Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Bloody Chops September 2020

Kurzbesprechungen von fiction – Joachim Feldmann (JF), Günther Grosser (gg), Sonja Hartl (SH), Alf Mayer (AM), Jan Christian Schmidt (jcs) und Thomas Wörtche (TW) über:

James Anderson: Lullaby Road
Parker Bilal: London Burning
Max Bronski: Jaguar
Christian von Ditfurth: Terrorland
William Gay: Stoneburner
Rob Hart: Knock-Out in New York
Ivy Pochoda: Visitation Street
Marcie Rendon: Stadt, Land, Raub
Augustus Rose: Philadelphia Underground
Joachim B. Schmidt: Kalmann
Wolfgang Schweiger: Land der bösen Dinge
Benjamin Whitmer: Flucht
Lauren Wilkinson: American Spy

Eine schwarze Frau bei der CIA

(SH) „Ich öffnete den Safe unter meinem Schreibtisch, schnappte mir meine alte Dienstwaffe und schlicht lautlos und elegant zur Schlafzimmertür – bis ich auf einen Legostein trat und den Rest des Weges humpeln musste“. Bereits in diesem ersten Satz ist deutlich, was Lauren Wilkinsons American Spy prägt: Rasante Spannung und alltäglich-weibliche Gelassenheit. Eine Seite später ist ein nächtlicher Eindringling tot und das ruhige Leben der Erzählerin Marie Mitchell vorbei. Sie weiß, wer den Mann auf sie angesetzt an. Und sie weiß, dass sie sich sofort auf den Weg machen muss, um ihre vierjährigen Zwillingssöhne und sich in Sicherheit zu bringen. Also reist sie mit gefälschten Reisepässen nach Martinique zu ihrer Mutter. 

In Martinique beginnt sie, ihren Söhnen einen Brief zu schreiben – falls sie in einigen Jahren nicht mehr leben sollte, um ihre Fragen zu beantworten. Sie erzählt von ihrem Aufwachsen im New York der 1960er und 1970er Jahre, von ihrer Zeit beim FBI in den 1980er Jahren, in der sie „zweimal von der CIA als zeitlich befristete Auftragnehmerin angestellt“ wurde; „so nennen sie Spione“. Eine Schwarze Frau also, die in den 1980er Jahren für die CIA spioniert hat. Ihr Auftrag: Sie sollte sich an Thomas Sankara heranmachen, den linken Präsidenten von Burkina Faso. 

„American Spy“ ist in diesem Handlungsstrang ein klarer Spionageroman mit verdeckten Identitäten, Wanzen, Bespitzelungen, Lügen und Geheimnisse. Im Zusammenspiel mit den Erzählsträngen zu Maries Aufwachsen und Werdegang zeigt sich, dass ihr gesamtes Leben bestimmt ist von Spionage, von Menschen, die Rollen mit verschiedenen Identitäten spielen. Ihre Mutter hatte so helle Haut, dass sie als Weiße durchging und Orte aufsuchte, an denen keine Schwarzen waren – nur um zu schauen, wie die Weißen leben. Ihr Vater ist einer der wenigen Schwarzen Polizisten in New York. Einer seiner besten Freunde ermittelt verdeckt bei der Nation of Islam. Sie bewegen sich in verschiedenen Welten, passen ihre Identitäten an – und leben im Grunde genommen einfach das Leben Schwarzer Amerikaner. 

„Ich kann euch nur raten, seid keine moralischen Absolutisten. Wenn ihr die Menschen, von denen ich euch hier erzähle, nach dem Lesen in gut und schlecht einteilt, dann habt ihr nicht verstanden, worauf ich hinauswill“, schreibt Marie Mitchell an ihre Söhne. Das ist der Kern dieses Romans: eine einfache Moral gibt es nicht. Alle Figuren in diesem Roman sind Spione – auf die eine oder andere Art. 

Bisweilen trägt Lauren Wilkinson in ihrem Debüt etwas stark auf, insgesamt aber beweist sie ein Talent für Spannung und Komplexität ohne allzu didaktisch zu werden. Mit „American Spy“ fügt sie den Spionageerzählungen aus dem Kalten Krieg eine interessante Perspektive hinzu, die gerade in der Welt der von weißen Männern dominierten Spionagethriller sehr willkommen ist. 

Lauren Wilkinson: American Spy. Übersetzt von Jenny Merling, Antje Althans, Anne Emmert und Katrin Harlass. Tropen, Stuttgart 2020. 352 Seiten, 16 Euro.

