Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

Wolf-Eckart Bühler: Tod und Mathematik

Vince Edwards in Irving Lerners „Murder by Contract“ – ein Großteil der Fotos wurde von Wolf-Eckart Bühler bei Irving Lerner direkt vom Schneidetisch gemacht.

Über Irving Lerner

Wie Harun Farockis Analyse „The Night of the Hunter“ – hier in dieser Ausgabe nebenan – verdankt sich auch die Errettung dieses legendären Essays aus der Zeitschrift Filmkritik (Heft Nr. 290, Februar 1981) einem kundigen und sperrige Autoren überzeugen könnenden Herausgeber. Der Filmkurator Hannes Brühwiler hat 2018 eine „Hollywood Blacklist“-Retrospektive auf die Beine gestellt, die in Berlin, Frankfurt und Zürich gezeigt wurde. Daraus und dazu ist ein bemerkenswertes Buch entstanden, das in diesen Tagen erscheint:

Hannes Brühwiler (Hg.): The Sound of Fury. Hollywoods Schwarze Liste. Deep Focus Band 32. Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2019. Ca. 300 Seiten, 100 Fotos, Paperback, 20 Euro. Verlagsinformationen hier.

Weil Hannes Brühwiler weiß, was er tut, hat er für sein Buch – Inhaltsverzeichnis ganz unten – auch Wolf-Eckart Bühler gewonnen, einen der besten Kenner der „Hollywood Blacklist“. Wir danken Autor und Verlag über die freundliche Erlaubnis, „Tod und Mathematik“ bei uns zu veröffentlichen. Hier nun WEB himself, 1981 in der Filmkritik:

Death and Mathematics – so hat einmal ein Film von Irving Lerner heißen sollen. Entstanden ist schließlich nur das Drehbuch von Ben Maddow. Schlimmeres haben die Sicherheitsphobien des Kalten Kriegs verhindern können. Death and Mathematics war ein Filmprojekt über Nuklearphysik.

Einige Jahre später drehte Lerner einen anderen Film nach einem Drehbuch von Ben Maddow. Death and Mathematics wäre sein kongenialer Titel gewesen, doch da es ein kleiner und extrem billiger Hollywoodspielfilm war, hieß er stattdessen Murder by Contract (Der Tod kommt auf leisen Sohlen; 1958). Es ist ein Film über einen Berufskiller, der vordem Spezialist für Rechenmaschinen, Computer gewesen war. Er verrichtet seine neue Arbeit mit eben der minutiösen Präzision, die er von den Apparaten seiner alten Arbeit gewohnt gewesen war, scheitert aber, als er eine Frau töten soll, die eine professionelle Musikerin ist. Aber das klingt schon viel zu prätentiös. Und auch der Genrebegriff »Killerfilm« ist hier völlig fehl am Platz, obschon andererseits ein genauerer und richtigerer Killerfilm gar nicht vorstellbar ist. Murder by Contract besteht fast vollständig aus Abstraktionen, aus denen wie durch ein Wunder (eine chemische Kettenreaktion) ein Film geworden ist. death and mathematicswäre sein kongenialer Titel gewesen. Am Schluß des Films, den Lerner noch in demselben Jahre drehte, am Schluß von City of Fear (Stadt in Gefahr; 1959), wird die Leiche des Pro­tagonisten mit einem Mantel bedeckt, und jemand stellt ein Warndreieck darüber auf: Caution! Radioactive Area!
Der Mensch als radioaktive »Zone«. Ursprünglich hatte Lerner als Anthropologe und Ethnologe angefangen.

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Auf eine Abenteurerexistenz übertragen, wäre Lerner ein Mann gewesen, der Goldgräber war in Alaska, Beachcomber auf einer Südseeinsel, Brigadist im Spanischen Bürgerkrieg und Manager einer texanischen Ölgesellschaft.

Ich möchte versuchen, eine Haltung deutlich zu machen, und mehr noch meine, unsere, als die von Lerner selbst. Ich rede vom Erfolg. Lerner war ein erfolgloser Mann. Aber was sage ich da, und woher beziehe ich meine Kriterien von dem, was Erfolg ist und was Mißerfolg? Lerner war erfolglos, ohne jeden Zweifel, aber … Er hat Gold gefunden, jedoch nur eine kleine Handvoll, nicht genug, um reich zu werden und zu investieren. Er hat die trügerische Ruhe der Südsee nicht ausgehalten und ist wieder in die Städte, um die wahre Ruhe zu finden. Er hat im Spanischen Bürgerkrieg auf der richtigen, aber unterlegenen Seite gekämpft. Er hat die Öl-Company bereichert, nicht aber sich selbst, was ihm als besonders raffinierter Betrug ausgelegt wurde, weswegen man ihn gefeuert hat. Ich rede vom Mißerfolg. Und ich rede davon, wie der Erfolg ausgesehen hätte.

Vince Edwards

Lerner war ein Mann, der fast alles konnte, was mit Film zu tun hat, außer einem – sich durchzusetzen. Weil er das nicht gekonnt hat, hat er sich zwingen lassen, Dinge zu machen, die er weniger gut konnte, bzw. hat nicht energisch genug darauf gedrängt, nur die Dinge zu machen, die er am besten konnte. Aber das ist nur ein Aspekt, und ein zu abstrakter obendrein. Die Grenzen sind fließender, wie wir sehr wohl wissen, und oft sind sie so, daß zum Schluß gar keine mehr übrigbleiben. Ich will sogar vor der Banalität der Aussagen nicht zurückscheuen, daß man ja schließlich von irgend etwas leben muß, und daß es ein Einfaches ist, die weiße Weste zu bewahren, wenn um jeglichen Dreck man den großen Bogen beschreibt.

