Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Alf Mayer schaut »J. EDGAR« von Clint Eastwood

Zur Legendenbildung kaum geeignet

Alf Mayer über den vielleicht seltsamsten Film von Clint Eastwood

J. EDGAR. Regie Clint Eastwood. USA 2011. Buch: Dustin Lance Black. Kamera: Tom Stern. Schnitt: Joel Cox, Gary D. Roach. Mit: Leonardo DiCaprio, Josh Hamilton, Naomi Watts, Geoff Pierson, Armie Hammer, Judy Dench, Cheryl Lawson, Adam Driver (Debut). Länge: 137 Min.

Ob es Zufall war, dass J.EDGAR genau zehn Jahre nach 9/11 am 9. November 2011 in die amerikanischen Kinos kam? Eastwoods Bio-Pic über den erfolgreichsten amerikanischen Terroristen- und Verbrecherjäger, der das „Federal Bureau of Investigation“ (FBI) zu einer Bundesbehörde ausbaute, es 48 lange Jahre lang mit eiserner Faust regierte und dabei acht Präsidenten überlebte, stellte niemanden richtig zufrieden. Mit einem Budget von 35 Mio Dollar realisiert, spielte der Film zuhause nur 37 Mio ein, 85 Mio addierten sich aus dem Rest der Welt dazu. Kein erfolgreicher Film also – und einer von Eastwoods seltsamsten. Vielleicht sein ambivalentester.

J.EDGAR ist Eastwoods BROKEBACK MOUNTAIN, hat eine homoerotische Beziehung im Zentrum. Folgt in verschachtelter Erzählweise einem Imperiums-Erbauer wie CITIZEN KANE. Manchmal ist es frappant, wie ein sich mächtig ins Oscar-Geschirr legender, fulminanter Leonardo DiCaprio fast wie ein Alter Ego von Orson Welles erscheint, manchmal gar in den Blickachsen des Vorläufers inszeniert wird. (Weder Leonardo noch der Film wurden für einen Oscar nominiert, es gab jedoch anderweitige Preise.)

Broderick Crawford, Ernest Borgnine und Bob Hoskins hatten Hoover schon gespielt, in Gestalt von Hoovers rechter Hand Clive Tolson, dem der oft (etwa als LONE RANGER) unterbesetzte Armie Hammer Gesicht gibt, tritt hier noch ein weiterer großer Schatten der Filmgeschichte hinzu, nämlich der von Jean-Louis Trintignant aus Bernardo Bertoluccis intensivem IL CONFORMISTA (1970), der sich dort als verkappter Homosexueller in den 1930ern in seinem Verlangen nach „Normalität“ der italienischen faschistischen Partei anschließt und als ein amoralischer Schlägertyp agiert. J.EDGAR zeigt, wie solch unterdrückte Persönlichkeiten und Aggressionspotentiale in einer Demokratie Ventil und Sinn zu finden vermögen, zeichnet ein – wenn auch durchgängig im Halbschatten liegendes und nie ganz durchdekliniertes – Bild einer Gesellschaft im Widerspruch von Ordnungs- und Individualitätsbedürfnissen.

J. EDGAR ist kein Film der zum Schwingen gebrachten Evidenzen oder einer filmischen Sowohl-als-auch-Rhetorik, er ist auf seiner oberen Ebene linear. Das vorwärtstreibende Moment sind die Memoirendiktate seines Helden, die er widerspruchslosen Unterlingen zum Aufschreiben vorträgt, das schwächt in der immer gleichen Anti-Kommunisten-Rhetorik manches Skandalöse ab, atomisiert sich in den nachinszenierten Episoden zu Actionpartikeln, ist eine von einem an seiner eigenen Legende strickenden Hoover erzählte Geschichte. Die Diktatsituationen seinen übrigens komplett fiktiv, betonte die Hoover-Biografin Beverly Gage nach Sichtung des Films, hatte jedoch sonst kaum Einwände. Dass der Film dennoch nicht zu Legendenbildung taugt, kann man Eastwood zu Gute halten. Verbürgt ist, dass viele FBI-Agenten das Vermächtnis ihres alten Chefs durch Eastwood in den Schmutz gezogen fühlten, und ebenso, dass auch die liberale Öffentlichkeit wenig mit dem Film anzufangen wusste. Ein Film zwischen allen Stühlen also, wobei es von Eastwood deutlich schärfere System- und Gesellschaftsanalysen gibt. Pure Verklärung aber ist J. EDGAR jedenfalls nicht.

