Geschrieben am 15. August 2016 von für Crimemag, Film/Fernsehen, Kolumne

Kolumne: Max Annas: On Dangerous Ground (9)

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Film, Verbrechen und ungleiche Mittel

Heute: Claire Denis – „J´ai pas sommeil“ (Ich kann nicht schlafen). Was bringt Leute zusammen? Und hält sie beieinander?
Von Max Annas.

Der Höhepunkt von Claire Denis´ drittem Spielfilm ist die Festnahme eines Serienmörders. Das ist nichts grundlegend Besonderes für einen Film, in dessen Zentrum – unter anderen Geschichten – der reale Fall von Thierry Paulin steht, der zwischen 1984 und 1987 mindestens achtzehn alte Frauen überfallen und ermordet hat, um ihnen Geld und Schmuck zu nehmen. In den letzten Minuten des Films also wird Camille, gespielt von Richard Courcet, von einer Polizeistreife aufgegriffen. Damit sind die Geschichten, die Denis hier erzählt, beinah abgebunden.

Die Szene beginnt früher. Ein Club, auf der Bühne der Banjospieler Kali aus Martinique. Er performt mit seiner Band einen seiner bekanntesten Songs, „Racines“. Auf der Bühne steht auch Théo, gespielt von Alex Descas, an der Violine. Théo lebt davon, Regale zu bauen, und ist Camilles Bruder. Während die Band spielt, blickt Théo ins Publikum, erblickt Camille. Die beiden sind in dieser Sekunde das, was sie einander während aller Begegnungen waren, die Denis in „J´ai pas sommeil“ zwischen ihnen zeigt. Die emotionale Distanz zwischen ihnen ist größer als die räumliche. Die beiden wirken, als lebten sie in unterschiedlichen Welten.

Das ist auch das Thema des Films. Was bringt Leute zusammen? Und hält sie beieinander? Ist es Liebe? Théo und Mona (Béatrice Dalle) streiten sich über beinah alles. Wo wollen sie leben, Paris oder Martinique? Wer kümmert sich um den kleinen Sohn? Voneinander lassen können sie nicht. Daiga (Ekaterina Golubeva), die neu ist in Paris, ordnet sich ein in Ex-Sowjet-Kreisen. Sie findet ein alte Großtante (Irina Grjebina), die sie hierhin und dorthin schleppt und schließlich den Satz sagt: „Wir helfen einander. Wir sind Slaven.“ Camille zieht mit schwulen Freunden durch die Stadt, verschwendet Kohle, als würde er sie drucken und führt eine zerbrechliche Beziehung mit Raphael (Vincent Dupont). Das Wort Liebe fällt tatsächlich, aber Denis macht sie nicht hinter den Gesagten fühlbar. Die normalen Franzosen führen derweil ein komisches, nicht wirklich zu durchschauendes Leben. Ein Paar, das sich streitet und schlägt, Théo hört sie durch die Wand und sieht sie im Flur. Er blickt sie an mit dem Interesse, das im Zoo Tieren zuteil wird.

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Dies ist kein „Film policier“

Eingezogen in diese miteinander verwobenen Geschichten ist die um einige Jahre nach vorn verlegte Mordserie. Sie taucht auf in Wortfetzen, in den Nachrichten, aber auch real in der Nachbarschaft, wenn die Großtante Daiga zu einem Bekannten bringt, in dessen Haus gerade die Leiche einer alten Frau gefunden wurde. Oder wenn die beiden gemeinsam zu Ninon gehen, die einen Kurs anleitet, in dem alte Frauen lernen, sich zu verteidigen. In Ninons Hotel wird Daiga dann auch eine Anstellung finden. Hier reiben sich die Geschichten aneinander. In Ninons Hotel haben Camille und Raphael ein Zimmer. Daiga beobachtet die beiden durch ein offenes Fenster, ihre nackte Umarmung, steht später teilnahmslos neben ihnen an der Rezeption, nichts deutet darauf hin, dass die Grenzen zwischen dem gierigen Leben des Paares und der scheuen Neugier der Außenseiterin je überschritten werden könnten.

Polizei kommt auch vor in diesem Film, in dem die Mordserie die losen Fäden zusammenhält. Zwei uniformierte Männer im Helikopter schnattern und gackern die erste Filmminute voll, erhalten Raum, bis der Titel erscheint über dem Bild von Nebel und einer Stadtautobahn, auf der dann Daiga Paris entern wird. Zwei andere, Alkohol im Blut, belehren Daiga kurz darauf, dass man in Frankreich nicht auf dem Zebrastreifen parkt. Sie tauchen später noch einmal auf, um Daiga mit ihre schieren Anwesenheit zu belästigen. Mit denen hat es Claire Denis also nicht. Das ist kein „Film policier“.