Am besten war Lerner wahrscheinlich als Cutter (amerikanisch: Editor). Erst recht, wenn er eigene Filme schneiden konnte. Als Editor, wie wir später hören werden, hatte er aber eigentlich Berufsverbot, und allzu viele eigene Filme hat es für ihn auch nicht gegeben. Als Regisseur war er am besten, wenn er Filme machen konnte, die erst am Schneidetisch sich zusammensetzten. Wobei es nicht etwa darum geht, eine verfahrene Sache hinterher auszubügeln, sondern eine ganz bestimmte Art von Film zu machen. Daß es für diese bestimmte Art von Film keinen Namen gibt, spricht für Lerner, war aber andererseits natürlich der Grund, weswegen er die Gelegenheit, solche Filme zu machen, nur ein- oder zwei- oder dreimal erhielt, falls überhaupt. Und überdies, wie wir später hören werden, hatte er eigentlich auch als Regisseur Berufsverbot. Dann war er noch Kameramann, war Produzent, war Schreiber, war dies und das. Und hier und da. Er war bei den radikalsten Filmgruppen, die je in den Staaten tätig waren, und er war für und im Auftrag der großen Companies Hollywoods tätig. Er hat bei Filmen mitgemacht, bei denen es ratsam war, nur unter Pseudonym mitzumachen, und bei Filmen, bei denen es tödlich war, keinen eigenen (»guten«) Namen zu haben. Er hat für die Regierung gearbeitet, und er hat gegen die Regierung gearbeitet. Er war in marxistischen Filmen tätig, er war in kapitalistischen Filmen tätig, er war in Filmen tätig, die das Etikett Film nicht einmal verdienen. Er stand hinter 8mm-Kameras, und er stand hinter 70mm-Kameras, und das alles mag sehr unstabil klingen, und vielleicht war es das auch. Und andererseits auch wieder nicht. Lerner war Intellektueller und Handwerker zugleich, und wer da meint, das müsse eine ideale Mischung sein, der weiß nicht, was um ihn herum vor sich geht. Es muß einem dann schon gelingen, so viel von sich herzumachen, daß zu guter Letzt er als ein Künstler gilt, was aber immer noch nicht heißt, daß der Kampf dann zu Ende sei, und was die Gefahr in sich birgt, zum Schluß auch vor sich selbst nur noch als Künstler dazustehn. Lerner hat sich nicht vereinnahmen lassen wollen, und am allerwenigsten von Hollywood, aber er war auch ein linker Filmemacher, der aus gutem Grund sich eines Tages entschlossen hatte, auch andere als nur dokumentarische und experimentelle und pädagogische Filme machen zu wollen. Diese Absicht scheiterte, wenn man denn so will, und nicht zuletzt auch an Lerner selbst. In dreißig Jahren Hollywood nur ganze sieben Spielfilme, das ist ein Rekord, der nur von wenigen unterboten wurde (z. B. von Polonsky, der es auf drei Filme in 30 Jahren brachte). Und doch sind zumindest zwei dieser sieben Filme etwas, was es in Hollywood eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, und was überdies mit nichts vergleichbar ist, was sonst an diesem Ort entstand. Ich spreche von Man Crazy (1953) und Murder by Contract. Ich spreche von Erfolg und Mißerfolg. Ich spreche von Murder by Contract als dem einen und einzigen Film Lerners, bei dem alles aufgegangen ist, obschon eigentlich nichts aufgeht, ich spreche von Murder by Contract als einem Film, bei dem nichts perfekt ist, und der dennoch ohne Makel erscheint. Aber auch das ist wieder nur ein Aspekt, und ich merke, daß ich mich hüten werde müssen vor allzuviel Mystifizieren. Lerner selbst wäre am allerwenigsten dafür verantwortlich zu machen. Oder doch nicht?

Vince Edwards und Caprice Toriel

Mir fällt an dieser Stelle ein Kuriosum ein. Für die Industrie ist Lerner nichts weiter als ein Editor gewesen, der von Zeit zu Zeit ein paar unbedeutende Regiearbeiten hat machen dürfen und so undankbar gewesen ist, seine Chance nicht zu nutzen. In den gebräuchlichen Filmhandbüchern fehlt sein Name daher meist überhaupt, und auf die Idee, eine Retrospektive seines Gesamtwerks zu veranstalten, wird so leicht auch keiner kommen. Als Editor hat er vielleicht sogar was gegolten, aber noch mehr galt es als inopportun, ihn zu beschäftigen, und da man ihn nicht beschäftigen konnte, hat er letztlich auch in diesem Metier nichts gegolten. Wo denn das Kuriosum bleibt? Also gut, gehen wir noch einen Schritt weiter. Es ist ausgerechnet einer der brutalsten und abgebrühtesten Produzentenhaie Hollywoods gewesen, der ihm das Arbeiten überhaupt erst ermöglicht hat, der sein Mentor und Mäzen geworden ist. Ohne Philip Yordan kein Lerner! Aber nur, wer vor nichts zurückschreckt, schreckt auch davor nicht zurück, einen Mann für sich arbeiten zu lassen, der alles kann, aber nichts gilt. Und nur ein solcher Mann kann dafür garantieren, daß er auch weiterhin nichts gilt.

