich noch etwas mehr betroffen als die meisten anderen Deutschen. Ich habe bereits im Januar den ersten (recht sanften) Lockdown in Peking selbst mit erlebt und darüber berichtet. Als ich dann am 12. Februar nach Deutschland flog, um hier mein neues Buch zu promoten, rechnete ich fest damit, am 1. April wieder nach China zurückfliegen zu können. Das war jedoch ein Irrtum. Ich stecke auch zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes immer noch in Deutschland fest. Nach Peking zurückzukehren, ist für mich im Moment so teuer, dass ich es nicht bezahlen kann. Das heisst: Seit siebzehn Jahren habe ich mich nicht mehr so lange in Deutschland aufgehalten, und ebenso lange war ich nicht mehr von meiner Frau  getrennt. Das ist natürlich bitter. Geradezu zwangsläufig habe ich mich deshalb den größten Teil des Jahres mit dem Corona-Thema beschäftigt. So ist schließlich aus meinen Corona-Postings auf Facebook ein kleines Buch entstanden, das zwar Corona Updates Beijing heißt, aber auch einen langen Text zur Pandemie in Deutschland enthält. Selbst wenn das Buch eher ein Büchlein ist und in einer klitzekleinen Auflage erschien – so ungeplant ist noch nie ein Buch von mir auf den Markt gekommen. 

Auch sonst bot dieses ungewöhnliche Jahr einige Überraschungen. Es hat, davon ist nicht nur der slowenische Philosoph Slavoij Zizek überzeugt, einen Epochenwechsel eingeläutet. Mehr dazu zum Schluss. Zunächst einmal zu den kleinen, privaten Veränderungen, die dieses Jahr in Deutschland für mich mit sich brachte. Eigentlich boten sich ja die verschiedenen Formen der Lockdowns und des Social Distancings – wir haben in diesem Jahr auch viele neue Vokabeln gelernt – dazu an, besonders viel zu lesen. Ich hatte dazu besonders viel Gelegenheit,  da sich auch meine Berliner Bibliothek in diesem Jahr ungeplant um etwa 150 Bücher vergrößert hat. Keines davon hatte ich gekauft. Es handelt sich vielmehr um Bände, die auf der Straße in Kartons mit der Aufschrift „Zu verschenken“ auf den Bürgersteigen standen, offenbar während der Lockdowns aussortiert. Alles Mögliche war darunter: Diverse interessante Sachbuchtitel, antiquarische Bücher wie eine schöne gebundene Ausgabe von Poes Phantastischen Erzählungen bis hin ziemlich zu aktuellen Kehlmann-Kuttner-Meyerhoff-Bestsellern. 

Bei jedem mitgenommenen Buch nahm ich mir vor, es sofort wegzulesen. Am Ende schaffte ich dann doch nur wenige. Später fiel mir auf, dass es sich dabei hauptsächlich um Genres handelte, die ich bereits in meiner Jugend gelesen und zwischenzeitlich ignoriert hatte: Science Fiction und Phantastisches. So verschlang ich die durchgeknallte Valis-Trilogie von Philip K. Dick und Die dritte Zivilisation der Gebrüder Strugatzki, ebenfalls Helden meiner Adoleszenz. Aus ihrem utopischen Roman würde ich gerne einen Witz zitieren, der mit gut gefallen hat und mit den Worten beginnt: „Kommt ein Mann von der Erde auf einen anderen bewohnten Planeten…“ Doch da der Witz zu lang ist, müssen sie das schon selbst erledigen.

Während des ersten Lockdowns las ich auch mein zweites Stephen King-Buch überhaupt: The Shining.  Rund vierzig Jahre nach dem ersten (Carrie) begriff ich, was dieser Mann so alles kann. Allein wie er nahezu unmerklich die Erzählperspektive wechselt, hat mich umgehauen, und manchen Absatz habe ich gleich zwei Mal gelesen, um dahinter zu kommen, wie der Meister das macht. Auch den King hatte ich auf der Straße gefunden, genauso wie einen Sammelband mit Robert-Crumb-Comics. Wer beschreibt meine Begeisterung, als ich entdeckte, dass das Buch die Geschichte „Die Erleuchtung des Philip K. Dick“ enthielt, die zuvor gelesene Valis-Trilogie in a nutshell? Ich nicht, denn dafür reicht der Platz hier nicht, bzw. culturmag.de müsste anbauen. 