Eastwoods Interesse und Zusage waren spontan. Der Produzent Brian Grazer, zusammen mit Ron Howard Gründer von Imagine Entertainment, der 2008 FROST/ NIXON gemacht hatte und J. EDGAR dann auch mit Eastwood Produktionsfirma Malpaso zusammen produzierte, sandte Eastwood das Drehbuch zu. Dessen Autor: der damals 36jährige Oscar-Preisträger von Sean Penns MILK, der offen schwulenaktivistische Dustin Lance Black, der im gleichen Jahr wie MILK auch PEDRO gelandet hatte.

MILK stellte den ersten offen homosexuellen Politiker der USA ins Zentrum, PEDRO den ersten HIV-positiven Schauspieler, der im Fernsehen eine Rolle bekommen hatte, 1994 in einer Reality-TV-Show auf MTV. Erstaunlicherweise äußerte Eastwood sich in Interviews zu J. EDGAR folgendermaßen: „Es ist in gewisser Weise eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern. Aber ich wollte es nicht darauf beschränken, ich wollte das nicht dadurch verkleinern, dass ich dem so etwas wie eine sexuelle Anziehung gab. Es musste mehr dahinter sein als nur so etwas.“

Der Dienst am Vaterland erscheint als brüderlicher, ein Stückweit auch körperlicher Magnetismus, als kantiges Männerbündnis gegen amorphe Mächte, als eine in allerlei Verformungen auftretende Härte gegen diffuse Feinde, als Ordnungslicht im auch inneren Chaos, als Rechtfertigung für Rigidität und unnachsichtiges Verfolgen Andersdenkender – bei gleichzeitiger Verdrängung des eigenen, weichen, „verbotenen“ Kerns. Subkutan geht es in J. EDGAR um die homoerotische Komponente von Ordnungsphantasien. Theweleits „Männerphantasien“ lassen grüßen.

Drehbuchautor Black und Hauptdarsteller DiCaprio sollen das Echo von 9/11 und die Einschränkung der bürgerlichen Rechte im „Kampf gegen den Terror“ als zeitgenössische Referenz im Hinterkopf gehabt haben. Eastwoods Ordnungsgefüge ist da weit älter und verfestigter, man darf hier auch sagen: pervertierter. Sein J. EDGAR ist ein DIRTY HARRY auf nationaler Skala, er hat a) eine Einschätzung, b) eine Haltung, c) eine Mission und d) als vernünftiger Tatmensch manche Skrupel eben nicht.

Eastwood inszeniert Hoover als zupackend und geradlinig, aber auch als verschlagen, misstrauisch und hinterhältig in der Bewahrung seiner Macht. Als einsamen, nie so richtig glücklichen Menschen. „Mir ging es darum, dem Mann Hoover nahezukommen, seinen Absichten, seinen Manierismen, seinen Ambitionen, was ihn antrieb“, meinte Eastwood. Hoovers Aktionen wirken dynamisch, aber irgendwie seelenlos. Man wird den Eindruck nicht los, bei Hoover als zeitgeschichtlicher Person wie bei Eastwood und DiCaprio als seine Interpreten seien jede Menge Vermeidungsstrategien am Werk, nämlich dass sich da jemand lieber als Monster inszeniert und sehen lässt, als den wirklichen Menschen vorzukehren, andere wissen zu lassen, was man wirklich ist und fühlt.