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Death and Mathematics wäre weder Dokumentarfilm noch Spielfilm geworden. Weder Fisch noch Fleisch, wie man nicht nur in Hollywood sagte. Noch erst recht etwas Aufgeweichtes, in alle Richtungen sich Wellendes dazwischen (»irgendwo« dazwischen). Lerner wollte etwas Definitives, was es noch nicht gibt, und seine Bestimmung war daher, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Unter den gegebenen Umständen auch seine Tragik. Was mit der spezifischen Institution Hollywood freilich weniger zu tun hat, als man gerne glauben (machen) möchte. Lerner filmt die Menschen so, als ob sie Dinge seien, und die Dinge so, als ob sie Menschen seien. Das klingt sehr nach Bonmot und Leerformel, ist aber mehr als das, ist fast schon die Wahrheit – wobei wichtig wäre, hinzuzufügen, daß dem bei Lerner kein Prinzip zur Seite steht. Schon als Lerner noch Dokumentarfilmer war, war er eigentlich weniger ein »Dokumentarist« als einer, der nur keine Fiktionen herstellen (oder noch genauer: auf Fiktionen aufbauen) mag. Der Wahrscheinlichkeiten verabscheut. Wenn Lerner unterscheidet, dann unterscheidet er nicht zwischen richtigen und falschen Einstellungen, sondern zwischen notwendigen und nicht-notwendigen. Daraus folgt eine Gratwanderung. Die Gefahr abzuwenden, die darin liegt, eine derart definitive Haltung durchzustehen, auch wenn man innerhalb der Industrie arbeitet, war Lerner fast stets (objektiv) unmöglich. Einer anderen Gefahr ist er offenbar zusätzlich verfallen – daß ihm das Gespür für das Mögliche getrübt ward oder gar abhanden kam. Das ist eine deformation professionelle. Und insofern war Lerner – beinahe – tatsächlich der einseitige und spinnerte Spezialist, als welcher er angesehen und ausgebeutet worden ist. Und dem Protagonisten seines einzig ihm kongenialen Films, dem – notwendig! – scheiternden Berufskiller aus Murder by Contract, verwandter und ähnlicher, als er selbst je nur hoffen oder fürchten konnte.

Denn was tat Lerner – oder besser: was tat er nicht –, als die Dinge, auch für ihn selbst, sich zu ändern begannen? Er änderte sich selbst nicht, auch wenn man es von ihm verlangte (was zumindest Respekt erheischt), er änderte aber auch seine Filme nicht, als seine Filme selbst es verlangten. Er blieb, anders gesagt, bei seiner einmal gewählten »Methode«, Filme zu machen, selbst dann noch, als er längst eingewilligt hatte, und keineswegs immer nur aus Not, wenn auch immer unter Zwang, Filme zu machen, die mit dieser seiner »Methode« einsichtigerweise nicht das geringste zu tun haben konnten. Da war der Mißerfolg vorprogrammiert, da war das Ende absehbar. Auch für Lerner selbst. So, wie der Killer Claude in Murder by Contract sehr viel früher weiß, als wir es auch nur ahnen, daß sein Ende unausweichlich sein wird. Und trotzdem – oder gerade deswegen – macht er weiter. Begeht, wenn man so will, Selbstmord. Was soll er auch sonst tun? Alternativen gab es vielleicht sogar, wenn er sie suchte, aber er hat sich einmal entschieden, und darum gibt es keine, und darum sieht er sie erst gar nicht.

Zum Beispiel. Es bedarf eines spezifischen Talents (das kein individuelles, sondern ein kollektives ist, weshalb es dabei ist, auszusterben), Geschichten zu erzählen. Lerner beherrschte diese Fähigkeit schon zu der Zeit nicht, als es noch recht und billig schien, diese Fähigkeit zu verlangen, und als dieses Verlangen, wenigstens im Kino, weil so spät erst erfunden, noch mit einigem Recht gestellt werden konnte. Lerner hat niemals erzählt. Er hat sich gesträubt, zu erzählen. Er hat Geschichten demonstriert, und indem er sie demonstriert hat, waren es keine Geschichten mehr. Murder by Contract: ist keine Geschichte und braucht keine Geschichte. Die Geschichte, die einmal da war, ist gelöscht. City of Fear: ist schon eher eine Geschichte, und es gibt Komplikationen. Studs Lonigan: ist eine Geschichte, aber Lerner weigert sich, sie zu erzählen, und es gibt ein Desaster. Lerners Filme sind in genau dem Maße mißlungen, wie er unter den Bedingungen des Marktes gezwungen war – und/oder sich selbst zwingen zu müssen glaubte –, Charaktere aufzubauen, Kontinuitäten zu entwickeln, Inhalte zu vermitteln. Geschichten zu erzählen, aber ohne sie wirklich zu erzählen. Genau in dem Maße, das heißt: es zählen nur noch Cadragen, Einstellungen, Sequenzen usf., ihre immanente Notwendigkeit, aber unter Ausschluß der Notwendigkeit ihrer Verknüpfung miteinander; es zählen Montagen, bestimmte Schnitte, Blenden, Reißschwenks usf., aber es interessiert nicht, was sie verbinden oder trennen oder kontrapunktieren. Alles zersplittert in Einzelteile, ohne daß eine Notwendigkeit dafür einsichtig würde. Es wird offenbar, daß Lerner nicht nur nicht erzählen will, sondern daß er es nicht kann.