Obwohl also mein Büchertisch in diesem verflixten Jahr so reich gedeckt war, sah ich doch mehr Filme und Serien. Zu Anfang der Pandemie in Peking Seuchenfilme wie Contagion von Steven Soderbergh oder Outbreak, um die Realität mit der Fiktion vergleichen zu können. In Deutschland kapitulierte ich nach etwa vier Monaten Pandemie und holte mir ein Netflix-Abo, so wie das wohl viele Deutsche in diesem Jahr getan haben. Warum? Natürlich wegen der Serien. Die sind ja durchaus mehr als reine Unterhaltung. Das Serienpersonal wird schnell zu einer zweiten Familie, die einem die fehlenden realen sozialen Kontakte ersetzt. Ausserdem stellt sich gerade beim Serien-Binge-Watching sehr bald ein angenehmer Betäubungszustand ein, der einen zumindest in den Stunden vor dem Glotzophon (alberner Jargon aus den Siebzigern) die nicht endenwollende Realität der Pandemie vergessen lässt. Eine weitere Folge der Narkose: Menschen, mit denen man nur zwei Wochen später über eine Serie spricht, können ihren Inhalt kaum wiedergeben.

Deshalb hier auch nur ein paar Stichworte zu meinen Lieblingsserien 2020: Platz 1: The Queens Gambit, super, toll, fabelhaft. Ab der ersten Folge war ich in Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy verliebt. Bewundernswert, wie das Drehbuch die meisten Klischeeklippen elegant umschifft hat. Geschenkt, dass noch ein paar Klischees übrig geblieben sind. Kaum etwas wird populär, das nicht wenigstens ein paar Erwartungen bedient. Auf Platz zwei meiner Seriencharts: Dark, die erste in Deutschland entwickelte, gefilmte und produzierte Netflix-Serie.  Großes Staunen darüber, dass man es hierzulande geschafft hat, ein Mysterieformat weitgehend überzeugend und unpeinlich zu verfilmen. Mit Schauspielern, die ihre Texte nicht hölzern aufsagen. Geht doch, geht doch, dachte ich beim Betrachten immer wieder. 

Platz 3: To the Lake, eigentlich nur eingeschaltet, weil es in der Serie, die im russischen Original Эпидемия / Epidemie heisst, um den Ausbruch einer Seuche geht. Gestutzt, weil die Serie bereits am 14. November 2019 anlief, also kurz vor Bekanntwerden des Covid_19-Ausbruchs in Wuhan. Hängengeblieben, nicht unbedingt wegen des nicht sonderlich originellen  Drehbuchs: Zwei Familien, die vor einer unheimlichen Seuche aus dem Speckgürtel Moskaus nach Karelien fliehen, acht Folgen lang. Sondern wegen den endlosen Dronenflügen über russische Winterlandschaften, verschneite Straßen und wegen der schönen Bilder von heruntergerockten Industrieanlagen. Da fühlt sich gleich die eigene Pandemie zuhause etwas kuscheliger an, zumindest vor dem Fernseher. Schließlich Platz 4: Die brasilianische Netflix-Produktion von 2016 3%, zumindest die erste Staffel. Eine spannende Dystopie, die ab und zu leicht an Hunger Games erinnert, in jeder Folge überraschend; eine große Allegorie auf die Konflikte speziell von Dritte-Welt-Gesellschaften. Leider gilt das Gesagte nur für die erste Staffel. Schon in der zweiten gerät die Serie immer mehr zur wüsten Kolportage, und vor der dritten schrecke ich noch zurück.

Auch meinen Film des Jahres habe ich auf Netflix gekuckt: Mank von David Fincher. Die Gründe für meine Entscheidung, zur Abwechslung alphabetisch geordnet: a) Gary Oldman in der Titelrolle als Herman J. Mankiewiscz; mein Gott, spielt er den Alki liebenswert. b) Die unglaubliche Dynamik des Films, obwohl eigentlich nicht viel passiert; wie hat Fincher das angestellt? (Notiz an mich selbst: Noch einmal ankieken!). c) Die Tatsache, dass ausnahmsweise mal ein Drehbuch-Autor in einem Bio-Pic gewürdigt wird. Ausserdem d): David Fincher, David Fincher, David Fincher sowie sein Vater Jack, der leider nicht mehr die Verfilmung seines Drehbuchs erleben durfte. Nicht zu fassen, dass es diesen Film über die wahrscheinlich größte Zeit des Kinos ohne Netflix nicht geben würde. Fincher wollte ihn über zwanzig Jahre lang realisieren, doch erst Netflix gab ihm das Geld. Die Zeit, in der wir wichtige Filme zuerst im Kino sahen, geht offenbar rasant zu Ende. 