Ein Kuss unter Kriegern – welch seltsamer Moment

Ein Kontrollfreak grandiosen Ausmaßes ist dieser Hoover. Die in viele Rückblenden verschachtelte, immer wieder aus einem möglichen Haltepunkt aussteigende Erzählweise, in der der Erzählte das Erzählen über ihn zu bestimmen sucht, macht den Film mehr und zum Fixierbild. Dies ist kein Film, der sagt: So war J. Edgar Hoover. Er sagt: So war er auch, aber wer war er? Tatsächlich ist darin viel CITIZEN KANE, aber ohne das Pathos, ohne zum Rätseln und Forschen aufzufordern. Den Schatten, den Hoover über die amerikanische Geschichte und mit seiner Polizei- und Sicherheitsarchitektur über uns alle warf, hält Eastwood eher klein. Eastwood ist hier Apologet des Sicherheitsstaates, kein Skeptiker.

So hält die von ihm entworfene und von einem erstaunlich erwachsen auftretenden DiCaprio verkörperte Figur es aus, minutenlang ungeschützt in Eastwoods wohl heftigster Liebeszene auf der Leinwand zu beiben und dabei nicht beschädigt zu werden. Vergisst man alles an politischer oder bewusst unpolitischer Implikation an J. EDGAR, so bleibt doch diese eine lange Szene in der inoffiziellen, subversiveren und düstereren Ruhmeshalle des Films, dieser wahnwitzige Kuss von Armie Hammer und DiCaprio. Zwei Männer, die sich die Lippen aneinander blutig beißen, sich wegstoßen, sich nicht lassen können und bis zuletzt zusammen sind. Dieser Kuss unter Kriegern, die zusammen gegen finstere Mächte auf Kurs sind, dieses bildgewordene Echo ordnungspolitischer Männerphantasien gehört gewiss zu Eastwoods großen subversiven Momenten.

Ein Großteil des Films spielt innen, liegt im Schatten oder hat das Walnussbraun alter Schreibtische. Atmet Noir. Fühlt sich oft klaustrophobisch an. Viele Szenen sind nur angerissen, vermitteln sich möglicherweise einem heutigen Publikum kaum. Es gibt die Palmer-Razzien von 1919, nach den Bombenanschlägen auf den Generalbundesanwalt und acht andere Ziele, aber wenig Kontext. Es gibt die Verhaftung einiger Gangster und Maschinenpistolen schwingender Bankräuber, aber keinen Blick auf Hoovers seltsame und möglicherweise korrupte Indifferenz gegenüber dem organisierten Verbrechen, obwohl die Mafia in den 1940 bis 1960ern der Wirtschaft gewaltige Milliardenbeträge entzog. Es gibt das Kidnapping des Lindbergh-Babies und die Ergreifung von Benno Hauptmann, die Ermordung Kennedys aber wird nur kurz gestreift, Hoovers Kampf mit den Kennedy-Brüdern kaum erwähnt, immerhin war der eine Präsident, der andere Justizminister.

Es gibt so gut wie nichts von Joseph McCarthy und Richard Nixon und ihrer vom FBI unterstützten Kommunistenhatz, wenig nur von der Unterdrückung der Bürgerrechtsbewegungen. Da aber ein starkes Bild: wie Hoover sich die Aufnahme eines amourösen Abenteuers von Martin Luther King anhört und die Szene als Schattenbild an der Wand flackert. Unwidersprochen bleibt Hoovers Insistieren, dass zivile Rechte eben zum Schutz ebendieser Freiheit eingeschränkt werden müssen, dass ein freiheitlicher Staat zu seinem Schutz eine Geheimpolizei brauche. Eastwood bleibt hier leidenschaftslos.