Meisterhafte Stadtlandschaft

(TW) Erinnern wir uns kurz an Ivy Pochodas „Wonder Valley“ – das war dieser Roman mit einer der stärksten Eingangssequenzen aller Zeiten, der dann leider später immer mehr zerfaserte. Diese Rezeptions-Hypothek hat Ivy Pochoda mit ihrem bei uns nachgeschobenen Debut Visitation Street abgestreift. Zwei gelangweilte Teenager-Girls aus Red Hook, Brooklyn, fahren leicht angeschickert mit einem schlaffen Gummiboot aufs Meer, um etwas Spaß zu haben. Anscheinend weiß niemand genau, was dann passiert. Das Schlauchboot kentert, eines der Mädchen wird halbtot angeschwemmt, die andere ist verschwunden. Die rassistische Polizei verdächtigt Cree, einen jungen Mann aus den Housing Projects, findet aber keine Beweise. Auch in den Fokus rückt Jonathan Sprouse, ein heruntergekommener Musiklehrer, der das überlebende Mädchen gefunden hatte, und dem man später eine Affäre mit der Minderjährigen andichtet. Und da ist dann noch Ren, ein Street Artist, der im Hintergrund Fäden zu ziehen scheint. Zentrum aller sozialen Geflechte aber ist der Minimarkt des Libanesen Fadi, der nicht umsonst an „Smoke/Blue in the Face“ von Wayne Wang und Paul Auster erinnert. Auch strukturell, denn Pochoda lässt sich glücklicherweise viel Zeit für möglichst subtile Beschreibungen von Red Hook und dessen Einwohnerschaft. Meisterhaft, wie sie eine Stadtlandschaft als Palimpsest charakterisiert, Architektur und Soziologie verbindet, und auch noch sehr poetische Bilder für die Hafenlandschaft am äußersten Zipfel von Brooklyn findet.  Die dann prompt verstellt werden, als das Viertel das langersehnte Kreuzfahrtterminal bekommen, die Queen Mary endlich einläuft, und die eh schon abhängten Einwohner wieder nicht wirklich profitieren.  Den Suspense-Anteil um das verschwundene Mädchen hält Pochoda geschickt präsent, in dem sie die Folgen des Unglücks in den Seelen der beteiligten Menschen und in ihrer Beziehung zu ihrer Umwelt immer mitlaufen lässt. Ein Roman, der eher auf Subtilität setzt als auf Action und Thrill. Kann man machen, wenn man’s kann. In diesem Buch kann es Ivy Pochoda.

Ivy Pochoda: Visitation Street. Übersetzt von Barbara Heller. Ars Vivendi, Cadolzburg 2020. 310 Seiten, 22 Euro.

Punkt. Punkt. Komma?

(JF) Der Autor mag Punkte. Die er gerne anstelle von Kommata setzt. Auch wenn die Zeichensetzungsregeln es gerne anders hätten. Keine Marotte. Stil. In bislang sechs Spannungsromanen kultiviert. Und dem Rezensenten bei der Lektüre von Band 4 der Reihe nicht unsympathisch. Zumal der Plot ziemlich raffiniert war. Was auf Nr. 5 und 6  leider nicht zutrifft. Stattdessen vor allem Effekt ohne Substanz. Denn dass russische Geheimdienste Böses im Schilde führen, wissen wir schon. Und dabei vor nichts zurückschrecken.

Also knallt und rumst es in Terrorland, dem neuem Thriller von Christian von Ditfurth um den ebenso arroganten wie genialen Ersten Hauptkommissar Eugen de Bodt, immer noch Besoldungsgruppe A 12, gehörig. Entsprechend ist die Zahl der Opfer beträchtlich. Und die Weltlage bedrohlich. Zumal der US-Präsident ein eitler Depp ist. Aber auch ein russischer Spion? De Bodt hat die richtige Antwort. Zur rechten Zeit. Doch bis dahin schleppt sich die Handlung. Intermezzi wie die Entführung von de Bodts Lieblingskollegin und Anschläge auf sein eigenes  Leben erinnern an die Plots des legendären Francis Durbridge. Und das ist kein Kompliment. Ein bisschen spannend wird es erst gegen Ende. Nach ca. 350 Seiten. Es wird wirklich Zeit, dass de Bodt befördert wird.

Übrigens hieß der im Vorgängerband „Ultimatum“ entführte Gatte der Kanzlerin Süß. Und in „Terrorland“ bekommen wir  es mit einem US-Präsidenten  namens Ronald Dump zu tun. Noch Fragen?