Kommen wir zu den Toten des Jahres. In diesem todessattem Jahr gab es für mich eigentlich nur einen, der herausragt: Der Tod meines Vorbildes und Freundes Jörg Schröder. Er starb am 13. Juni 2020 in Berlin in dem Krankenhaus, in dem er am 24. Oktober 1938 geboren wurde; auch das muss man erst mal schaffen. Als ich vor ein paar Jahren Mitglied der von Jörg Schröder und Barbara Kalender initiierten MÄRZ-Gesellschaft wurde, war das für mich eine große Sache. Tausendsassa Jörg Schröder wurde von meiner Bielefelder Jugendclique wegen seines autobiographischen Siegfried-Buchs sehr verehrt; für uns stand er in einer Reihe mit Idolen wie Jim Morrison, Charles Bukowski oder Lou Reed. Dass ich dereinst eine Rede bei der Trauerfeier für den großen Mann halten würde, hätte ich mir damals nicht träumen lassen. Erst recht nicht, was da am 10. Juli im Krematorium Berlin-Baumschulenweg passierte. 

Es donnerte und blitzte bereits draußen, als ich mit meinem recht kurzen Vortrag begann. Bald war ich an dem Punkt, an dem ich sagte: „Ich wette, Jörg hätte mich schon öfter hier unterbrochen, wenn er nicht blöderweise in diesem Sarg da neben mir liegen würde“. Da ging ein gewaltiger Windstoß durch die Trauerhalle. Sekunden später schoß ein zusammengefalteter Karton, der zehn Meter von mir entfernt an der Wand gelehnt hatte, geräuschvoll durch den Raum, und stoppte direkt vor dem Rednerpult, an dem ich stand. Okay, jemand vom Krematoriumspersonal hatte kurz zuvor die Flügeltür zur Halle geöffnet, was den Windstoß auf natürliche Weise erklären könnte. Ich jedoch und viele, die bei der Abschiedszeremonie dabei waren, sind davon überzeugt, dass es Jörg Schröder selbst war, der hier ein letztes Mal zu uns gesprochen hat.  Oder sollte er wirklich nur mich gemeint haben? Wollte er mir vielleicht sagen: „Du Fitti, jetzt komm langsam mal wirklich zum Schluß“?

Gut, ich will auch hier auf Jörg Schröder hören, mache es kurz und lasse den geplanten langen Abschnitt über Musik weg. Allein das Album „A Steady Drip, Drip, Drip“ der amerikanischen Band „Sparks“ soll kurz als Platte des Jahres erwähnt werden. Es ist wirklich kaum zu glauben, dass die Brüder Ron und Russel Mael –  sie sind „Sparks“ –  schon seit 1967 brillante Popmusik machen und inzwischen 75 bzw. 72 Jahre alt sind. War man da früher nicht schon längst tot? Und heute? Die neue Sparks-Platte klingt frischer als die Musik vieler vernölter Zwanzigjähriger,  strotzt vor musikalischen Einfällen und lustig-verspielten Texten. Eine Jahrhundertband, die trotz einiger Hits in den Siebzigern eigentlich nie richtig gewürdigt worden ist; ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. Auf jeden Fall beweisen die Mael-Brüder, dass Altern nicht zwangsläufig zu Verblödung und Verflachung führen muss. Auch sie große Vorbilder für mich.

