Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Der Designer Marc Newson

Das Düsenzeitalter ins Wohnzimmer geholt – mit Körpersilhouette

Alf Mayer blättert im Werkporträt des Industriedesigners Marc Newson

Alison Castle (Hg.): Marc Newson. Works 84-24. Verlag Taschen, Köln 2024. Hardcover, Format 29,2 x 39 cm, Gewicht 5 kg. 496 Seiten, 150 Euro. – Verlagsinformation: www.taschen.com. Es gibt auch eine Limited Edition von 1.000 Exemplaren: Hardcover im Schuber, 33 x 44 cm, 9.79 kg, 610 Seiten, 1.500 Euro.

Stanley Kubrick hätte ihn als Produktionsdesigner angestellt. Sie hätten sich gemocht. Viele seiner ausgefeilten, immer perfekt daher kommenden Entwürfe hätten ohne weiteres in 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM Platz. Der Film ist von 1968. Da war der Australier Marc Newson erst fünf Jahre alt. Er war eben immer schon retro-futuristic. Und bei der Endfertigung seiner Objekte mindestens so perfektionistisch wie der Meister. Kubrick puschte alle an seinen Filmen Beteiligten stets bis zum Limit. Marc Newson tut das auch – mit seinen Materialien.

Auf der Webseite des Verlags Taschen gibt es ein Video, das die Herstellung einer handgefertigten Lederbox aus einem einzigen Stück Rindsleder zeigt. Das Leder wird dazu über einen Prägeblock gespannt, passgenau geformt und dann das Covermotiv, eine große stilisierte Sanduhr, eingeprägt. Aufgeklappt hat in dem Artefakt genau die XXL-Limited Edition von »Marc Newson Works 84-24« Platz. Eine Buchhülle, wie es noch keine gab. Newson selbst hat sie entworfen und den faszinierenden Herstellunsgprozess optimiert.

Er hat auch schon für andere XXL-Bücher aus dem Taschen Verlag hochwertige Hüllen und zugehörige Buchtische entworfen, etwa für den Sumo-Band von David Hockney, für Monografien von Annie Leibovitz oder David Bailey. Beim Prachtband »Ferrari« wurde es eine aufklappbare Präsentationsbox aus Aluminium, einem Ferrari-V12-Motor nachempfunden – unser Freund und Autor Peter Münder, jüngst verstorben und ein großer Motorsportfreund, war außer sich vor Begeisterung. Für die Luxusedition von Norman Mailers »Moonfire« (meine Besprechung hier) entwarf Marc Newson einen an eine Mondfähre erinnernde Präsentationstisch samt Buch-Tabernakel, dessen Oberfläche maßstabsgerecht eine echte Mondkrater-Landschaft präsentierend. Zu dieser »Lunar Rock Edition« gehört je ein Stück Mondgestein in einer Kapsel – Näheres (nur) auf Anfrage, Preis Stand 2017: 185.000 bis 480.000 Euro (kein Druckfehler).

An Preisschilder sollte man bei der Hälfte der Design-Objekte von Marc Newson besser nicht denken, sondern einfach nur das Geld dafür haben. Zum Beispiel für eien 2014 gestaltete Jagdflinte von Beretta, in die er kunstvollste japanische Tattos eingravieren ließ. Viele seiner Objekte sind Unikate oder nur in limitierter Auflage zu haben. Zum Beispiel Newsons ikonische »Lockheed Lounge«, das teuerste Sofa der Welt, von dem es nur 15 Stück gibt. 2015 wurde ein Exemplar für 3,7 Millionen Dollar versteigert. Das Möbel ist auch als Miniatur zu haben. Die kostet zum Beispiel im Vitra Design Museum ganze 1.215 Euro.

»Lockheed Lounge«, Miniatur

Das teuerste Möbelstück der Welt entstand in Newsons Frühzeit als Interpretation einer Récamiere aus Aluminium im Stromlinienstil der 1930er Jahre. Den Prototyp, LC1 genannt, eine fließende Chaiselongue in Aircraft-Anmutung, zeigte er 1986 bei einer Ausstellung in Sydney. Die Designwelt war vom Hocker, buchstäblich.

Wie er es von Surfboards kannte, hatte Newson die Form aus einem Schaumstück geformt, als Obermaterial glasverstärkten Kunststoff genommen und ihn mit Aluminiumblechen überzogen. Um die Aluminiumplatten zu formen, hämmerte er sie auf auf einem Leder-Sandsack. Dann wurden sie genietet, was den Eindruck einer Retro-Flugzeugtragfläche erweckte. JU 52 oder DC-3, die silbern glänzende Zeit der Luftfahrt. Alu-Nostalgie. Etwas zu unbequem, um sich wirklich darauf hinzulegen, aber ultra chic, keine Frage. Daraus wurde dann das Möbelstück »Lockheed Lounge«. Newsons Ruf war als phänomenaler Industriedesigner war besiegelt. Er holte das Düsenzeitalter ins Wohnzimmer.

