Geschrieben am 1. Dezember 2020 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2020

Kurzgeschichte von Tommy Schmidt

Triage

Eine Turnhalle im Norden Münchens. Noch vor Kurzem roch es hier nach Kinderschweiß und Gummi. Nach Leder, Lehrerinnentränen und Magnesium. Hier wurde schlappgemacht und hier wurden Klassenbeste bejubelt. Seit Wochen riecht es hier nur noch nach kranken Männern. 

Hundert Betten mit schweren Fällen, die darauf warten, ins intensivmedizinische Zentrum geschoben zu werden, das in der Freiluftsportanlage zwischen Weitsprunggrube und Aschenbahn aufgebaut wurde. 

Wenn es vorne welche geschafft haben, rücken hinten welche nach. An der rechten Hallenseite aber, wo sich die Sprossenwand befindet, da stehen zwanzig Betten mit Patienten, die offensichtlich aussortiert wurden. Diese Patienten werden genauso verpflegt und versorgt, wie die anderen. Aber neben den Symptomen der Krankheit quält sie die Frage: Warum komme ich nicht an die Reihe? Werde ich überhaupt noch behandelt? Muss ich hier sterben? 

In den Medien wird das Thema Triage gerade eifrig diskutiert. Romanautoren, Moralapostel, Provinzpolitiker, Rechtspopulisten, Linkspopulisten, Showmaster, jeder gibt da seine Auffassung zum Besten, wie entschieden werden muss, wenn entschieden werden muss, wer behandelt wird und wer nicht. Welche Rolle spielt das Alter? Welche die Lebenserwartung? Welche die Gesetzestreue? Welche die Systemrelevanz? Welche die Aussichten auf einen Behandlungserfolg? Auffassungen gibt es reichlich. Was es nicht gibt, ist eine Richtlinie, die der Öffentlichkeit bekannt wäre. Und so verzweifeln mögliche Betroffene im Rätselraten bei der Vorstellung, irgendwer entscheidet nach Belieben über Leben und Tod. 

Jedenfalls ist den zwanzig Patienten nicht anzusehen, warum gerade sie in die Warteschleife geschoben wurden. Wie auch: Sie sind total maskiert und können nicht nach links und nicht nach rechts gucken. Seit Tagen starren sie an die Decke und sehen nichts als hochgezogene Turnringe. Aber sie finden schnell heraus, dass sie die gleiche Sprache sprechen und so tauschen sich aus über mögliche Bedeutungen der Triage auf ihr Schicksal.
Vedric: „Ich habe mich einen Scheiß geschert um Hygieneregeln und Abstandsgebote und das ganze Zeug. Ich hab mich davon bevormundet gefühlt. Sie wollten mir meine Freiheit rauben! Jetzt werde ich wohl als Letzter behandelt, wenn überhaupt.“
Danko: „Ich war im Krieg und hab meinen Arsch hingehalten. Ich bestehe auf bevorzugte Behandlung. Ich habe mir das verdammt mit meinem vergossenen Blut verdient!“
Goran: „Mein Nachbar, die fette Sau, ernährt sich von Pizza, Pommes und Pudding. Säuft wie ein Loch und raucht Kette. Er bewegt sich praktisch nie. Er geht mit seinen Körper um, als wäre der der letzte Dreck. Den haben sie behandelt. Warum?“

Jadran singt ein Lied: 
Die weißen Ärmel ihrer Robe hat sie zurückgeworfen
Hat sie hinter ihre weichen, weißen Ellenbogen geworfen
Trägt auf ihren Schultern weißes Brot
Trägt zwei leuchtende Krüge
Mit frischem Wasser hat sie den einen gefüllt
und den anderen mit gutem dunklen Wein

Sie alle wundern sich, denn sie alle kennen dieses Lied und alle singen mit.
Radvan: „Wir kommen wohl alle aus der gleichen Gegend. In München sind wir eine verschwindend kleine Minderheit. Aber hier in der Halle sind wir zwanzig Prozent und unter den Aussortierten sind wir hundert Prozent. Das ist doch kein Zufall! Die wollen uns umbringen!“

Für einen langen Moment ist es still. Es ist unheimlich still. Ab und zu hört man das Lösen oder Feststellen von Bettenbremsen.

Senad: „Ich fuhr nachts mit dem Bus von Kakanj nach Doboj. Vor zwanzig Jahren war das. Etwa dreißig andere Fahrgäste fuhren da mit. Ein paar Frauen, aber hauptsächlich Männer. Und ich glaube, ihr wart alle auch in dem Bus. Plötzlich hielt der Bus auf freier Strecke: Ein Mann mit zwei Söhnen hatte auf der Straße stehend wild mit den Armen fuchtelnd und „Hilfe, Hilfe!‘ rufend den Fahrer zum Anhalten gebracht. Erinnert Ihr euch? Das haben bestimmt die wenigsten mitgekriegt. Kein Überfall, noch nicht mal ein Zwischenfall: Der Fahrer öffnete mit einem angewiderten und abweisenden Blick das Seitenfenster und fragte: „Was willst du?“ Der Vater hielt einen etwa sechsjährigen Jungen im Arm, der sehr krank und apathisch aussah. Neben ihm stand der etwa neunjährige Bruder des kranken Jungen. Der Vater flehte den Busfahrer an: „Krank! Bitte Klinik, bitte Klinik!“ „Du kannst froh sein, dass ich euch nicht überfahren habe, elendes Pack“.
Die Drei waren leicht als Albaner zu erkennen. Sie nicht zu hassen wäre Verrat an unserem Volk. Ihnen zu helfen wäre unverzeihlich. So ist es doch, oder? Der Bruder des kranken Jungen sah mir direkt in die Augen. Sein Blick war voller Verachtung. Er traf den Boden meiner Seele. Ich träume jede Nacht dieses Gesicht. Seit zwanzig Jahren. Gestern habe ich dieses Gesicht wiedergesehen. Der Junge von damals ist jetzt ein Mann. Ich habe ihn vor der Turnhalle gesehen. Er trug einen weißen Kittel.“

Wieder ist es still. Es ist unheimlich still. Ab und zu hört man das Lösen oder Feststellen von Bettenbremsen.

Tommy Schmidt (60) ist Autor, Performance- , Medien -, und Aktionskünstler und arbeitet als Motivationstrainer für eine bedeutende Kommunikationsagentur. Sein erster Roman „Heaven’s Gate“ erschien 2017 im CulturBooks Verlag. Tommy Schmidt hat zwei Söhne und lebt in München.