LEONARDO DiCAPRIO als J. Edgar Hoover und ARMIE HAMMER als Clyde Tolson

Wo Oliver Stone in NIXON mit beinahe schon psychotischer Energie am Werke ist, bleibt J. EDGAR recht anämisch. DiCaprios Hoover ist ein leerer Mann. Das färbt auf sein Umfeld ab. Naomi Watts als Hoover-Sekretärin Helen Gandy spielt eine der besten grauen Mäuse, die je auf Zelluloid gebannt wurden. Sie ist es auch, die am Ende seinen Nachlass regelt, ein Büro mit weitgehend leeren Aktenschränken hinterlässt. Nicht umsonst sind Hoovers Akten bis heute eine Objekt der Thrillerliteratur, man denke an Robert Ludlums „The Chancellor Manuskript“ (1977, dt. „Die Akte Edgar Hoover“) oder Nicolas Cage in THE ROCK, wo er sich am Ende, damit von Sean Connery belohnt, mit diesem alten Belastungsmaterial auf immer Schutz und Beförderung erklaut.

Hoovers Feinde liegen in Eastwoods Film oft im Schatten oder finden gar nicht ins Bild. Das hat Methode, ist aber auch Teil einer äußerst effizienten Erzählweise, selbst bei einer Länge von 137 Minuten ist das vom Film gewälzte Material gigantisch. All das Für und Wider erzählten oder halberzählten Inhalts beiseitegelassen, kann J. EDGAR auch als eine Filmmaschine gelesen werden, die das Produktionsteam um Clint Eastwood mit hoher Effizienz am beständigen Laufen hält. Die Produktivität des Filmemachers Eastwood hat damit zu tun, dass da einer niemals lange fackelt, schnelle Entscheidungen trifft, und dass da eine ganze Reihe ausgekochter Profis in allen Filmgewerken für ihn tätig sind. Wie man historische Settings mit geringem Aufwand wirkungsmächtig ins Bild setzt, wie man in kurzen Einstellungen schnell durch die Jahrzehnte erzählt – in J. EDGAR sind es 60 Jahre –, wie man Konflikte visuell schürzt, Charaktere mit Licht und Schatten unterstützt, das alles haben sie bei Clintwoods Malpaso-Produktion im Handgelenk. Gute alte Studioarbeit en miniature. Ganz zweifellos hat Eastwood sich da einen der weltweit besten Produktionsstäbe der letzten 40 Jahre herangezogen – und hält sie alle in Lohn und Brot.

Zum Beispiel Tom Stern, den Kameramann von J. EDGAR., dessen zehnter Film mit Eastwood dies war, der schon weit länger mit ihm arbeitete, nämlich als Beleuchter seit HONKYTONK MAN (1982). Tom Stern kam vom Dokumentarfilm, war bei Samuel Fullers WHITE DOG dabei gewesen (der ein schönes Licht hat), war von Bruce Surtees, damals Eastwoods Haupt-Kameramann mit zu HONKYTONK genommen worden und wurde ihr Oberbeleuchter für viele Jahre, bis SPACE COWBOYS (2009). Als Sterns Freund und Mentor, der Kameramann Conrad Hall, 2003 starb, überlegte auch er, in den Ruhestand zu geben. Eastwood überredete den 1946 Geborenen zum Weitermachen, engagierte ihn als Kameramann für BLOOD WORK. Zu Tom Sterns Arbeiten gehörten MYSTIC RIVER, MILLION DOLLAR BABY, FLAGS, LETTERS, GRAN TORINO, INVICTUS, HEREAFTER und CHANGELING. Zu seinem Credo gehört es, den technischen Apparat klein und die Beweglichkeit groß zu halten, er trifft sich dabei mit Eastwoods Liebe zum Jazz und zum Improvisieren.

Das von Eastwood selbst komponierte Musikstück zu J. EDGAR, ein verhaltenes, nur angerissenes Piano, sagt es eigentlich schon, dass in diesem Film längst nicht alles erzählt werden wird.

Alf Mayer

Siehe auch hier neben an: Sonja Hartl über: Beverly Gage: G-Man: J. Edgar Hoover and the Making of the American Century – d. Red.

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