Von Kunst verstehe ich so viel wie die Kuh vom Sonntag. Oder sagen wir mal, gerade so viel, dass ich sagen kann: Das Ereignis des Jahres in diesem Kultur-Segment war die „Direkte Auktion“ zu Berlin, initiiert und betreut vom großen Luftikus Holm Friebe sowie der Künstlerin Bettina Semmer. Veranstaltet wurde sie von einigen Berliner Gallerien und dem renommierten Auktionshaus Jeschke van Vliet. Etwa 400 Kunstwerke von Klassikern der Moderne bis hin zu Werken zeitgenössischer Künstler wurden in einem vereinfachten Verfahren über drei Tage hinweg versteigert, und zwar um durch die Pandemie in eine Notlage geratenen Berlinern Künstlern zu helfen. Galeristen, Kuratoren und andere Fachleute stellten dabei die zur Auktion stehenden Objekte online vor und brachten so Menschen, die sich normalerweise nicht bei Kunstauktionen blicken lassen, die Kunst näher. Auch mir sind bei der Auktion ein paar Dinge klar geworden, die ich zuvor allenfalls geahnt hatte: In der modernen Kunst ist oft das Kunstwerk selbst weniger wichtig, als die Geschichte, die zu ihm erzählt wird. Der beste Geschichtenerzähler bei der Auktion war ohne Zweifel Initiator Friebe selbst, der es u.a. fertigbrachte, eine leergerauchte Philipp-Morris-Zigarettenschachtel, die Catherine Deneuve nach  einem Interview im Jahr 2005 auf dem Café-Tisch hatte liegen lassen, als eine Art Ready Made für 130 Euro unter den Hammer zu bringen. 

Von grossem Erzähltalent zeugen auch die Beiträge in dem 350 Seiten umfassenden Katalog zur Auktion, selbst ein kleines Kunstwerk, voller prächtiger Reproduktionen und unterkühlter Fotoportraits der an dem Event Beteiligten (Fotografin: Stephanie Neumann!), der sicher – doch, doch, wir sprechen uns in zwanzig Jahren wieder –  als Meilenstein in die Kunstkataloggeschichte eingehen wird. Vielleicht eröffnet die „Direkte Auktion“ auch eine neue Epoche in der Kunstauktionsgeschichte?  Warten wir’s gelassen ab.

Zum Schluss zurück zum Anfang: Zum Epochenwechsel.  Slavoj Zizek hat von ihm in einem grossen Interview mit der Berliner Zeitung im Dezember gesprochen, im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie: „Ich denke, die Menschen sind verzweifelt. Sie registrieren, dass eine Epoche zu Ende geht.“ Zizek meint, dass es von nun für die Menschheit schwieriger wird, denn nach der Pandemie sei vor den nächsten Katastrophen, vor allem vor der, die mit der Erwärmung unseres Planeten verbunden ist. Sicher hat der Mann recht,

Er übersieht aber, dass es in diesem Katastrophenjahr noch eine Zäsur mit großen Folgen gegeben hat. Es wird, davon bin ich überzeugt, in die Geschichte als das Jahr eingehen, das das Ende der westlichen Vorherrschaft auf diesem Planeten markiert, die  vor einem halben Jahrtausend mit der ersten Phase des Kolonialismus anfing. Nunmehr beginnt die Phase der asiatischen Dominanz, die – noch konkreter – hauptsächlich chinesisch geprägt sein wird. Natürlich hat sich dieser Wechsel schon länger vorbereitet, und wäre über kurz oder lang sowieso eingetreten. Doch die Pandemie und ihre unterschiedlich erfolgreiche Bekämpfung hat diesen Prozeß noch einmal stark beschleunigt. 

Ich will hier nicht bewerten, ob diese Entwicklung bedauerlich ist oder zu begrüßen. Sie ist eine Tatsache, an der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit nichts ändern wird. Man sollte aber diesen Epochenwechsel auch hierzulande langsam mal zur Kenntnis nehmen. Er wird nämlich auch Konsequenzen für diese Gesellschaft haben. 

Christian Y. Schmidt, 1956 geboren, war von 1989 bis 1996 Redakteur der «Titanic». Seitdem arbeitet er als freier Autor, u. a. für FAZ, SZ, taz, Stern, konkret, NZZ, Zeit sowie für verschiedene Fernsehredaktionen. Er ist Senior Consultant der Zentralen Intelligenz Agentur und war Gesellschafter und Redakteur des Weblogs «Riesenmaschine». 2003 zog er nach Singapur, 2005 nach China. Er lebt heute in Berlin und Peking, hat etliche Bücher veröffentlicht, so etwa Bliefe nach dlüben. Der China-Crashkurs oder Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu. 2018 erschien sein erster, vielbeachteter Roman: Der letzte Hülsenbeck. CulturMag mit zwei Stimmen dazu hier. Im März 2020 erschien Der kleine Herr Tod. Dazu bei uns Georg Seeßlen, weitere Texte hier.