In Murder by Contract ist der Schauspieler Vince Edwards Objekt der Kamera und Partikel der Montage – ein Atom der Versuchsanordnung Lerners. Lerner treibt das so weit, und derart virtuos, daß dieser Schauspieler immer dann am besten wirkt, wenn er überhaupt nicht zu sehen ist. Dieses Paradox ist Teil der Versuchsanordnung. Lerner zeigt Vince Edwards ausschließlich dann, wenn es unumgänglich, das heißt, wenn es notwendig ist – wobei es nur ein weiteres Paradox dieses Spiels ist, daß das meistens der Fall ist. (Vince Edwards scheint Murder by Contract ähnlich zu dominieren wie Humphrey Bogart den Big Sleep [Tote schlafen fest; 1946; R: Howard Hawks]). Lerner eliminiert ihn, wo er nur kann, und wenn er ihn nicht eliminiert, dann demonstriert er ironisch, daß er es tun könnte. Oder kommentiert ironisch-sarkastisch, daß er es tun würde, wenn er nur dürfte. Er zerlegt ihn in seine Bestandteile, und diese Bestandteile seziert er noch ein weiteres Mal. Oder er stellt ihn in ein Bild, eine Folge von Bildern, in der alles andere, was zu sehen und zu hören ist, eine Uhr, ein Revolver, eine Sirene, ein Explosionslaut, eine Überblendung, ein Reißschwenk, ihn annähernd unsichtbar macht. Und annähernd unhörbar, selbst wenn er exzessive Monologe hält. Als Objekt der Kamera ist Vince Edwards eine Maschine (in der Rolle eines professionellen Killers). Als Partikel der Montage ist er eine potentielle Ellipse (in der Rolle eines perfekten Mörders, und in der Funktion eines vom allerersten Bild an Toten).

In dem wenige Monate später entstandenen City of Fear endet Vince Edwards nur noch so, wie er in Murder by Contract ist. Lerner läßt ihn als radioactive area enden, nicht weil das ein hübscher Gag ist, sondern weil er weiß, daß er den größten Teil des Films hindurch nicht konsequent genug gewesen war – daß er von Vince Edwards nicht viel mehr gezeigt hat (das heißt zu viel), als daß er der höchst unbedarfte Schauspieler ist, der er tatsächlich war. Denn anders als in Murder by Contract hatte der selber, und nicht Lerners Montage, den Protagonisten herstellen, das heißt, den aus dem Gefängnis entflohenen Verbrecher Steve Ryker spielen müssen. Bei murder by contract ist der Schluß des Films konsequenterweise das Schlechteste (wie tötet man jemanden, der schon tot ist, wie löst man jemanden auf, der nur aus Atomen besteht?), bei City of Fear konsequenterweise das Beste am Film.

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Lerner hat sieben Filme gedreht, zählt man nur die sogenannten Spielfilme. Nur diese zu zählen, zeugt von einer Haltung, die einem Mann wie Lerner nicht gerecht werden kann. Er war anderes, und auch mehr, als nur ein Spielfilmregisseur. Doch wir wollen das Spiel einmal durchspielen – auch Lerner hat es, in Grenzen, offenbar mitgespielt. Ansonsten hätte er keinen einzigen dieser Filme gemacht. Oder aber sehr viel mehr als nur diese.

Lerners erste vier Filme, Man Crazy, Edge of Fury, Murder by Contract und City of Fear, entstanden zwischen 1952 und 1958, waren Pleiten, schon bevor sie überhaupt gedreht waren. Für keinen Markt hergestellt, aber den Gesetzen des Marktes unterworfen. Second features, eine Konvention der Zeit, Waffe gegen das aufkommende Fernsehen. Werbegeschenke, kostenlose Dreingaben. Wobei sie weniger für die eigentliche Attraktion, den »Hauptfilm«, zu werben hatten, sondern für eine Abstraktion, für »das Kino an sich«. Es hat sie keiner ernst genommen, es hat sie keiner sehen wollen, es hat keiner von ihnen einen Profit erwartet, es hat sie keiner rezensiert. Lerners erste vier Filme leben von diesem teils glücklichen, teils fatalen Umstand – einerseits hätte es sie sonst niemals gegeben, andererseits hat sie eben niemand gesehen. Sie leben von diesem Umstand, aber sie sind nur sehr bedingt mit ihm identisch. Sowohl Murder by Contract wie auch Man Crazy durchbrechen das Schema der low budget pictures jener Jahre radikal. Sie variieren es nicht nur, mehr oder minder geschickt, sie benutzen es nicht nur für andere Zwecke, mehr oder minder geschickt, wie es die Filme etwa von Ray, Fuller, Mann, Boetticher usw. tun, sondern sie machen etwas ganz anderes. Die Kalten Krieger der diversen Komitees gegen un-amerikanische Umtriebe hätten schwerlich Filme auftreiben können, denen sie ihren Lieblingsstempel des »Un-Amerikanischen« mit größerem Recht hätten aufdrücken können. (Lerners Glück, daß die es den Produzenten, Rezensenten usw. gleichtaten und sich nur die »Hauptfilme« anguckten.)

