On Dangerous Ground (14). Film, Verbrechen und andere Mittel
Max Annas über „„In jenen Tagen“ von Helmut Käutner
Es ist einfach, zu sagen: Das würde man heute so nicht mehr machen. Die Rahmenhandlung von „In jenen Tagen“ wirkt steif und für die Bühnenkante ausgedacht. Der Karl und der Willy demontieren in einem Hinterhof ein Automobil. Eingeführt in einem Schwenk von beinah 360 Grad landet die Kamera auf den beiden jungen Männern, die den alten Opel Kadett ausschlachten. Der Schwenk zeigt Trümmer, ein versehrtes Hamburg und versehrte Menschen, der Einbeinige doppelt die Ruinen. Versehrt sind auch Karl und Willy, wenn auch nicht am Leib. Vor allem Karl spiegelt die Schäden, die der Krieg angerichtet hat, in seinem nachdenklichen Gesicht. „Na,“ fragt dann auch Willy. „Denkste wieder?“ und gibt Karl eine Gelegenheit, an den Menschen zu zweifeln. „Es gibt keine Menschen mehr,“ ist seine Antwort. Willy fragt noch einmal nach: „Du ist doch gebildet. Was issen Mensch?“
Das ist der Moment, in dem sich das Automobil einmischt. Beginnt, seine Lebensgeschichte zu erzählen und von seinen Begegnungen mit den Menschen. Die beiden Handwerker kriegen das nicht mit. Sie tun ihre Arbeit und fragen sich für uns, das Publikum, was die kleinen und großen Versehrtheiten, die der Kadett aufweist, zu bedeuten haben. Da sind wir auch schon mitten in der Lebensgeschichte des Automobils. „Als ich jung war,“ erzählt uns der Wagen dann mit der Stimme des Regisseurs Helmut Käutner, „glaubte ich, mein Leben würde 1000 Jahre dauern, würde köstlich sein. Aber es war nicht so köstlich, und es wurden nur zwölf Jahre daraus.“
„In jenen Tagen Geschichten eines Autos“, so der alternative, längere Titel des Film, komprimiert die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 auf sieben Episoden, in denen die Rolle des Kadett mal mehr und mal weniger bedeutend ist. In der ersten, die am 29. Januar 1933 beginnt, steht Sybille (Winnie Markus) zwischen Steffen (Werner Hinz) und Peter (Karl John). Die drei leben in einer Welt von Alleen, Pferdehof und Überseeschifffahrt, wer kann sich damals schließlich ein Auto leisten? Peter ist es, der Sybille den Wagen als Liebesbeweis schenkt. Steffen liebt Sybille auch und möchte schon am Folgetag mit ihr nach Mexiko abreisen. Sybille wirft ihm vor, über sie verfügen zu wollen. Erst einen Tag später, als sie mit Peter vom Auto aus den Fackelzug der Nazis in Berlin beobachtet, begreift sie, dass Steffen einer von jenen ist, die jetzt weg müssen. Sie wird nun versuchen, Steffens Schiff noch zu erreichen.
Der Kadett erlebt von hier aus einen sozialen Abstieg, und einen physischen. Großbürgertum, Künstler, Ladeninhaber, dann eine Episode mit Figuren, die sozial nicht genauer situiert werden, aber auf jeden Fall besitzend sind, erster Kriegseinsatz in Russland, zweiter Kriegseinsatz schon versehrt in der Heimat, schließlich als Wrack in einer Scheune, das zum allerletzten Mal zum Leben erweckt wird. Auffällt, dass Käutner und sein Ko-Autor Ernst Schnabel bis in die sechste Episode hinein, die in einer Autowerkstatt spielt, Milieus meiden, die sich über Lohnabhängigkeit definieren. Wer hat schon, siehe oben, die Kohle, sich ein Auto zu leisten? Auf der anderen Seite ist es lediglich eine Frage der Imagination, den erzählerischen Faden und die arbeitende Klasse zusammenzubringen. Das hätte dem Film ganz sicher nicht geschadet.