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denis6Camille verlässt in der oben angerissenen Szene den Club, ohne den Blick Théos zu suchen. Er geht eine spätabendliche Straße entlang, an offenen Läden und Kneipen vorbei. Während das Bild geschnitten ist zwischen seinem Aufbruch im Club und dem Schritt auf die Straße, läuft „Racines“ weiter, wir hören Banjo und Band, Kalis Stimme und auch Théos Violine, der seinem Bruder gerade näher ist als Camille ihm. Die Kamera verfolgt Camille nun überraschend lange, insgesamt sind es ungeschnittene 40 Sekunden, was am Rhythmus des Films zerrt. Das Aufregende an dieser Störung: Während der Kamerafahrt ändert sich die Perspektive, ohne dass Denis dafür einen Schnitt oder eine Veränderung der Kameraposition benötigt. Die Irritation, die wir empfinden, während wir Camille dabei zusehen, wie er Schritt vor Schritt setzt, wird bald zu der Frage, wessen Blick wir gerade einnehmen. War Camille nämlich beim Verlassen des Clubs noch in unserem Fokus, hat mitten in der Fahrt jemand unseren Blick gekapert, ihn uns weggenommen. Und wir wissen also noch in der unveränderten Perspektive, dass es nun eine andere Person ist, die auf Camille blickt. Aufgelöst wird das mit einem Schnitt auf einen breiten Mann, der sich aus dem Rückfenster eines Autos lehnt. Er ist es, der Camille betrachtet. Und sein Blick spiegelt, anders als der unsere vorher es konnte, Triumph. Darin ist er nicht allein. Vor ihm im Auto sitzt ein anderer Mann, dessen Augen ähnliche Siegesgewissheit formulieren. Der Uniformierte am Steuer unterstreicht nur, was wir ohnehin schon ahnen. Das ist die Polizei. Auf Camilles Spuren.

Das europäischen Selbstverständniss, umdefiniert

Denis geht an viele Orte, die wir kennen. Die Mordserie hat maßgeblich in Montmartre stattgefunden, enge Straßen, Kneipen, bürgerliche und nicht so bürgerliche Wohnhäuser. Théo dagegen wohnt am Péripherique, das stetige Brausen der Autos auf dem Ring ist die angemessene akustische Dreingabe zum Wohnen im Silo. Wir kennen diese Orte und all die, die so ähnlich aussehen aus dem französischen Kino. Aus den Polizeifilmen der 80er das innerstädtische Paris, aber auch von Jacques Rivette, in den Filmen von Eric Rohmer haben wir die hochgezogenen Ränder gesehen, so wie bei Godard auch, wenn auch in den 60ern. Denis dreht weniger die Orte selbst um als mehr ihr Personal. Dass ihre Figuren aus Martinique kommen und aus Osteuropa, bedeutet eine recht komplette Umdefinierung europäischen Selbstverständnisses. Ihre Figuren kommen nämlich nicht aus Martinique oder aus Osteuropa nach Paris und treffen da auf jene rat- wie konturlosen französischen Individuen, die schmerzhafte Rituale hinter verschlossenen Türen begehen. Das wäre die alte Haltung, zu problematisieren, dass es zwischen einem alten Normal und einem neuen Nochnichtangekommen eben Probleme gibt. Das ist das reaktionäre Narrativ, hier ist „der Ausländer“ das Problem – selbst dann, wenn die Schondagewesenen eigentlich die Bösen sind, wie bei Fassbinder und „Angst essen Seele auf“ und eigentlich die gesamte Geschichte des Kinos über. Des europäischen Kinos jedenfalls, denn die Geschichte des nordamerikanischen Kinos schenkt uns mit dem Western komplett andere Bilder von Ankommenden.