Christian von Ditfurth: Terrorland. C. Bertelsmann, München 2020. 445 Seiten, 15 Euro.

Pessimismus, pur

(gg) Benjamin Whitmers intensiver Noir Flucht ist ein Monster, ein schmerzhafter Spagat zwischen einer blutigen Menschenjagd durch archaische Schneelandschaften und den verzweifelten Versuchen einiger weniger, irgendwo einen Funken Menschlichkeit ausfindig zu machen. Aus einem abgelegenen Gefängnis in Colorado sind zwölf Insassen ausgebrochen. Um den Knast herum gibt es nichts als ein kleines Dorf und vereinzelte Farmen. Knastchef Cyrus Jugg, klassischer Sadist, inszeniert die Verfolgung: Tote sind ihm dabei das Liebste. Der Roman flackert in zahlreichen kurzen Kapiteln durch die Anstrengungen der Kontrahenten und ihrer Opfer draußen auf den Farmen. Hier und da glimmt Hoffnung, dann versackt alles im Tiefschnee, nichts ist von Dauer, alles vergeblich. 

 „Flucht“ dürfte der pessimistischste Kriminalroman weit und breit sein, und man wird auch im Film lange nach einer deprimierenderen Geschichte vom Ausbrechen und vom Davonkommen suchen müssen. Der Polar-Verlag hat auf seiner Homepage ein  ausführliches Interview von Übersetzer Alf Mayer mit Whitmer, und auch dort findet sich die Kontinuität des Spagats: zwischen Country-Idol Merle Haggard und Star-Philosoph Jean Baudrillard, zwischen Working-Class-Tragedy und Trash.  Überall Extreme – in Whitmers Leben, seinem Denken, und in den Herzen seiner Figuren. 

Benjamin Whitmer: Flucht (Evasion, 2019). Aus dem Amerikanischen von Alf Mayer. Polar-Verlag, Stuttgart 2020. 408 Seiten, 22 Euro.

Rasante Rachegeschichte

(JF) Wie sich ein Kolportageklassiker aus dem 19. Jahrhundert in einen zeitgemäßen Spannungsroman verwandeln lässt, zeigt Jaguar, der neue Thriller des vielseitigen Münchner Autors Max Bronski. Hochriskante Finanzgeschäfte und sinistre Geheimdienstaktionen bilden den gut recherchierten Hintergrund für eine rasante Rachegeschichte mit esoterischem Touch. Routiniert erzählt und süffig zu lesen bestätigt der Roman wieder einmal, dass wir in einer großen, aber keineswegs guten Gesellschaft leben. Wer sich sein Lektürevergnügen bewahren will, sollte allerdings die Inhaltsangabe auf der Rückseite des Buches übersehen, in der nonchalant fast die gesamte Handlung ausgeplaudert wird. Auch die bibliographischen Hinweise, in denen der gewissenhafte Bronski seine Quellen verrät, nehme man tunlichst erst zur Kenntnis, wenn mindestens zwei Drittel des Romans hinter einem liegen und die Ahnung, nach welchem robusten literarischen Modell hier gearbeitet wurde, sich nicht mehr unterdrücken lässt. 

Max Bronski: Jaguar. Droemer Verlag, München 2020. 320 Seiten, 10,99 Euro.