Der Künstler (Hans Nielsen) in der zweiten Episode ist ein Komponist, und ein Moderner. Mit seinem Freund, ein Museums- und Bach-Mann, diskutiert er leidenschaftlich über Ästhetik, mit dessen Gattin geht er ins Bett. Die Tochter der Familie ist es, die den Dingen auf die Schliche kommt. In dieser stärksten Episode von „In jenen Tagen“ kann sie das Geheimnis kaum bei sich behalten. Sie trägt den Kamm der Mutter in den Händen bei einem gemeinsamen Ausflug, das Beweisstück für Lüge und Betrug, und ist fest entschlossen, Mutter und Komponist zu brüskieren. Doch während sie vergeblich versucht, die Aufmerksamkeit der Erwachsenen zu erlangen, begreift sie, dass eine andere Sache schwerer wiegt als ihre Empörtheit. Dem Komponisten nämlich droht ein Berufsverbot. Wie das Redenwollen des Mädchens im Schweigen der Erwachsenen untergeht, ist stark und bewegend. Die Kamera von Igor Oberberg schwebt über den vier Figuren und sucht nach den brüchigen Verbindungen zwischen ihnen.
Drei der Episoden spielen mit der Idee von deutschem Widerstand. In der ersten flieht Steffen, von dem wir nicht wissen, was er beruflich tut, und ebenso nicht, welche politische Geschichte er hat, Hals über Kopf aus Deutschland. Was wir kennen, sind Aspekte seiner sozialen Stellung. Er fährt ein großes Auto, er kann sich eine Überfahrt nach Mexiko leisten und auch, Sybille ein weiteres Ticket zur Verfügung zu stellen. In der vierten Episode suchen Dorothea (Käutners Gattin Erica Balqué) und ihre Schwester Ruth (Eva Gotthard) nach Dorotheas Ehemann Jochen, der verschwunden ist. Sie finden ihn nicht einmal im SS-Gefängnis (ich glaube allerdings nicht, dass Leute tatsächlich kurz bei der SS anklopften und nach ihren Angehörigen fragten). Als Ruth Dorothea beichtet, dass sie mit Jochen eine Affäre hatte und mit ihm das Land verlassen wollte, erzählt sie auch, dass Jochen Angst vor politischer Verfolgung und Verhaftung hatte. Dorothea wirft Ruth aus dem Wagen, erfährt später, dass Jochen nicht nur verhaftet, sondern längst ermordet ist. Sie ruft Ruth an und weist sie selbstlos an, den Plan, den sie mit Jochen geschmiedet hatte, umzusetzen und Deutschland sofort zu verlassen.
Wo Geschichte aus bürgerlicher Sicht erzählt wird, kann auch der Widerstand gegen die Nazis nicht anders aufgestellt sein als bürgerlich. Die Vorstellung, dass dieser Widerstand in erster Linie von den Besitzenden ausging, scheint da deutlich durch. Damit wird die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland vorweggenommen, die die Attentäter des 20. Juli 1944 zu Repräsentanten des besten denkbaren Deutschland stilisiert. In der sechsten Episode formulieren Käutner und Schnabel das auch aus. Die Automechanikerin Erna (Isa Vermehren) will die Baronin von Thorn (Margarete Haagen), für die sie einst gearbeitet hatte, vom Land in die sicherere Stadt fahren. Unterwegs werden sie von einem Polizisten kontrolliert, der feststellt, dass die Baronin die Mutter eines der Attentäter vom 20. Juli 1944 ist. Er zwingt beide zur nächsten Polizeiwache. Die Kollektivhaftung, der die Baronin hier unterworfen wird, war tatsächlich das Schicksal der Schauspielerin Isa Vermehren, die mit ihrer Familie verhaftet wurde, nachdem ein Bruder als Diplomat zu den Briten übergelaufen war. Sie überlebte die Konzentrationslager Ravensbrück, Buchenwald und Dachau.
Überrascht war ich beim ersten Schauen des Films, das Käutner und Schnabel in der dritten Episode Bilder für eine jüdische Perspektive suchten. Ida Ehre spielt in ihrer ersten Filmrolle eine Frau, die sich nach 32 Jahren von ihrem Mann scheiden lassen will. Sie will ihm nicht zur Last fallen. Das Geschäft, Bilderrahmen, gehört ihr, ist aber nach ihrem Mann benannt. Doch der Gatte (Willy Maertens) folgt ihrem Plan nicht. Nach der Nacht des 9. November 1938 bringen sie sich gemeinsam um. Teilnahmslosigkeit in der Menge, die die Laube umringt, in der sich das Paar das Leben genommen hat. Ach so, ja, wenn die Jüdin war. Die bringen sich eben um.