Für Lerner vielleicht noch entscheidender war der Umstand, daß alle vier Filme außerhalb der »eigentlichen« Hollywoodproduktion entstanden (innerhalb derer sie allerdings wohl nie gemacht worden wären): low budget pictures nicht der großen Firmen selbst, sondern Auftragsarbeiten sogenannter »unabhängiger« Produzenten (wie z. B. Yordan) für sie. (Ein Film, Edge of Fury [1958; R: Robert J. Gurney, Irving Lerner], ist sogar rein privat finanziert worden und kam erst Jahre nach seiner Herstellung in einige wenige Kinos.) Ein Regisseur jedoch, dessen Filme sich keiner anschaut – keiner der vier, beispielsweise, ist von der New York Times rezensiert worden, und daher auch selten woanders –, ein solcher Regisseur hat, sofern er nicht als Angestellter einer der großen Companies arbeitet, nur sehr geringe Chancen, weitere Filme machen zu können, es sei denn, bei immer demselben Produzenten. Denn wo die Qualität des Produkts weitgehend irrelevant ist, ist das Kriterium der Weiterbeschäftigung ausschließlich die Effizienz, d. h. das reibungslose Funktionieren seines Herstellers/Regisseurs – welche sich nach und nach, wenn er Glück hat, möglicherweise, auch bei anderen Produzenten oder Studios herumsprechen könnte. Also auch aus diesem Grund ist so jemand wie Lerner bei jenem Manne hängengeblieben, dem schon erwähnten Philip Yordan, der ihn, zum Ausbeuten, zum Ausschlachten, als erster »entdeckt« hatte. Denn weder war Lerner so smart und geschäftstüchtig noch in seinen Ansprüchen so selbstgenügsam und bescheiden, als daß er andere zwingend auf sich hätte aufmerksam machen können. Das Administrieren, Organisieren und Propagandieren ist sein Fall nicht gewesen.

Ein weiteres Kuriosum am Rande. In den USA ist damals lediglich ein einziger der sogenannten »Kritikerpäpste«, der vornehmlich bei der Saturday Review schreibende Arthur Knight, auf Lerner und seine Filme aufmerksam geworden. Dafür aber hätten ihn beinahe die Cahiers du Cinéma »entdeckt«. 1953 berichtete Chris Marker für diese Zeitschrift enthusiastisch von den Dreharbeiten zu Man Crazy, und man hat Lerner in Paris fast schon als den Exponenten eines ganz neuen, eines »neorealistischen« Hollywood feiern wollen. Aber Man Crazy wurde zunächst in Großbritannien verboten, und kam dann natürlich auch nicht mehr nach Frankreich, genausowenig wie Edge of Fury oder City of Fear. Da sich der vermeintliche Newcomer überdies als Veteran beinahe 30-jähriger Filmarbeit herausstellte, als murder by contract 1960 endlich in Paris anlief, wurde dieser Film nach alldem zwar mit Erstaunen und Hochachtung, mehr noch aber mit Verwirrung registriert. Den im wahrsten Sinne des Wortes ex-zentrischen Lerner hatten längst andere, »zuverlässigere« Autorennamen aus dem Bewußtsein verdrängt.

Die anderen drei Filme (Spielfilme), die Lerner noch machen konnte, entstanden in den Jahren 1960, 1963 und 1969: Studs Lonigan (Kein Stern geht verloren), Cry of Battle (Kugeltanz nach Mitternacht) und The Royal Hunt of the Sun (Der Untergang des Sonnenreiches). Lerner hatte keine Chance und wußte sie auch nicht zu nutzen. Studs Lonigan war Lerners erster Film mit größerem Budget und einer Story, nach dem berüchtigten roman maudit der 30er Jahre von James T. Farrell, die ihm Aufmerksamkeit, geschäftlichen Erfolg und damit weitere Arbeit hätte garantieren können. Dem entgegen standen von Beginn an unüberwindlich die Umstände seiner Produktion. Rezensionen der Zeit streichen ebenso regelmäßig Regie und Montage heraus, wie sie die Gesamtkonzeption des Films verreißen. Und dies mit Recht, die Hybridität dieses Films rechtfertigt beinahe alles, was über ihn gesagt oder verschwiegen worden ist. Teils ist das Milieu der alten Warner-Brothers-Straßenfilme bestimmend, teils ein aus diesen sorgfältigst gefilterter und reaktivierter deutscher Expressionismus; die Montage ist manchmal die eines konventionellen Hollywooderzählfilms seiner Zeit, manchmal die eines Ostküstenexperimentalfilms, manchmal die eines europäischen Kunstfilms à la Les quatre cents coups (Sie küßten und sie schlugen ihn; 1959; R: François Truffaut) oder I vitelloni (1953; Federico Fellini) (Lerners eigene Anspielungen). Aufmerksam wird man daher auch eher in London als in Hollywood (Filmprojekte mit britischen Produzenten zerschlagen sich allerdings wieder). In Hollywood ist über Lerners Karriere mit diesem Film entschieden. Die beiden Filme, die noch übrigbleiben, sind daher nichts weiter als Gelegenheiten, ein weiteres Mal zu beweisen, daß er nicht der Mann ist, aus unmöglichen Stoffen (plus Drehbüchern, plus Produktionsbedingungen usf.) »publikumswirksame« oder »ernstzunehmende« Filme machen zu können. Cry of Battle hätte die Paramount gern mit John Ford und John Wayne gemacht, bei Lerner war dieses Sujet, selbst wenn er sich nicht noch zusätzlich auf ominöse Abschreibemanöver auf den Philippinen hätte einlassen müssen, daher in den falschen Händen. The Royal Hunt of the Sun war pures Theater (Peter Shaffer), ein metaphysisches Kammerspiel, von dem die Produzenten jedoch darauf bestanden, es zu einem Kolossalspektakel à la El Cid (1961; R: Anthony Mann) aufzublasen. Bei einem kommerziellen Erfolg des Films (der im Bereich des Möglichen lag, Lerner stand schon auf der Warteliste einiger Studios), hätte er weiterarbeiten können als Regisseur, wenn auch mit Sicherheit an den falschen Filmen, doch erwies er sich erneut als unfähig zu tun, was er einfach nicht konnte, einem narrativen Film durchgängige Plausibilität und Einheitlichkeit (welcher Qualität auch immer) zu verleihen.

