Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

non fiction, kurz – Sachbücher, September 2024

Sachbücher, besprochen von Joachim Feldmann (JF) und Alf Mayer (AM):

Nadine Akerman, Pete Langman: Spycraft. Tricks and Tools of the Dangerous Trade from Elizabeth I to the Restoration
Helen Fry: Women in Intelligence. The Hidden History of Two World Wars
Peter Kern: Dorfansicht mit Nazis
Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina
Julia Lovell: The Opium War. Drugs, Dreams and the Making of Modern China
Jacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht
Dick Marty: Furchtlose Wahrheiten. Betrachtungen eines Staatsanwalts unter Personenschutz
Jochen Staadt: Die deutschen Todesopfer des Eisernen Vorhangs 1948-1989. Ein biografisches Handbuch
Isabel Wilkerson: Kaste

Die Besprechungen erscheinen in den nächsten Tagen.

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»Wartet, bis der Blinde ihn gesehen hat«

(AM) Ohne dieses Buch, dem der Autor Andreas Pflüger eher zufällig begegnete und das ihn – buchstäblich Augen blicklich – in den Bann schlug, wäre die beste Krimi-Trilogie, die je in Deutschland geschrieben wurde, vermutlich nie entstanden. Das wiedergefundene Licht. Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand ist die Autobiografie von Jacques Lusseyran (1924-1971), der im Alter von acht Jahren durch einen Unfall erblindete. Er lernte, mit dem zu leben, was eine unserer Urängste ist. Andreas Pflüger: »Achtzig Prozent unserer Sinneswahrnehmung ist visuell. Kaum ein Sehender vermag sich auszumalen, dass es möglich sein könnte, das zu kompensieren. Aber Lusseyran war einzigartig. Tief berührend, in einer Sprache voller Kraft und Poesie, schildert er, wie er nach einer Zeit nicht nur lernte, die Behinderung anzunehmen und mit ihr zu leben, nein, er lässt den Leser teilhaben an dem, was er »das Glück der Blinden« nennt. Für mich als Sehenden war das ein unglaublicher Gedanke: die Welt ohne Augen wahrzunehmen und einen Gewinn daraus zu ziehen.«

Lusseyran gelang das so gut, dass er nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis zum Kopf einer Resistance-Zelle in Paris wurde. Das mit erst neunzehn Jahren. Sein Urteil galt für die Resistance-Kameraden als unfehlbar. Wenn neue Kandidaten sich um Aufnahme in die Zelle bewarben, wurden sie zu ihm geführt, damit er allein ein Gespräch mit ihnen führte – unter vier Augen, wenn man so will. Man muss sich die Gefahr bewusst machen. Immer gab es die Bedrohung, dass es sich um einen Doppelagenten der Nazis handelten könnte. Hier, an dieser Stelle der Biographie, so Andreas Pflüger bei uns hier, »las ich den Satz, mit dem meine Romanheldin Jenny Aaron geboren wurde. Der mir so gut gefiel, dass ich ihn stibitzte. Lusseyrans Leute sagten: »Wartet, bis der Blinde ihn gesehen hat.« Urplötzlich dachte ich daran, eine blinde Polizistin ins Zentrum eines Thrillers zu stellen, denn mit ihrer Fähigkeit, zwischen den Worten zu tasten, das Verborgene zu erfühlen, dem Schall von Lügen zu lauschen, könnte diese Frau jedem Sehenden überlegen sein.«

Nicht umsonst heißt es bei Lusseyran: »Wenn es einen Bereich gibt, in welchem die Blindheit uns zum Experten macht, dann ist es der Bereich des Unsichtbaren.« So kam Jenny Aaron in die Welt, die blinde Elite-Polizistin und Heldin von Pflügers Romanen »Endgültig«, »Niemals«, »Geblendet«. 1943 fiel Jacques Lusseyran in die Hände der Gestapo,  wurde nach Buchenwald deportiert. Er überlebte. Später wurde er Schriftsteller und Professor für Literatur in Frankreich und den USA.  Wichtige Werke von ihm sind: »Das wiedergefundene Licht«, »Das Leben beginnt heute«, »Ein neues Sehen der Welt, »Bekenntnis einer Liebe«. Und vor allem dieses Buch: »einzigartig, tiefberührend, voller Kraft und Poesie« so noch einmal Andreas Pflüger.

Jacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht. Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand (Et la lumière fut, 1953). Übersetzt von Uta Schmalzriedt, überarbeitet von Tobias Scheffel. Klett-Cotta, Stuttgart 2024 (zuerst 1966). 336 Seiten, gebunden, 25 Euro.

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Entscheidend, um das moderne China zu verstehen

(JF) Am Anfang stand eine spiritistische Sitzung im Jahre 1910. Der  ehemalige Bankangestellte Arthur Henry Ward, als Schriftsteller bislang nachhaltig erfolglos, konsultierte zwecks Karriereberatung ein Ouija-Brett. Und die Antwort lautete: „C-H-I-N-A-M-A-N“. So zumindest erzählte es Ward später. Da hieß er längst Sax Rohmer und war als Schundautor weltberühmt geworden. Seine bekannteste Kreation, der chinesische Superschurke Dr. Fu Manchu, trat erstmals 1912 in Erscheinung und treibt bis heute ihr Unwesen in der populären Kultur.