Das Wissen um die Dinge ist den Episoden eingeschrieben. Es erwischt die Leut halt. Der Großbürger Steffen muss weg. Der Komponist darf nicht mehr arbeiten. Die Juden bringen sich um. Die Politischen werden umgelegt. Es erwischt die Leut alle nacheinander. Und dann ist Krieg, und es erwischt die Leut auch. „In jenen Tagen“ bietet keine Analyse vom Aufstieg der Nazis an, von der Etablierung ihrer Macht, und nicht viel vom Opportunismus der Vielen, aber doch wenigstens Bilder davon, dass, was auch immer geschah, nicht im Geheimen passierte. Das war eine Menge für einen Film, der so kurz nach dem Krieg entstanden war. Auch weil sich Käutner nicht auf das Niveau Wolfgang Staudtes hinabließ, der in „Die Mörder sind unter uns“, dem ersten deutschen Nachkriegsfilm von 1946, die guten Deutschen versammelte, die vielen, um sie gegen einen untergetauchten Verbrecher vorgehen zu lassen, einer von wenigen. „In jenen Tagen“ gibt sich da deutlich weniger naiv und zeichnet die Zeit zwischen 1933 und 1945 als eine von Wissen und Nichtverhaltenwollen. Der Titel hingegen, „In jenen Tagen“, macht den Eindruck, als redete der Film von einer Zeit, die längst im Archiv zu bestaunen sei, in jenen Tagen, vor so, so langer Zeit.
Der stärkste der sogenannten Trümmerfilme
Und naiv ist schließlich die Schlussepisode. Noch jede der vorhergegangenen hatte mit Exil, Verbot und Tod geendet, da musste eine erzählerische Versöhnung her. Marie und Josef. Ein Stall. Ein Baby. Stroh. Praller geht es nicht. Marie (Bettina Moissi) und Säugling auf der Flucht aus dem Osten. Kradfahrer Josef (Carl Raddatz) auf der Suche nach einem Ersatz für das kaputte Motorrad. Marie und Josef kommen sich näher. Er repariert den alten Kadett, der in der Scheune schon zur letzten Ruhe gebettet worden war, ignoriert seinen Befehl, elbaufwärts zu fahren und bringt Marie und Kind nach Hamburg. Dann wird er von einer Streife erwischt. Einer der drei Soldaten bedeutet ihm, zu laufen und schießt in die Luft. Irgendwer muss schließlich damit anfangen, den Nachkrieg einzuläuten. Wir haben ein kleines Kind, keimende Liebe, mehrfache Befehlsverweigerung, Käutner und Schnabel auf der Suche nach Bildern, die Hoffnung und Aufbruch formulieren. Sie krönen den Film mit dem umgekehrten Schwenk vom Beginn. Weg von Karl und Willy, die jetzt schon die Vergangenheit repräsentieren. Statt der Versehrten sind nun Kinder im Bild, denen die Kamera folgt. Und nach einem letzten Schnitt endet der Film auf ein paar sprießenden Zweiglein, die die Trümmer unscharf im Hintergrund verschwinden lassen. Möglicherweise lese ich zu viel in diese Unschärfen hinein, erwarte mehr von einem Film, der schon viel gibt. Damals formal Ungewöhnliches mit seinen sieben Episoden. Politisch mit seiner Klarheit darum, was alles sichtbar war in den Jahren des Nationalsozialismus. Aber der stärkste der sogenannten Trümmerfilme nimmt auch vorweg, wie Geschichte in den beiden Deutschlands im Kino verhandelt werden sollte. Die Rolle der Armen und Arbeitenden haben sie im Westen einfach der DDR und der DEFA überlassen.
In jenen Tagen; Deutschland 1947; 111 Min; Regie: Helmut Käutner; Drehbuch: Helmut Käutner, Ernst Schnabel; Kamera: Igor Oberberg; Musik: Bernhard Eichhorn; DarstellerInnen: Winnie Markus, Werner Hinz, Karl John, Hans Nielsen.
Bisher in der Filmkolumne von Max Annas erschienen:
Nr. 13: „Nachts auf den Straßen“ von Rudolf Jugert
Nr. 12: „Man without a Star“ von King Vidor (Kirk Douglas zum 100.)
Nr. 11: Day of the Outlaw, von André De Toth
Nr. 10: „Frozen River“ von Courtney Hunt.
Nr. 9: Claire Denis – „J´ai pas sommeil“ (Ich kann nicht schlafen). Hier bei CrimeMag.
Nr. 8: Ida Lupino – „Outrage“
Nr. 7: Fritz Lang – „Fury“
Nr. 6: Claude Chabrol – „Nada“ und die Bücher von Jean-Patrick Manchette im Kino
Nr. 5: David Miller – „Executive Action
Nr. 4: Anthony Mann – „Devil´s Doorway“
Nr. 3: „Acı“ von Yilmaz Güney
Nr. 2: „Deprisa, deprisa“ von Carlos Saura
Nr. 1.: Pietro Germi – „La città si difende“