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Europas Farbe verändern

Nicht nur in „J´ai pas sommeil“ verändert Denis Europas Farbe, Europas Hautfarbe. Ihre Filme sind eine Abkehr der Logik, dass Europa weiß ist und bleiben wird, ein neues Bild vom drinnen ohne draußen. Ihre karibischen und afrikanischen Figuren, die Hahnenkämpfer in „Sans fout la mort“ etwa (Descas und Isaach de Bancholé) oder Théo und Camille oder der Zugführer, den wieder Descas in „35 Rhum“ spielen, sind singulär im europäischen Kino, im weißen europäischen Kino, weil Ihr Schwarzsein nicht allein die Probleme definiert, die sie im Leben haben. Sie sind einfach Leute mit Problemen, um die herum Denis und ihr Drehbuchpartner Jean-Pol Fargeau ein Drama bauen. Camille ist ein einsamer Mann. Und er ist ein Mörder. So ist das eben. Dass er ein Mörder ist, hat nichts damit zu tun, dass er ein Schwarzer Mann ist. Im europäischen Kino war das damals, der Film ist jetzt schon 22 Jahre alt, ungesehen. Unvorstellbar gar. Immer noch ist das normale, weiße europäische Kino dominiert vom Normal des weißen Alltags, der unterbrochen wird, oder gestört, durch Ankommende von Sonstwoher. Jeder einzelne Flüchtlings-Tatort in Deutschland, wir sind jetzt schon beim TV, erzählt diese Geschichte erneut und erneut und erneut. Dagegen geht Claire Denis an.

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In der Szene, in der Camille von der Polizei gestellt wird, ist er dann wieder zu sehen, wie er geht, Schritt für Schritt, vorbei an Läden und Restaurants. Nach diesem Bild, in dem ein enger Ausschnitt des Autos zu sehen war, in dem drei Männer sitzen, einer von ihnen uniformiert, die Männer, die unseren Blick auf Camille gestohlen hatten, ist dieser näher an uns gerückt, statt hüftaufwärts sehen wir von der Seite nur noch Kopf und Brust. Wir sehen ihn nun gemeinsam mit den Polizisten, die ihn gleich festnehmen werden. Wir teilen den Fokus mit ihnen, uns bleibt nicht anderes übrig. Wir verschmelzen für diesen Teil der Kamerafahrt mit der Staatsmacht.

Es gibt da einen winzigen Augenschlag Camilles vor dem nächsten Schnitt, der irritiert. Da ist eine Bewegung des Kopfes, zum Auto hin, in dem die Polizisten sitzen. Doch lange bevor wir die Gewissheit haben, dass er den Wagen bemerkt, nimmt uns der Schnitt heraus aus der Bewegung. Stattdessen haben wir einen freien Blick auf das Auto, das nun deutlich als Streifenwagen zu erkennen ist, mit Lämpchen auf dem Dach. Erst nach dem nächsten Schnitt, der Wagen wird gebremst, die beiden Polizisten in Zivil steigen aus, stirbt „Racines“ in einem raschen fade-out.

Wie lösen Denis und Fargeau diese Szene auf? Die beiden Polizisten kommen Camille auf dem Trottoir entgegen. Als sie auf seiner Höhe sind, bleiben sie stehen, fragen nach seinen Papieren. Sie geben sich nicht als Polizisten zu erkennen, wir gehen davon aus, dass Camille wahrgenommen hat, dass die beiden aus dem Streifenwagen geklettert sind. „Nein,“ sagt Camille, „die hab ich nicht bei mir.“ Die Polizisten nehmen ihn mit.

denis poster frz 3453277969360denis plakatSo wie unter dem Vorspann ist zum Abspann wieder Daiga zu sehen. Sie verlässt die Stadt im selben alten Automobil, mit dem sie zuvor nach Paris eingefahren war. Im Gepäck hat sie sehr viel Geld, das sie aus dem Hotelzimmer Camilles genommen hat. Sie war ihm gefolgt, nachdem sie ein Fahndungsplakat gesehen hatte, das auf den Aussagen einer Überlebenden erstellt worden war. Sie hatte Camille erkannt. Der Schnitt, der von Camilles Festnahme direkt zur Plünderung seiner Barschaft führt, könnte sagen, dass Daiga ihn verraten hat und ihr Wissen um seine Festnahme schnell ausnutzen wollte. Auf der anderen Seite wird Zeit in diesem Schnitt nicht formuliert. Was also wissen wir schon? Der Film teilt dieses Geheimnis nicht mit uns. „J´ai pas sommeil“ bricht so ungefähr alle Regeln, an die wir uns gewöhnt, in denen wir es uns gemütlich gemacht hatten. Eine Antithese zu Noir und gleichzeitig der beste Film des Genres.                               Max Annas

J´ai pas sommeil; Regie: Claire Denis; Drehbuch: Claire Denis, Jean-Pol Fargeau; Frankreich, Schweiz 1994; 110min; Kamera: Agnes Godard; Musik: Jean-Louis Murat, John Pattison; DarstellerInnen: Yekaterina Golubewa, Alex Descas, Richard Courcet, Béatrice Dalle.

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