Präzise Momentaufnahme

(TW) Unter dem Namen Parker Bilal schreibt der sudanesisch-britische Autor Jamal Mahjoub Kriminalromane. Mit London Burning wechselt er deren Schauplatz von Kairo nach London.  Calil Drake, vom Detective Inspector zum Detective Sergeant degradiert und aus rassistischen Gründen mit dem Verdacht belastet, korrupt zu sein, bekommt die Chance zum Wiederaufstieg: In Magnolia Quays, einem Immobilienentwicklungsgebiet in Battersea, sind zwei Menschen bizarr getötet worden. Aneinandergefesselt, mit Säcken über dem Kopf sind sie in einer Baugrube von einer LKW-Ladung Gesteinsbrocken zu Tode gequetscht worden. Eine Todesart, die die zu dem Fall hinzugezogene forensische Psychiaterin Rayhana Crane sofort an Steinigung im Sinne der Scharia denken lässt. Die Spuren führen bald nach Freetown, ein dezidiert multi-ethnisches Viertel, mit hohem muslimischen Anteil, aus dem Calil Drake stammt und das von der offiziellen Polizei-Politik kriminalisiert wird. Freetown ist „die Schnittstelle, wo Dschihadisten neben Rechtsradikalen lebten, und beide trachteten danach, sich das Chaos zunutze zu machen. Beide wollten die Energie hier anzapfen und aus etwas Positivem in das finstere Gegenteil verkehren“.  Ohne den Begriff Brexit zu bemühen, entwirft Bilal eine ziemlich präzise Momentaufnahme eines Londons, in dem Profit, Verdrängung und Rassismus das Zusammenleben disparater Gruppen von Menschen extrem schwierig macht.  Misstrauen und Paranoia herrschen überall, Wut und Verzweiflung geben die Grundstimmung vor – Drake wird von seinen „eigenen Leuten“ Verrat und Kollaboration mit den Mächtigen vorgeworfen, wobei ihm immer unklarer wird, wer seine „eigenen Leute“ eigentlich sind. Zusammen mit Rayhana Crane ist er als Serienfigur angelegt, ein Seismographen-Duo für britische Verhältnisse, angelegt als konventionell erzählte Ermittler-Krimis. Die Sprengkraft des Romans liegt eindeutig in der Geschichte und dem Setting und soll deutlich breitenkompatibel rüberkommen. Das ist in diesem Fall völlig ok.

Parker Bilal: London Burning (2019). Übersetzt von Ulrike Thiesmeyer. Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2020. 492 Seiten, 12 Euro.

Der Mann mit dem Gammelhai

(rum) Mit Gammelhai kennt sich Kalmann Odinsson bestens aus. Mit dem ganzen Rest eigentlich auch, wenngleich etwas eingeschränkt. Denn dieser Kalmann, der da im aussterbenden 137-Seelen-Nest Raufarhöfn am ungemütlichen, nördlichen Ende Islands wohnt (Fotos von der Gegend gibt es übrigens hier), hat eine geistige Behinderung. Im Ort nennen sie ihn den Sheriff von Raufarhöfn, denn auf die Straße geht er nur in Cowboyhut, mit Sheriffstern und einer Mauser im Halfter. Er lebt allein im Häuschen seines Großvaters und verdient sich mit dem Gammelhai etwas Geld. Diese sehr spezielle Spezialität ist fermentierter und anschließend getrockneter Grönlandhai. Der Gammelprozess (für die Fermentation wurde der Fisch früher ein paar Wochen am Strand vergraben) ist wichtig, weil das Fleisch der Tiere, die mehrere hundert Jahre alt werden können, sonst ungenießbar ist.

Als Kalmann in den Hügeln hinter dem Dorf über eine Blutlache im Schnee stolpert, scheint ihn das zunächst nicht übermäßig zu beschäftigen. Aber als klar wird, dass das Blut wohl zum vermissten  Robert McKenzie gehört, kommt Leben in den tristen Ort. Eine Polizistin ermittelt, Journalisten interviewen jeden, der sich nicht schnell genug verdrückt. Dieser McKenzie war ein wichtiger Mann im Dorf, besaß er doch die verbliebenen Fischfangquoten und das einzige Hotel. Doch Kalmann ist alles andere als ein zuverlässiger Zeuge und Erzähler. Er verrät längst nicht alles, was er weiß. Zudem interessiert ihn viel mehr, was etwa die Polizistin von ihm denkt oder was sein Großvater in dieser Situation getan hätte. Ein Gedanke führt zum nächsten und man ist mitten drin in diesem Universum, in dem Kalmann einen naiven und doch wunderbar schlüssigen und unverstellten Blick auf die Welt offenbart. Als er etwa von seiner Großmutter erzählt, die vor dem Fernseher starb, was sein Großvater zunächst nicht bemerkte, schließt er: „Wenn jemand vor dem Fernseher sitzt, ist es schwer zu sagen, ob er noch lebt oder schon tot ist.“ Oder: In Raufarhöfn „war genug Platz zum Tanzen, aber die Zurückgebliebenen wollten nur noch saufen“.

Eine sehr interessante Figur hat der Schweizer Autor Joachim B. Schmidt mit diesem Kalmann geschaffen, der da, wo er lebt gut aufgehoben ist. Die Leute akzeptieren ihn, lassen ihn machen, passen auf ihn auf. Das weiß er und hat gerade deshalb Angst, der Ort könnte irgendwann aufgegeben werden. Und damit ist Schmidt schon bei den großen Themen. So geht es ganz nebenbei um Überfischung und Abwanderung, um Fangquoten und das Geschäft damit, um den Klimawandel, um Fremdenfeindlichkeit und Drogenschmuggel im großen Stil. Und Schmidt ist ein gewiefter Erzähler mit dem Gespür für die Untiefen, die so eine Figur liefern kann.

