Film, Verbrechen und andere Mittel – Max Annas über „Verräter“ von Karl Ritter.
Ein nationalsozialistischer Kriminalfilm. Es gibt Verbrechen und eine Reihe ausgebuffter Verbrecher, die sie begehen. Es gibt Polizei, deren Aufgeregtheit zwar stets gezeigt, aber deren Arbeit nicht wirklich transparent wird im Sinne von: Wie kriegen die eigentlich ihre Investigation zusammen? Und es gibt natürlich Opfer. Das ist, wir schreiben das Jahr 1936, das deutsche Volk. Die Verräter aus dem Titel sind Spione, die an Flugzeugtechnik interessiert sind, aber auch an Informationen über Infrastruktur. Ihre genaue Motivation wird nicht klar, eventuelle Auftraggeber auch nicht. Deutlich hervorgehoben wird hingegen, dass das, was sie tun, fürchterlich schadet. Und ein einziges Mal wird auf der Dialogebene erwähnt, worum es sich bei dem Film wirklich dreht. Als die Rede auf ein Wasserwerk kommt, das die Spione auszukundschaften gedenken, verweist der Direktor auf den möglichen Kriegsfall. Wie das Werk zu schützen sei, gehe aus den Dokumenten hervor, die die Spione in die Hand kriegen wollen. Wie gesagt, wir sind im Jahr 1936. In Berlin finden die Olympischen Spiele statt. Und bis zum Münchner Abkommen dauert es noch zwei ganze Jahre.
Herr Morris ist die entscheidende Figur im Spiel. Willy Birgel gibt sie schleichend und mit nach hinten gelegtem Wallehaar. Seiner Frisur wird noch eine wichtige Bedeutung zukommen. Unter den vier Spionen ist er der einzige, der einen Namen trägt, der nicht grunddeutsch klingt. Morris ist Kopf der Gruppe, Charmeur alter Schule und durchaus durchsetzungsfähig, wenn es nötig ist. Gemeinsam mit seinen Verbündeten saugt er Informationen ab und bezahlt dafür ordentlich.
Die direkten Gegenüber der verräterischen Gruppe sind ein Ingenieur, der seine gierige Geliebte und ihre Wünsche bezahlen muss, Reisen, Schmuck, ein Wagen, all die Klischees. Der Mann muss Unterlagen beibringen über Motoren-Prototypen und das Wasserwerk, dessen Direktor er gut kennt. Hans, der Panzersoldat, und Hilde, beide blond und doof, gehen Herrn Morris ganz besonders auf den Leim. Des Spions Interesse am Notizbuch des Soldaten erschließt sich nicht vollends, scheinbar findet er Anwesenheits- und Urlaubszeiten des Uniformierten darin. Ein anderer Kumpan erschleicht sich unter falschem Namen Zugang zu einer Kampfflugzeugfirma und schraubt am neuen Modell eines Sturzbombers herum. All das, Flieger, Wasserwerk, Motoren und Kasernen-Timetable, ist Ziel der Bande mit vier Köpfen. Das Drehbuch schreibt ihnen große Talente zu.
Mehr Tempo als ein „Tatort“ – und auffällig viel Jazz
„Verräter“ hat mehr Tempo als ein durchschnittlicher Tatort, muss – unter Beteiligung der Wehrmacht – ein sehr teurer Film gewesen sein, hat einen soliden Aufbau mit klassischem Showdown und, für einen nationalsozialistischen Film, eine auffallende Vorliebe für Jazz. In zwei Szenen werden ausführlich Bands gezeigt, die zum Tanz aufspielen und klar erkennbar auf Musik setzen, die damals schon mindestens sehr kritisch bewertet wurde. In der ersten Szene verführt Herr Morris des Ingenieurs Geliebte Marion. Die Big Band beendet einen Song, der immerhin so hot ist, dass der Trompeter seinen hohen Ton bis zur Atemlosigkeit halten darf. Der Beat ist schnell, die Paare bewegen die Ellenbogen beim Tanz ausgelassen, und Birgel / Baarová trinken an der Bar überdeutlich einen Manhattan.