Als er den kommerziellen Reinfall von Royal Hunt miterlebte, war Lerner schon über 60.

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Vieles ist noch ungesagt geblieben. Manches wird es bleiben müssen. Ich kann nichts über Filme sagen, die ich nie gesehen habe und von denen auch sonst keiner zu wissen scheint. Lerner ist schon über 40 gewesen, als er seinen ersten Spielfilm drehte – ganz offensichtlich fehlt da einiges! –, und als er seinen letzten drehte, da war es erst sein siebter – auch da fehlt offensichtlich einiges. Und was da »fehlt«, das hat mit einiger Sicherheit mehr dazu beigetragen, daß es in seinem Leben nichts zu »reüssieren« gab, als es die (Spiel-)Filme waren, die er tatsächlich gemacht hat. Doch wie darüber reden, wenn man zu wenig weiß. Wir werden uns mit Andeutungen zufriedengeben müssen, die nicht zufriedenstellen können. (Und wenn wir, geradezu magisch angezogen, sehr rasch wieder zu der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Hollywood also, zurückkommen werden – was heißt das? Ist es der Blick, der falsch oder verzerrt ist – oder heißt das, daß Lerner vielleicht doch an dem Selbstanspruch zu messen ist, der ihn 1946 von New York nach Kalifornien geführt hat?)

Murder by Contract

Also: Lerner kam über die Anthropologie und die Ethnologie zum Film. Er war nebenher Photograph gewesen, entschloß sich aber, da er glaubte, auf diesem Weg mehr über Film lernen zu können, sich vornehmlich der Montage zu widmen. Anfang der 30er Jahre wurde er Mitglied der KP-nahen Film and Photo League, arbeitete an Workers’ Newsreels usf. Er war Filmkritiker und Essayist der extrem linken New Masses und des New Theatre Magazine, zeitweise des kommunistischen Daily Worker und anderer Zeitschriften. Während seiner Mitarbeit bei den von Leo Hurwitz gegründeten Filmgruppen Nykino und Frontier Films verdiente er sich unter anderem ein Zubrot bei der sowjetischen Handelsagentur Amtorg. Sein einziger Regiefilm während dieser Zeit, A Place to Live von 1939, ist ein Film über die unwürdigen Wohn- und Lebensverhältnisse in den Slums von Philadelphia. Während des Krieges versammelte er als ausführender Produzent des Office of War Information Overseas (O.W.I) den Großteil der New Yorker Dokumentaristen um sich, drehte selber Filme, usf.

Auf die Schwarzen Listen der Kommunistenjäger ist Lerner, im Gegensatz zu den meisten seiner Freunde und Mitarbeiter, dennoch nicht gekommen. Das hat einen plausiblen Grund. Es gab einfach nichts, wovon man ihn hätte ausschließen können. Lerner war weder damals noch sonst irgendwann im unmittelbaren Sold eines der Studios gestanden (oder beim Fernsehen, beim Rundfunk usw.). Wenn es aber bloß gilt, einen nirgendwo hereinzulassen, dann bedarf es solch massiver Mittel nicht, wie es Blacklists und dergleichen sind, im Gegenteil, man macht dann nur auf ihn aufmerksam. Also sagt man was anderes. Man sagt, Projekte seien nicht realisierbar, man streut Gerüchte aus, jemand arbeite zu langsam, jemand arbeite unkooperativ, oder zu kooperativ, sei ein Streithammel, sei dies oder jenes. Gerüchte leben länger als Listen, wirken nachhaltiger und lassen sich schlechter bekämpfen. Zumal dann, wenn sie nicht nur auf die Ideologie zielen, die einer hat, oder von der man sagt, oder glaubt, daß er sie hat, sondern auch noch auf seine professionelle Kompetenz. Denn erst dann, und nur dann, betreffen sie seine gesamte Existenz rundherum. Ein Dalton Trumbo hatte es daher nicht allzu schwer, nach einer kurzen Zeit wieder an die gewohnten Pfründe zurückzukehren; ein Abraham Polonsky brauchte dazu schon 20 Jahre. Ein Irving Lerner dagegen, obschon von Hollywood »offiziell« nie getrennt, blieb zeit seines Lebens auf der »grauen« Liste und kam nach Hollywood gar nicht erst hinein.