Spätestens da mag sich manche/r fragen: Darf der das denn? Darf dieser Autor aus Sicht eines geistig Behinderten erzählen? Er darf das durchaus, denn Schmidt meidet die Klischees und nimmt seinen Kalmann tatsächlich ernst. Der ist etwas eigen, das weiß er und nutzt das gelegentlich auch für sich. Mit Kalmann hat Schmidt einen denkwürdigen Protagonisten geschaffen, ein Tor, der sich im hohen Norden durchs Leben kämpft. Und mit dem Leben dort oben kennt sich der 1981 in Graubünden geborene Schmidt aus, ist er doch vor 13 Jahren nach Island ausgewandert, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und gelegentlich Touristen über die Insel führt – wenn er nicht gerade einen Roman schreibt. Und darauf sollte er sich unbedingt weiter konzentrieren. 

Joachim B. Schmidt: Kalmann. Diogenes, Zürich 2020. 351 Seiten, 22 Euro.

Kirchweidach und Umgebung

(AM) Mit einer kruden Theorie konfrontiert, die ihn zu einem Verdächtigen macht,  reagiert die Hauptfigur auf Seite 55 gegenüber einem Polizisten so: „Sie sind verrückt!“ – „Nein, nur ein Polizeibeamter, der seine Pflicht tut.“ – „Dann sollten Sie vielleicht den Beruf wechseln und Drehbücher für Fernsehkrimis schreiben. Die stehen auf einen solchen Mist.“ 
Wolfgang Schweiger – seine CrimeMag-Beiträge hier ­ – hat Drehbücher zu Fernsehserien wie „Der Fahnder“ und „SOKO 5113“ verfasst. Er weiß, wovon hier die Rede ist. Bei allem Augenzwinkern aber hat sein Held, der Lkw-Fahrer Tobias Kern, tatsächlich ein Problem. Mitten in der Nacht wurde er durch Schüsse aus dem Schlaf gerissen. Er ging nachsehen, und fand einen jungen Mann, der erschossen neben seinem Auto lag. Während die Polizei noch im Dunkeln tappt, kommt Kern durch einen Zufall dem Täter auf die Spur, damit auch einer halben Million Euro, die dem Toten geraubt wurden. Aber selbst im Landkreis Altötting, wo wir uns in im Land der bösen Dinge  erfrischend bodenständig aufhalten, kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es den bösen Buben und hier zudem einem besonders bösen Mädchen nicht gefällt. Kern ist nicht der Einzige, der sich für das Geld interessiert, so nehmen die Dinge ihren buchstäblich blutigen Lauf. Nicht umsonst kommt eine Motorsäge vor, gibt es Reminiszenzen zu Filmen wie „Holocaust Cannibal“ und dem Mittelalter-Söldner-Drama „The Last Valley“, 1971 die letzte auf 65-mm-Film gedrehte Todd-AO-Produktion, für den Michael Caine extra deutsche Dialekte lernte. Auch eine Pumpgun, eine Machete sowie eine 15-schüssige Beretta, im Puff hinter der Grenze gekauft, spielen eine Rolle. Kern ist ein angenehm schweigsamer Protagonist, eine Clint Eastwood-Figur. Seine Erfahrungen aus der Zeit in Südafrika werden ihm noch zu Nutze kommen. Wenn Heimatkrimi, dann bitte auf solch handfeste, unprätentiöse Art wie bei Wolfgang Schweiger.

Wolfgang Schweiger: Land der bösen Dinge. Ein Heimatkrimi. BoD Buchshop, Norderstedt 2020. Paperback, 220 Seiten, 9,99 Euro.

Posthum veröffentlicht

(JF) Ein Koffer voller Geld, eine wunderschöne junge Frau und ein spielversessener, trunksüchtiger Vietnamveteran sind unterwegs von Tennessee nach Kalifornien. Oder nach New York. So ganz einig sind sie sich nicht. Das Geld stammt aus einem gescheiterten Drogendeal. Die Frau ist die Geliebte eines ehemaligen Sheriffs, Jahrzehnte älter, aber offenbar reich und skrupellos. Er hat ihr einen Sportflitzer nach dem anderen geschenkt. Und wer ihm in die Quere kommt, kriegt ordentlich Prügel. Ein solcher Mann lässt sich nichts wegnehmen. Also schickt er den Flüchtigen einen Privatermittler hinterher. Der kennt den Gejagten seit vielen Jahren, sie waren zusammen in Vietnam und nach ihrer Entlassung in dieselbe Frau verliebt.