Noch ein weiteres Mal wird Jazz gegeben, in jedem Fall etwas sehr Verwandtes. Dieses Mal am Mittag in einer Freiluftgaststätte vor den Toren Berlins. Ein Quintett ist es hier, Piano, Schlagzeug, Bass, Altsaxofon und Violine, der Sound getragener, trotzdem deutlich erkennbar, das ist keine Operette, eher angelegt an zeitgenössischen Swing, etwas temporeduziert zwar, und ganz normale Leute tanzen dazu – Foxtrott. Herr Morris trifft hier Hans und Hilde, so blond wie arglos, sie Rezeptionistin in seinem Hotel, er der Soldat mit dem Notizbuch. Am Ende ist das Büchelchen gestohlen, vom namenlosen vierten Mann der Spione.
Der erste und am nächsten liegende Gedanke ist sicher richtig. Im Nazifilm wird mit Jazz das Umfeld des Agenten Herrn Morris beschrieben. So verdorben wie er selbst ist auch sein akustischer Rückraum. So einer hört eben auch Jazz. Da, wo so was gespielt wird, trifft er sich mit der ebenfalls verdorbenen Geliebten des Ingenieurs (dunkel und nicht zu retten, bald allerdings im richtigen Leben die Geliebte von Joseph Goebbels, Lida Baarová). Und an einm ähnlichen Ort versucht er, auch die beiden Blonden Hilde und Hans (nur naiv und unerfahren, stets in Gefahr) zu manipulieren, sie auf sein synkopisch unreines Niveau herabzuziehen. So einfach, so klar.
Kann Jazz denn Sünde sein? – Bei den Nazis ja!
Interessanter ist der zweite Blick. Jazz war damals sehr unter Druck. Eine afro-amerikanische Musik, in Deutschland oft unter jüdischer Beteiligung gespielt – das war etwas, dass das Regime im Grunde gern verbannt sehen wollte. Im Radio kam Jazz noch bis 1939 sporadisch zum Einsatz, in einzelnen Clubs wurde er noch während des Kriegs gespielt. Vielleicht ist es der Unterschied zwischen Club und Kuchengarten, zwischen Nacht und Tag, zwischen hot und domestiziert, der die eine Szene so deutlich von der anderen trennt. Im Jazzclub ist der Jazz zu Hause, die Menschen, die ihn goutieren, sind Staatsfeinde. Im Kuchengarten hingegen liegen die Dinge anders, und da beginnen die Probleme der Nazis – und machen wir uns nichts vor, „Verräter“ ist ein beinern-böses Naziwerk.
Das Problem, das sich dem Regime stellte, war folgendes: Jazz war nicht mehr totzukriegen. Ein großer Teil der Unterhaltungsmusik war durchsetzt von Versatzstücken aus dem Baukasten der Jazzorchester. Die Songs, Verzeihung, Lieder der Nazi-Ikone Zarah Leander sind vier Teile Jazz und ein Teil Operette. In Ausnahmefällen war der Jazzanteil sogar noch höher, zu hören etwa in „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Die Band im Hintergrund? Swing.
Und so ist der Jazz im Garten möglicherweise gar kein Jazz. Im Nazisinne gedacht. Sondern einfach nur Unterhaltungsmusik für ganz normale Deutsche. Der Beat? Steady. Die Violine kein typisches Jazzinstrument. Der Saxofonist quält sein Horn nicht bis zur Atemlosigkeit. Und ganz normale Deutsche tanzen zu ihr, ganz normale Deutsche wie Hans und Hilde treffen sich hier mit Herrn Morris. Hans und Hilde werden noch eine ganze Weile brauchen, bis sie die sinistren Motive des Herrn Morris durchschauen. Obwohl er sich für alle viel zu sichtbar für das Büchlein des Panzerschützen interessiert. Hilde schaut derweil einfach woanders hin.
Karl Ritter war in Nazideutschland einer der am meisten beschäftigten Regisseure und Produzenten. Seine Spezialität waren Militär- und Durchhaltefilme auf der einen („Hitlerjunge Quex“ als Prozent 1933) und Lustspiele auf der anderen Seite. Je länger der Krieg dauerte, desto weniger lustig wurden allerdings seine Filme. Nach dem Krieg durfte er, als Mitläufer eingestuft, zunächst nicht mehr arbeiten, versuchte in Argentinien als Regisseur Fuß zu fassen, kam zurück in die BRD, drehte noch zwei letzte Filme und kehrte dann nach Argentinien zurück, wo er 1977 im Alter von 88 Jahren starb.