Oder da war die Sache mit der Editors’ Union, die ich nicht von Lerner selbst erfuhr, sondern erst viel später, von seinen Freunden. Diese Gewerkschaft, ohne deren Zustimmung in Hollywood kein Meter Film geschnitten werden darf, hat bis kurz vor seinem Tode Lerners Beitritt kategorisch abgelehnt – weshalb also einer der besten Cutter Hollywoods bis dahin »offiziell« überhaupt nicht existiert hat. Und warum? Nein, nicht aus politischen Gründen. Es half vielmehr die Bestimmung, nach der jedes Mitglied dieser Union – es sei denn, er wurde »ehrenhalber« eingeladen – eine dreijährige »Lehrzeit« hinter sich gebracht haben mußte. Lerner, der das »Pech« hatte, sein Handwerk außerhalb von Hollywoodstudios gelernt zu haben, und nach fast 20-jähriger Erfahrung in diesem Metier begreiflicherweise keine Lust verspürte, noch einmal in die Lehre zu gehen (und vielleicht auch, weil er hoffte, die Union würde eines Tages nachgeben), brachte sein Handwerk stattdessen lieber den Filmstudenten der University of Southern California bei (Verna Fields, Haskell Wexler, Conrad Hall unter ihnen). Zudem wird er sich zu dieser Zeit kaum ernsthaft vorzustellen gewagt haben, von der Montage anderer Leute Filme bis hin zu seinem Tode abhängig zu sein. Auch von daher ist Lerners annähernd drei Jahrzehnte dauernde Zwangsbindung an Philip Yordan zu verstehen. Nur bei einem Mann wie ihm war es für ihn möglich, insgeheim und schwarz zu arbeiten. Und nur bei einem Mann wie ihm war es für ihn möglich, dafür auch noch einen Credit zu bekommen – und zwar als sogenannter »Supervising Editor«, weil im Sprachgebrauch der Hollywoodleute eher eine Art Büro- und Aufsichtsarbeit bezeichnend als eine konzeptive Handwerksarbeit. (Lerner ist erst kurz vor seinem Tode in die Union aufgenommen worden, die so lange »vergessen« hatte, ihn »ehrenhalber« einzuladen. Es heißt, Scorsese und Kubrick hätten einen Anteil daran gehabt. Für Scorsese, dessen Taxi Driver [1976] in manchem eine Art Hommage à Lerner zu sein scheint, saß er zum letzten Mal an einer Moviola. Während der Montage zu New York, New York [1977] erlag er einer Herzattacke.)

Wir sind bereit, deine Vergangenheit zu vergessen, vorausgesetzt – du bist es auch. Lerner war es nicht. Und ging weite Wege manchmal, das deutlich zu machen. Ging aber auch sehr kurze und direkte Wege. Er gehörte nicht zu den zahlreichen Hollywood-Linken und -Liberalen, die lautstark entrüstet die Verhöre und Bespitzelungen des House Un-American Activities Committee anprangerten, handelte aber auch dann noch (oder erst recht?), als alle anderen bereits kniffen. So war er zur Stelle, als die Hollywood Ten, kurz bevor sie ins Gefängnis gingen, für einen Film über sich eine Crew suchten, so leicht aber keine fanden. Die einen hatten Angst, und die Herren Opfer waren schließlich hochbezahlte Autoren und Regisseure, die von der »Technik« nichts verstanden. So war er zur Stelle, als schwarze Theaterleute und Literaten eine eigene Filmgruppe aufbauen wollten, und er drehte mit ihnen gegen den erbitterten Widerstand Wohlmeinender einen Film über die erste schwarze Universität der Staaten. Und Lerner war es auch, der für die Progressive Party bereit war, Wahlfilme zu drehen (einige der Kandidaten filmte Lerner in Gefängnissen), als es schon als Gipfel der Subversivität galt, sie überhaupt nur zu wählen. Usw. usf. Wie man sieht, war Lerner, das steht außer Zweifel, nicht sehr zimperlich, wenn es galt, sich selbst ein Bein zu stellen. Man muß nur zu wählen wissen. Behält man lieber den Kopf oben, auch wenn man dann stolpert, oder gar fallen mag, oder nicht? So simpel die Frage klingt, so schwer ist sie zu leben. Zwei kurze Geschichten gehören hierhin. Geschichten von Freunden von Irving. Die eine geht von Haskell Wexler. Politisch untendurch und beruflich non union member, also auch untendurch, ermöglichte ihm Lerner dennoch Arbeit – die Außenaufnahmen von Murder by Contract und City of Fear, von Studs Lonigan die gesamte Photographie. Lerner hatte für diesen Zweck Strohmänner engagieren müssen, die so taten, als ob, und an die zur Belohnung der Credit ging. Wäre der Deal aufgeflogen (und wie leicht konnte das bei dem Kameramann eines Films passieren), hätte Yordan von nichts gewußt, und Lerner, der selber, als Editor, schwarz arbeiten mußte, die Verantwortung getragen. Die andere geht von Ben Maddow, Lerner erzählt sie selbst, seinem langjährigen Freund und Mitarbeiter. Gegen seine eigenen elementarsten Berufsinteressen verstieß er ihn, als dieser nach Jahren des Widerstands gegen die Kalten Krieger der »un-amerikanischen Komitees« zum Schluß doch noch kollaborierte. Schon City of Fear ohne Maddow ging nicht mehr, Studs Lonigan erst recht nicht. Lerner hatte gewählt.

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Ein Mann, der einen Freund wegschickt, nur weil dieser einmal eine »schwache Minute« gehabt haben mag, und der zu seinem eigenen Schaden auch professionell von dem nichts mehr wissen will; ein Mann, der selber kaum Arbeit kriegt und im Geheimen zu arbeiten gezwungen ist, sich zusätzlich aber noch einen Kameramann aufhalst, den er bei jeder Gelegenheit verstecken muß, da es den offiziell ja gar nicht gibt – das Bild rundet sich, vielleicht. Ein Intellektueller mit Rückgrat in Hollywood (oder sonst einer beliebigen Industrie, Bürokratie), aber ohne spektakuläres Künstlerflair, welchem man nachsehen kann, obendrein ein Handwerker noch, der es ablehnt, sich als Hexenmeister voll Genie und Wahnsinn aufzuspielen. Ein Mann, der sich lieber mit brotloser Kunst befaßt und monatelang an Minutenfilmen bastelt, als sich vor die Chefetagen der Studios oder an der Seite eleganter Miethuren in teure Restaurants und Bars zu setzen. Ein Mann, der, statt auf den Knien zu rutschen, damit er mal in einem Regiestuhl sitzen kann, lieber im Verborgenen schuftet, der Projekte verkaufen will, aber nicht sich selbst. Ein Dokumentarist, der Spielfilme machen will, aber Spielfilme nicht spielfilmhaft, sondern dokumentarisch. Das ist immer einer, dem man nichts verzeiht. Das ist immer einer, dem man nichts gönnt. Und den man vergißt, damit man sein ruhiges Gewissen behält.