Der ideale Noir-Stoff, sollte man meinen. Zumal der Sheriff längst pleite ist. Die Drogengeschichte war so etwas wie ein letzter Versuch, wieder an Geld zu kommen. Aber das erfährt man erst ziemlich spät im posthum veröffentlichten Roman Stoneburner von William Gay (1939-2012), dessen erster Teil vor allem davon handelt, dass viel Geld, wenn überhaupt, nur zeitweise glücklich macht. In der zweiten Hälfte erzählt die titelgebende, bislang nur im Prolog aufgetauchte, Ermittlerfigur, was vorher und danach geschah. Die Verfolgungsjagd selbst wird auf wenigen Seiten abgehandelt.

Eine solche Erzählstruktur erfordert ebenso wie der Verzicht auf Redezeichen in den Dialogpartien eine konzentrierte Lektüre. Und gerne würde man zu dem Urteil kommen, dass diese sich unbedingt lohne. Doch ganz korrekt wäre das nicht. In „Stoneburner“ finden sich wunderbare Passagen, finster romantisch und brutal komisch. Doch als Ganzes funktioniert der Roman nur bedingt, ein ästhetisches Prinzip ist hinter der sprunghaft und willkürlich anmutenden Erzählweise nur schwer zu erkennen. Seine Idee sei gewesen, „eine Art ‚Film Noir auf Papier‘ zu schreiben“, steht in einer Notiz, die William Gay auf dem Manuskript hinterlassen hat, gefolgt von dem Zitat, Bücher passten „nie zu dem Traum“, den man von ihnen gehabt hätte. Das stammt von William Faulkner, den Gay sehr bewunderte. Wahrscheinlich hatte er in diesem Fall recht.

William Gay: Stoneburner (2017). Aus dem Amerikanischen von Sven Koch. Polar Verlag, Stuttgart 2020. 390 Seiten, 14 Euro.

Spannende Protagonistin

(jcs) Beim Stichwort „Fargo“ denkt man natürlich an den gleichnamigen Film der Coen-Brüder (und die fantastische Schauspielerin Frances McDormand, die für ihre Rolle als hochschwangere Polizistin Marge Gunderson mit dem Oscar ausgezeichnet wurde). Dicht dran – örtlich wie atmosphärisch – ist der Roman Stadt, Land, Raub von Marcie Rendon, der ebenfalls zwischen Fargo und Minneapolis spielt, in der leeren Mitte Amerikas.

Wir springen zurück in die frühen 70er Jahre: Die junge indianische Landarbeiterin Cash heisst eigentlich Renee Blackbear, aber mit diesem Namen wird sie nicht angesprochen. Cash fährt am liebsten Rübenlaster und schwere Traktoren durchs Red River Valley, und sie spielt verdammt gut Billiard. Auch wenn sie jetzt studiert, fühlt sie sich in der harten ländlichen Arbeitswelt wohler als in der weißen College-Welt. Cash bleibt Einzelgängerin, und als ein weißes College-Mädchen verschwindet, lässt sie die Sache kalt. Aber Sheriff Wheaton, der sie als Dreijährige aus dem Autowrack ihrer Mutter zog, erzählt Cash White Slavery, von Mädchenhändlern, und bittet sie, die Augen offen zu halten. Doch erst als blonde und um Hilfe rufenden Mädchen Cashs Träume bevölkern, weiß sie, dass die Sache ernst ist. Cash, die hier nach dem Debüt „Am roten Fluss“ von 2017 ihren zweiten Auftritt hat, ist eine spannende Protagonistin, tough und unabhängig. Schön, dass die Autorin Marcie Rendon an ihrer Geschichte weiterstrickt und eine gelungene Mischung aus Krimi und Country-Ballade vorlegt.

Marcie Rendon: Stadt, Land, Raub ( Girl Gone Missing, 2019). Aus dem Amerikanischen von dt. von Jonas Jakob. Argument Verlag mit Ariadne, Hamburg 2020. 220 Seiten, 13 Euro.