Die Polizei ans Militär verraten
„Verräter“ war auf der ideologischen Linie, die Ritters Werk auszeichnet. Patriotisch, militaristisch, das Volk in Gefahr. Der Kriminal- oder Polizeifilm war als Genre nicht etabliert in Deutschland, obwohl es einige ernstzunehmende Versuche im jungen Tonfilm gegeben hatte, Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ und „Das Testament des Doktor Mabuse“ natürlich, aber auch Hochbaums „Razzia in St. Pauli“. Aber hier, in „Verräter“, im Jahr 1936, nimmt niemand die Polizei und ihre Arbeit wirklich ernst. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Leute in der Filmindustrie zu jenem Zeitpunkt schon daran gewöhnt hatten, dass die gängige Lesart von Polizeitätigkeit nicht mehr war, Übeltätern hinterherzulaufen. „Deutsche Menschen begingen keine Verbrechen,“ schreibt Georg Seeßlen über die Polizei im frühen Nazifilm, „in den von Blockwarten kontrollierten Häusern gab es keine Geheimnisse (…)“.
Und mehr noch: „Verräter“ verrät die Polizei. Nämlich ans Militär. Wo die Bullen nur Stichwortgeber sind, zeigen die Soldaten, vor allem die höheren Grade, echten Durchblick und nach vorn gerichtetes Engagement von der Sorte des schicken-sie-alle-verfügbaren-Flugzeuge-hinterher. Und in der Tat sehen wir, was folgt, wenn Militärs Befehle geben. Panzer rollen, Schiffe bringen sich in Stellung, Flugzeuge bomben, was das Zeug hält. Das Militärballett am Ende des Films weist den Weg. Alle Gattungen unterwegs. Nennen wir es vorsichtig kriegsvorbereitende Propaganda im dünnen Genregewand.
Kommen wir zur Frisur von Willy Birgel in seiner letzten Szene. Die Bande der vier ist aufgeflogen, der Pilot in der Flugzeugfabrik bei einer spektakulären Luftverfolgung ums Leben gekommen, Nummer drei und vier sind auf der Flucht. Der Ingenieur hat schwer verletzt gesungen, die beiden dummen Blonden haben sich noch rechtzeitig offenbart. Polizei stellt Herrn Morris in der Wohnung des Ingenieurs. Im Hut taucht er nun auf, betritt die Wohnung, hinter der geschlossenen Tür splittendes Glas. Dann der Schnitt auf eine Waffe vor Herrn Morris Füßen und das Bild öffnet sich. Den Hut hat er nicht mehr auf dem Kopf. Dafür ist seine Frisur durcheinander geraten. Locken, nicht mehr in Form nach hinten gelegt, wallen nun um seine Ohren.
Das deutsche Kinopublikum jener Zeit wusste sehr genau, wer gemeint war, wenn einem dunkelhaarigen Mann Locken um die Ohren fielen.
Verräter; Regie: Karl Ritter; Drehbuch: Leonhard Fürst; Deutschland 1936; 92min; Kamera: Günther Anders; Musik: Henri Rene; DarstellerInnen: Willy Birgel, Paul Dahlke, Lida Baarová, Irene von Meyendorff.
Zu den Filmkolumen von Max Annas bei CrimeMag geht es als Überblick hier.
Bisher erschienen:
„In jenen Tagen“ von Helmut Käutner
„Nachts auf den Straßen“ Rudolf Jugert
„Man Without a Star“ von King Vidor
„Day of the Outlaw“ von André De Toth
„Frozen River“ von Courtney Hunt
„J´ai pas sommeil“ (Ich kann nicht schlafen) von Claire Denis
„Outrage“ von Ida Lupino
„Fury“ von Fritz Lang
„Nada“ von Claude Chabrol und die Bücher von Jean-Patrick Manchette
„Executive Action“ von David Miller
„Devil´s Doorway“ von Anthony Mann
„Acı“ von Yilmaz Güney
Deprisa, deprisa“ von Carlos Saura
„La città si difende“ von Pietro Germi.