Für Julia Lovell, die Rohmer zehn Seiten ihrer Geschichte der Opiumkriege des 19. Jahrhunderts widmet, verkörpert das Fu Manchu-Phänomen auf beispielhafte Weise jenen anti-chinesischen Rassismus, der sich seit den 1870er Jahren unter dem Schlagwort von der „Gelben Gefahr“ in der westlichen Welt auszubreiten begann. Und zwar ohne Kenntnis dessen, was in China tatsächlich geschah. Wie sagte noch Sax Rohmer: „Ich habe mir mit Fu Manchu einen Namen gemacht, weil ich nichts über die Chinesen weiß.“

Das lässt sich von Julia Lovell nicht behaupten. Die 1975 geborene, an der Universität London lehrende Sinologin hat gleich mehrere Werke über die chinesische Geschichte verfasst, zuletzt „Maoism. A World History“, das im letzten Jahr auch auf Deutsch erschienen ist. (Maoismus. Eine Weltgeschichte, Suhrkamp). The Opium War hingegen ist bislang unübersetzt geblieben. Und das ist schade, denn, soweit ich es überblicken kann, gibt es keine deutschsprachige Geschichte dieser für das Verständnis  des modernen Chinas so entscheidenden Geschehnisse. Allgemein geläufig ist die Vorstellung, dass Großbritannien in zwei Kriegen (1839-1842, 1856-1860) China zwang, das Importverbot für indisches Opium aufzuheben. Akte imperialistischer Barbarei, zweifelsohne. Dass die Geschichte der Opiumkriege tatsächlich um einiges komplexer ist und sich nicht in dekolonialistisch inspiriertem Schwarzweiß zeichnen lässt, kann man in Lovells magistralem Werk nachlesen. Und da die Autorin eine ausgezeichnete Erzählerin ist, gestaltet sich die Lektüre ebenso kurzweilig wie instruktiv. Ausgesprochen spannend wäre allerdings ein überarbeitetes letztes Kapitel, das die aktuelle Entwicklung chinesischer Politik in den dreizehn Jahren, seitdem das Buch erschienen ist, in den Blick nehmen würde.

Julia Lovell: The Opium War. Drugs, Dreams and the Making of Modern China. Picador, London 2011. 456 Seiten, 12,99 Pfund.

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Die Waffen der Spione

(AM) Nichts weniger als die Ursprungsgeschichte der Abteilung Q bei James Bond, sei dieses Buch, findet der britische Thrillerautor Charles Cumming. 20 Seiten praktischer Lektionen aus der „School of Spycraft“ beschließen den Textteil des Historienwerks: Wie man Siegel fälscht, welche Methoden zu Herstellung und Nutzung unsichtbarer Tinte und von Giftmischungen es so gibt. „Archival detective, author, biographer, cryptographer, editor, spymistress, Prof in early modern lit & culture“ nennt die im niederländischen Leiden lehrende Nadine Akkerman sich auf ihrem Twitter-Account. 2018 hat sie die erste Studie zur Rolle weiblicher Spione im 17. Jahrhundert vorgelegt („Invisible Agents: Women and Espionage in Seventeenth-Century Britain“, Oxford University Press). Jetzt hat sie sich zusammen mit Pete Langman für die Arbeitsweisen und vor allem die Techniken der frühen Spione interessiert. Spycraft. Tricks and Tools of the Dangerous Trade from Elizabeth I to the Restoration kommt als auch physisch recht schwergewichtiger Band daher. Grund dafür ist das fototaugliche recht schwere Papier, die Qualität der 60 Farbabbildungen ist exzellent.

Das frühe moderne Europa war ein Tummelbecken von Spionen, Verschwörern und Agentenjägern. Nur wer die neuesten Techniken beherrschte, vermochte in dem gefährlichen Gewerbe zu überleben. Von reichhaltigem Archivmaterial gestützt, erfahren wir von damaligen Techniken zwischen Glasgow und Venedig für Fälschung und Betrug, Verkleidung und Maske, Giftanschläge, Geheimschriften, Codes und Geheimbotschaften sowie von verborgenen Waffen, Dolchen, Stilettos („kleiner Stahl“ genannt), von Handtaschen, Verstecken, Tricks und Lügen und was ein Spion sonst so im Ärmel hat. Manch historischer Konflikt erscheint so in neuem Licht, außerdem ist das alles auch eine Technologie-Geschichte. Womit wir wieder bei Q sind.

Nadine Akkerman, Pete Langman: Spycraft. Tricks and Tools of the Dangerous Trade from Elizabeth I to the Restoration. Yale University Press, New Haven du London 2024. 348 Seiten, Hardcover, mit 60 Farbbildern, 20 GBP.

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