Ironische Traditionspflege

(JF) Ashley McKenna ist ein Mann für alle Fälle. Wer einen Auftrag für ihn hat, findet den schlagkräftigen Ermittler ohne Lizenz, Held einer inzwischen auf fünf Teile angewachsenen Romanserie des New Yorker Schriftstellers Rob Hart, in der Bar „Apokalypse“, wo er hinter den Toiletten ein Büro unterhält. Wie alle taffen Typen des Genres ist McKenna ein sentimentaler Knochen. In der mysteriösen Chell meint er die Frau seines Lebens gefunden zu haben, doch bevor er überhaupt ihren richtigen Namen weiß, wird sie ermordet. Als der schwer verkaterte McKenna ihren Hilferuf abhört, ist es längst zu spät. Den Abend hat er mit ihr verbracht, offenbar haben sie sich gestritten, doch erinnern kann er sich an nichts. Entsprechend abenteuerlich gestaltet sich die Suche nach dem Täter, bei der McKenna manch üblem Typen in die Quere kommt. Denn in New Yorks Szenevierteln tobt ein erbitterter Kampf um Macht und Einfluss, und den beteiligten Parteien, unter ihnen ein so genannter „Hipster-King“ und die transsexuelle Gangsterqueen Ginny, ist jedes Mittel recht. Was Chell mit all dem zu tun hatte, erfährt McKenna, der sich mit staunenswerter Energie durch die rechtschaffen opake Handlung prügelt, nur sehr allmählich. Wer sich an die Probleme des Regisseurs Howard Hawks, bei der Verfilmung von Chandlers „The Big Sleep“ den Plot nachzuvollziehen, erinnert, darf sich auf ein Déjà-vu-Erlebnis freuen. Überhaupt wimmelt es von Anspielungen an die Noir-Romane und –Filme der vierziger und fünfziger Jahre. Ein Höhepunkt an Intertextualität ist erreicht, wenn McKenna an einem, als Touristenattraktion gedachten, Mystery-Rollenspiel teilnimmt. Wer es metaliterarisch mag, darf sich hier amüsieren, andere mögen enttäuscht sein. Denn auf die Spur des Täters führt das bunte, recht unterhaltsam erzählte, Treiben nicht. Dessen Entlarvung verdankt sich mehr dem Zufall als McKennas Ermittlerkompetenz. Als Exerzitium in ironischer Traditionspflege gelesen, macht Knock Out in New York durchaus Spaß. Mehr aber auch nicht.

Rob Hart: Knock-Out in New York (New Yorked, 2015). Aus dem Amerikanischen von Heike Holtsch. Heyne Verlag, München 2020. 351 Seiten, 9,99 Euro.

Ziemlich wahnsinnig

(TW) Ganz auf Mord, Geheimnis, Gewalt, Drogen und Prostitution setzt Augustus Rose mit Philadelphia Unterground. Die jugendliche Kleinkriminelle Lee wird von einer geheimnisvollen Sekte, der „Société Anonyme“, warum auch immer gejagt.  Erst recht, als sie aus komplizierten Gründen ein Objekt von Marcel Duchamp klaut. Auch wenn „Philadelphia Underground“ ein bisschen an Eugene Sues „Geheimnisse von Paris“ erinnern soll – unterirdische Biotope in Kanälen und Schächten spielen eine große Rolle – geht es doch um die Kunst von Marcel Duchamp, um den „Sinn“ seiner oft verstörenden Objekte und Installationen, was wenig überrascht, hieß doch eine Künstlergruppe um Duchamp  „Société Anonyme, Inc.“ Und bald ist auch klar, dass Duchamps opus magnum „Das große Glas“ der Dreh- und Angelpunkt des ziemlich wahnsinnigen Romans ist. Rose strapaziert das Lesevolk ziemlich maliziös mit Reiner Mathematik, Stringtheorie und allerlei kosmologischem Fidelwipp, bis sich einem der Kopf dreht, aber das schafft nur die komische Fallhöhe des Buches, eine Pointe im Geiste von Duchamps und letztlich von Duchamps selbst. Das ist schon ziemlich ambitioniert, funktioniert aber blendend, wenn man nicht vergisst, dass Duchamps eben Surrealist und Dadaist war. Und insofern hier eine oft übersehende Tradition der Kriminalliteratur clever aufgerufen wird.

 Augustus Rose: Philadelphia Underground. Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence. Piper Verlag,  München 2020. 459 Seiten, 22 Euro.