Es ist sicherlich daher kein Zufall, wenn die beiden vielleicht konträrsten Leute, deren Weg er je für längere Zeit kreuzte, im nachhinein ein analoges und sehr nachdenkenswertes Urteil über ihn fällen. Der Produzentenhai Philip Yordan sagt: Lerner hätte nicht dem kommerziellen Geschäftsbetrieb ausgesetzt werden sollen, man hätte ihm Gelegenheit geben müssen, seine unbestrittenen Fähigkeiten unter der gemeinnützigen Schirmherrschaft von Universitäten, Stiftungen und sonstigen Institutionen des öffentlich-rechtlichen Lebens ausüben zu können. Der unabhängige Filmemacher Leo Hurwitz sagt: Lerner hätte eine Umgebung gebraucht, die ihn angespornt und unterstützt hätte, anstatt ihn zu behindern, er hätte in den 30er Jahren sowjetischer Filmemacher sein sollen, möglicherweise wäre es ihm in dieser Umgebung gelungen, die Art Filme zu verwirklichen, die ihm vorgeschwebt hat.

Zu beidem ist nicht viel zu sagen. Oder sehr viel. Ein Film jedenfalls wie Murder by Contract wäre niemals entstanden.

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Tod und Mathematik. Auch darin ist Lerner dem Protagonisten von Murder by Contract verwandt, daß man zwar seinen Professionalismus, nicht aber ihn selbst hat mieten können. Und wie dieser verrechnete sich auch Lerner in der Annahme, das könne lange gut gehen. Der Filmemacher, der sich dem Markt nicht völlig verschließen kann, oder will (was allerdings nur bedeutet, daß er sich einen anderen, einen »Meta-Markt« schaffen muß, wie Straub, oder wie viele Mitarbeiter dieser Zeitschrift), dann aber bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen sich weigert, ist zwangsläufig dem Berufskiller verwandt, der darauf besteht, nur auf seine Weise zu töten, und der über Leichen nur dann geht, wenn es seine eigenen sind.

Murder by Contract: Kathie Browne und Vince Edwards

Die Lakonik, die Radikalität, die Einsamkeit der besten und gerade der besten amerikanischen Filmhelden geht immer deshalb irgendwie auf, nicht weil es das versöhnliche Happy-End gibt, sondern weil, allem zum Trotz, und ob sie nun außerhalb oder innerhalb von ihm stehen, sie sich stets auf einen Raum beziehen (können) und ihm zugeordnet sind, dessen Wertigkeit eindeutig definiert und abgesteckt ist. Der Westerner, Gangster, Pirat, Cop und Flieger der Hollywoodfilme bewegt sich wie ein Satellit um einen sozial und/oder moralisch eindeutig definierten Planeten, und seine Lakonik, Radikalität, Einsamkeit kann (zumindest!) im Rahmen dieser vorausberechenbaren Definitionsbahnen anstandslos akzeptiert werden. Die Lakonik, die Radikalität, die Einsamkeit des Protagonisten von Murder by Contract geht in gar nichts auf. Er bewegt sich auf nichts zu, und er bewegt sich von nichts weg, was derart bekannt/akzeptiert wäre, daß davon nicht mehr ausdrücklich gesprochen werden muß. Noch wird erzählt, noch wird gezeigt, wovon nicht gesprochen wird. Der Killer Claude stellt sich nicht außerhalb (um etwas zu beweisen; um Rache zu üben; um etwas aufzudecken oder zu korrigieren oder von etwas zu profitieren), er ist es einfach. Und er ist es ohne jeden Bezugspunkt. Sein Ende ist ein notwendiges, nicht abwendbares, nicht, weil es die Konvention Hollywoods so verlangt hätte, sondern weil die Praxis einer Gesellschaftsform, die neben vielem anderem Hollywood hervorgebracht hat, dies ist. Und weil es so ist, braucht es nicht (braucht nichts) bewiesen zu werden. Es ist evident. Claudes Bezugspunkt liegt nicht nur außerhalb dieses Films, er liegt außerhalb des Films überhauptMurder by Contract. Fast doch noch ein kongenialer Titel.

Die einzig denkbare Steigerung zu dem Protagonisten dieses Films hätte der Protagonist eines ungedrehten Films von Irving Lerner sein können. Die Sicherheitsphobien des Kalten Kriegs haben ihn, haben Schlimmeres verhütet. Der Protagonist von Death and Mathematics wäre die Atombombe gewesen.   

Wolf-Eckart Bühler                                                       

Zuerst erschienen in: Filmkritik, Nr. 290, Februar 1981, S. 55–66, in der er immer als WEB zeichnete. Es handelt sich um Heft 2 über Irving Lerner, Heft 1 erschien als Filmkritik Nr. 289 im Januar 1981. Der Wiederabdruck folgt unverändert dem in alter Rechtschreibung verfassten Original.

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