Wolfgang Schweiger

 Es gibt Bücher, die die Welt verändern. Und es gibt  Bücher, die einen angehenden Schriftsteller derart beeindrucken und inspirieren, dass sie gleichsam zu Weggefährten werden, zu Freunden fürs Leben. Für mich war eines dieser Bücher der 1974 erschienene Roman Dog Soldiers des amerikanischen Autors Robert Stone. Eine Freundschaft, die allerdings auf Umwegen entstand, denn was mich zuerst begeisterte, war die Verfilmung des Romans, die 1978 unter dem Titel Dreckige Hunde/Who’ll Stop the Rain? in unsere Kinos kam. Ein Film, der Nick Nolte zum Star machte und bis heute nichts von seiner Faszination verloren hat, auch wenn Stone nach Differenzen mit den Produzenten aus dem Projekt ausstieg und Judith Rascoe das endgültige Drehbuch anfertigte.  

   Nur folgerichtig also, dass ich mir im Frühjahr sofort die von Madison Smartt Bell geschriebene Stone-Biografie Child of Light besorgt habe. Das Bild, das Bell dabei von Stone zeichnet, ist nicht immer vorteilhaft, aber die Entstehungsgeschichten seiner Romane werden penibel dokumentiert und bieten trotz einiger Längen eine spannende Lektüre. Ein wenig schade ist nur, dass Bell sich weitgehend auf Stones Aktivitäten in der  amerikanischen Literaturszene beschränkt und vieles andere nicht zur Sprache kommt. Ein Bob Dylan wird gar nicht erst erwähnt, und Sam Peckinpah kommt nur im Zusammenhang mit seiner Tochter Kristen vor. 

   Apropos Beschränkung: Durch Corona nach bald zwanzig Jahren als Berichterstatter über kulturelle Ereignisse in der Region zwischen dem Chiemsee und Salzburg unversehens arbeitslos, waren im Sommer hauptsächlich (Spazieren)gehen und Lesen angesagt. Was mir, mittlerweile im Rentenalter und gesegnet mit einer stabilen Beziehung zu einer wunderbaren Frau, durchaus entgegen kam. So hatte ich endlich Gelegenheit, mich in das Gesamtwerk von Autoren wie Alan Williams oder Clive Egleton einzulesen, und wie alle Jahre wieder stand auch Brian Moores Schwarzrock auf dem Programm, für mich der beste Roman zum Thema „Kampf der Kulturen“. Eine Abenteuergeschichte, die von Bruce Beresford auch grandios verfilmt wurde, wobei ich das Glück hatte, den Regisseur vor einigen Jahren auf einem Filmfestival kennenzulernen und über die (schwierigen) Dreharbeiten befragen zu können.      

   Ansonsten ging das Kinojahr 2020 komplett an mir vorbei. Aber es gab Abhilfe: Zum Beispiel das wunderbare Buch Opening Wednesday at a Theater or Drive-In Near You von Charles Taylor. Eine zufällige Entdeckung, in der Taylor so kenntnisreich wie unterhaltsam über das „Shadow Cinema“ der 70er Jahre schreibt, über vergessene Filmperlen wie Kris Kristoffersons Filmdebüt Cisco Pike, Walter Hills Regiedebüt Hard Times oder Robert Aldrichs sträflich unterschätzten Ulzana’s Raid. Sehr lesenswert ist auch Oliver Stones Autobiografie Chasing the Light, und als Kind vom Land möchte ich noch auf eines der besten Sachbücher des Jahres aufmerksam machen, auf Uta Ruges Bauern, Land, ein packendes, ungemein lehrreiches Lesebuch über das Landleben gestern und heute im Zusammenhang der Weltgeschichte.   

   Zuletzt noch ein Ausblick: „Dank“ Corona und der Unsicherheit, wie sich die Lage entwickeln wird, habe ich vor Kurzem mit der Arbeit an meinem ersten historischen Roman begonnen: Er wird im Jahr 1956 spielen und von der Jagd auf einen im bayerischen Voralpenland untergetauchten Nazi-Verbrecher handeln.  

Wolfgang Schweiger (den wir vom „Fahnder“, der „SOKO 5113“ und von vielen Kriminalromanen kennen) ist derzeit hauptsächlich als Kulturjournalist im südostbayerischen Raum/Salzburg unterwegs und hat nach längerer Pause auch wieder einen Kriminalroman geschrieben, Land der bösen Dinge bei uns von Alf Mayer besprochen. – Schweiger bei uns, seine Website hier.

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