An die Entwürfe und Lehren von Wilhelm Reich angelehnt, entwarf er einen »Orgone Chair«. Oft zeigt sein Werk biomorphe Formen, hat eine Körpersilhouette. Überhaupt ist Newson in vielem vermutlich ein verkappter Reich-Schüler geworden. Der forschte nach jener universalen Lebensenergie, die er »Orgon« nannte, wußte um den Einfluss der Geometrie auf die menschliche Psyche. Zentraler Forschungsgegenstand war dabei, was er als „Orgonbiophysik“ bezeichnete. »Bione« waren für ihn »Gebilde des Übergangs vom Anorganischen, Unbewegten zum Organischen, Bewegten und Kultivierbaren«. Newsons sozusagen ewigkeitsgültige, oft gerundete und augenschmeichlerische Formen transportieren davon etwas – es ist ihr Appeal. Auch eine Form von Pop Art.

Die von Alison Castle besorgte Werkausgabe ist chronologisch aufgebaut und nach Kategorien geordnet: Möbel, Objekte, Interieurs und Architektur, Transport sowie Schmuck und Uhren. In ihrem knackigen Vorwort empfiehlt sie, nicht nur auf die Bilder zu schauen, sondern auch die zugehörigen Texte zu lesen. Manchmal verstecke sich eine dem antiken Erfinder Dädalus würdige Herkulesarbeit hinter einem dann simpel erscheinenden Objekt. »The fruit of a Daedalian effort«, heißt es unvergleichlich elegant im englischen Original. (Das Buch ist in Englisch.) Skizzen, Zeichnungen und Fotografien stellen die Entwürfe vor, dazu gibt es Zitate und Informationen zum Entstehungsprozess. Marc Newson, der vorne im Buch völlig unglamourös in einem Arbeitsoverall auftaucht, hat hierbei immer selbst Hand mit angelegt, sich stets die besten Handwerker und Manufakturen gesucht – und sie alle oft an ihre Limits gebracht. Sein Ziel war es immer, an die Grenzen des Materials zu gehen. Sei es Email, Glas, Edelmetall, Rohr, Leder, Neopren, Damaszenerstahl, Marmor, Tuch oder Holz. Das sind spannende Geschichten, richtige Abenteuer …

Für kaum eine Designaufgabe, die in den letzten 40 Jahren an ihn herangetragen wurde,  fand Marc Newson nicht eine besondere Lösung. Sei es es als Unikat, in limitierter Auflage oder als Massenprodukt. Dies vom Flaschenöffner bis zur Megayacht. Blättern wir ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit seinen Werkkatalog auf:

Air Line Lounge
Armatur
Aschenbecher
Auto
Badewanne
Bar
Besteck
Bierzapfanlage
Boot
Brillen
Champagnerkühler
Cognacflasche
Fernglas
Flaschenöffner
Flugzeug
Flugzeuginterieur
Föhn
Füllfederhalter
Jagdflinte
Kamera
Kleiderbügel
Koffer
Lampen
Liegen

Medaillen
Megayacht
Meisterschaftsgürtel
Messer
Mobiltelefon
Raumschiff
RennbootRestaurant
Rucksack
Salzstreuer
Schreibtische
Schuhe für Raumfahrer
Sanduhr
Seifenhalter
Sessel
Sexspielzeug
Siegestrophäe
Sonnenbrille
Taschenlampe
TeeserviceToiletten
Trinkgläser
Türklinke
Türstopper
Uhren
Wasserkocher

Modulare Formen, praktische Handhabung, elegant-simple Silhouetten und exquisite Werkstoffe sind ihm wichtig und bei der Entwicklung ein Reiz. In der Garage seines Großvaters in Sydney machte er die ersten Basteleien, im Zeitschriftenladen am King’s Cross, wo er jobbte, hatte er Zugriff auf alle Designzeitschriften der Welt. Mit 19 begann er, am Sydney College of the Arts Schmuckdesign und Bildhauerei zu studieren. Er wollte wissen und lernen, »wie man Dinge herstellt«. Seine ersten Stücke waren einige Armbänder aus Aluminium (das zu seinem bevorzugtem Material werden sollte) und, wie er sagte, »das Ergebnis einer Liebesaffäre mit der Myford Super 7-Drehmaschine«.

Als Multimillionär oder als Stanley Kubrick könnte man sich ganz und gar in einer nur von Marc Newson entworfenen und durchgestylten Welt bewegen. Aus diesem Film würde man gar nicht mehr wieder auftauchen. Aber das hier ist nur ein Buch. Glück gehabt.

Abgerundet wird es durch einen visuellen Index von Newsons Gesamtwerk (sehr praktisch), eine Chronologie seines Lebens, eine Bibliographie und eine Ausstellungsgeschichte. Die Möbel übrigens in Kubricks Film 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM, vor allem die Hilton Hotel Lobby in der Space Station Five, stammen vom französischen Designer Olivier Mourgue und aus der sogenannten Djinn-Serie (Djinn Chauffeuse und Djinn Pouf, 1964/65), 1968 mit dem First International Design Award des Institute of Interior Designers ausgezeichnet. Kubrick hatte Bilder von der Möbelserie im Magazin »Queen« gesehen.  

Alf Mayer

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