Das Licht der Wüste

(gg) Amerika ist noch nicht am Ende, aber die Verluste sind hoch, und auch in Lullaby Road von James Anderson kommt niemand, keine und keiner, ungeschoren davon. Ben Jones fährt jeden Tag mit seinem Laster die hundert Meilen Utah State Road 117 zwischen Price und Rockmuse durch die Wüste und versorgt „Wüstenratten, herumkrebsende Rancher und andere Stadtflüchtlinge“ in ihren Trailern und Hütten auf den abgelegenen Seitenstraßen mit Wasser, Ersatzteilen und Lebensmitteln. Im Winter, wenn Schneewehen alles gleich aussehen lassen und die Straße buchstäblich verschwindet, braucht er etwas länger; noch länger, wenn er ein schweigendes kleines Mädchen mit Hund dabei hat, das man ihm am Truckstop zum Aufpassen in die Hand gedrückt hat, und wenn ihn ein knallroter Laster aus der Hölle streift, wird es ganz eng. Als der verrückte Prediger, der seit Jahren ein zentnerschweres Kreuz am Highway entlangschleppt, umgefahren und schwer verletzt wird, nimmt Ben auch diese Sache in die Hand und fügt den vielen Wunden seines oft strapazierten Körpers eine ganze Reihe weiterer hinzu.

Tatsächlich ist die Kreuz-Metapher von zentraler Strahlkraft in diesem krachend-kreischenden Melodram der amerikanischen Verheerungen, in dem sich das Pathos der guten Sache einen verlustreichen Kampf liefert mit all den bitterbösen Abgründen des Sozialen vom kleinen Diebstahl bis ganz hinaus zum organisierten Kinderhandel. Auch Ben absolviert auf den zahllosen Routen kreuz und quer durch die Wüste seine Passionsgeschichte und gerät dabei an den Rand des Untergangs. Angesichts eines „blinden und vollkommen gleichgültigen Gottes“ scheinen die Kämpfe jedoch aussichtslos, und James Anderson gibt seinem Schmerzensmann kaum eine Chance.

Ben repräsentiert als halb indianischer, halb jüdischer, in Wohnheimen aufgewachsener und bei  Pflegefamilien der Mormonen herumgereichter Außenseiter gleich ein ganzes Bündel amerikanischer Traumata, und es fällt schwer, in ihm eine weitere Variante jener klassischen Figur des Einzelgängers zu sehen, der allein aber nicht einsam ist und zuerst als Westerner die Wildnis und dann als Privatdetektiv die Großstadt durchstreifte. Allerdings glaubt nicht einmal mehr Hollywood an diese mythische Figur und setzt lieber auf Comicfiguren und Superhelden. Und doch scheint Ben Jones, dieser Patchwork-Charakter aus all den Narben Amerikas, die richtige Figur zur richtigen Zeit zu sein. Wie überhaupt das ganze Personal des Romans in all seiner verstockten Eigenbrötelei immer wieder die Sackgasse des Individualismus aufscheinen lässt – das Soziale funktioniert nur noch in seinen parodistischen Varianten.

„Lullaby Road“ wirkt zuweilen überladen mit all seinen Skurrilen und Verrückten und den zahlreichen Nebengeschichten, und am Ende kriegt James Anderson, der selber zwischen Oregon und dem südlichen Utah hin und her pendelt,  seine Erzählfäden gerade so wieder zusammen. Das Herz seiner Erzählung, das Spielfeld aller Ereignisse, die Wüste, rettet diesen zweiten Roman um Ben Jones jedoch vor dem Zuviel an Pathetischem. Sie kommt Andersons Hang zum poetischen Erzählen entgegen, sie erweist sich als stoischer und unnahbarer als alle Starrköpfe und Verschrobenen; sie fängt umstandslos alle und alles auf und spuckt nur noch Reste aus. „Die Wüste ist das Land der Einsamkeit und wer dort lange genug bleibt, vergisst irgendwann, wo er selbst endet und die Wüste anfängt.“ 

Manchmal spürt man beim Lesen die diebische Freude der Leute beim Polar-Verlag, die uns mitten im heißen Sommer mit zwei eiskalten Winterkrimis testen. Zuerst mit Benjamin Whitmers „Flucht“ in den tiefverschneiten Rocky Mountains, und nun „Lullaby Road“ von der anderen Seite der großen Wasserscheide, auf dem schneeverwehten Colorado Plateau: Die Bücher sind dann gut und intensiv, wenn wir bei 30 Grad lesend auf die Wintermänteln schielen. 

James Anderson: Lullaby Road. Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke; Polar Verlag, Stuttgart 2020. 376 Seiten, 22 Euro. – Siehe auch das Interview von Hanspeter Eggenberger in dieser Ausgabe.

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