Geschrieben am 1. November 2023 von für Crimemag, CrimeMag November 2023

Alf Mayer: Das Fotobuch „Wall of Death. Motodrom“

Florian Holzherr: Wall of Death. Motodrom. Hirmer Verlag, München 2023. Hochformat, 22 x 33 cm, gebunden. 224 Seiten, 150 Abbildungen, 69,90 Euro.

Last of the Independents

Dies ist ein Herzblut-Buch. Durch und durch. Sogar bis in die Gestaltung. Orange Glow (von Sirio Pearl) heißt das Vorsatzpapier, dessen Farbe sich in der Prägeschrift des Covers wiederfindet. Alles ist analog produziert, an die 50 Sponsorinnen und Sponsoren haben das über das Verlagsengagement hinaus möglich gemacht. Gestaltung: Clemens Theobert Schedler, Schrift: BVH Bart, Druckvorstufe und Druck: Trifolio, Verona. Hochformat und Bildgestaltung geben immer wieder eine Anmutung des Steilkessels, in den dieses Fotobuch uns mitnimmt – zu Donald Ganslmeier aka Captain Donald und seinen „Motorellos“, die in der ältesten reisenden Steilwand der Welt auf knarzenden Brettern und Planken ohne Helm und doppelten Boden der Schwerkraft trotzen. Und das in bis zu vierzig Vorstellungen am Tag.

„Wall of Death. Motodrom“, heißt das Buch, eins der schönsten des Jahres. Eines, das nicht nur mir Herzklopfen macht.

Ein aussterbendes Schaustellergewerbe wird hier in einer atemberaubenden Bildreportage verewigt. Alle Fotos entstanden analog: im Format 35mm, 6×6 cm und vereinzelt 4×5 inch auf Ilford Film und mit alten Kameras von Nikon, Hasselblad und Linhof. Der Münchner Architekturfotograf Florian Holzherr – seine Kunstdokumentation von 2005 über den Lichtkünstler James Turell ist heute in der siebten Auflage – erlebte 1976 als Sechsjähriger an der Hand seines Großvaters das Motodrom auf dem Oktoberfest: „Knatternde Motoren, wilde Kerle, die durch eine Steilwand brettern, immer im Kreis herum.“ Immer noch davon fasziniert, entstand jetzt 40 Jahre später dieses Buch. Eine Ode an das Echte in einer Zeit der Fakes, ein Ode an die Unabhängigkeit. 

Was ist wertvoll?, wird Captain Donald im Buch in einem schönen Interview (von Markus Götting) gefragt. Wert hat für mich, sagt der, einer Frau die Tür aufzuhalten. Er sei Steilwandfahrer. „Ich zeige den Menschen, dass es noch was anderes gibt als einen herkömmlichen Beruf. Dass man frei sein kann. Ich bin kein Abenteuerbub, ich zeige bloß, was man aus seinem Leben machen könnte…“

Überlegt und austariert, feingetunt wie eine Rennmaschine und geradezu altmodisch filmisch kommt das Porträt des Steilwandfahrens daher, ein historisches Eingangskapitel mit seltenen Illustrationen inklusive. Florian Dering, lange Jahre Abteilungsleiter im Münchner Stadtmuseum, Autor des legendären Greno-Buches „Volksbelustigungen“ (1986) und Miterfinder der „Oide Wiesen“, konnte für diesen Rückblick gewonnen werden.

Im Zeitraffer zeigt das Buch dann den Aufbau der Jahrmarktsarena, zeigt mit dem bloßen Blick auf das Material, auf Bretter, Getriebe, Startpedal und Auspuff die Tradition des Gewerbes. Ort und Raum und Zeit, Gefahr und Professionalität, Beschleunigung und Geschwindigkeit – all das machen die präzisen Schwarzweiß-Bilder sichtbar, nehmen uns mit in die Arena, wirbeln unser Sehvermögen durcheinander, machen mit sinnhafter Dramaturgie und ungezählten Perspektiven auf 224 hochformatigen Seiten eine eigenartige, ganz eigene Welt buchstäblich erfahrbar. 

Aber wie kommt man da überhaupt hoch in diesem Kessel?, nicht umsonst „Todeswand“ genannt. Donald Ganslmeier erklärt es uns Laien: „Das ist Geschwindigkeit versus Erdanziehung, also Schwerkraft. Stell dir Wasser in einem Glas vor, das geschwenkt wird. Das Wasser geht dann hoch. Die Steilwand kannst du schlecht schwenken, also braucht es einen eigenen Antrieb, den man quasi ins Wasser hält. Unsere Maschinen.“
Gegen das Rausfliegen steuert man nach innen. Das Problem sind eher die G-Kräfte, die werden mit ansteigendem Tempo einfach zu hoch. „Wir fahren mit dreieinhalb G, und ab einem gewissen Wert wird man tatsächlich bewusstlos.“ Und, „nee, wir tragen deshalb keinen Helm, weil’s scheiße aussieht“, weil er Sichtfeld und Gehör einschränkt und bei diesen Kräften schlicht zu schwer wird. Und Ganslmeier lacht: „… in unseren Köpfen ist nicht so viel drin, was kaputt gehen könnte…“

Mindestens 45 km/h, 5.000 Umdrehungen in der Minute müssen es sein, damit der Druck durch die Zentrifugalkräfte hoch genug ist, Motorrad samt Fahrer an die Wand zu pressen. Eine Runde dauert zirka drei Sekunden. Weltweit gibt es nur noch wenige Trupps, die diese Jahrmarktskünste aufführen. Ganslmeier und seine Truppe fährt Indian Scouts, zwischen 1927 und 1931 gebaut, niedriger Schwerpunkt (noch unter der Radachse), 18 PS, 750-ccm-V-Twins, Dreigang-Hand-Tankschaltung und Fußkupplung, wegen des stabilen Rahmens und guter Kraftentfaltung bis heute bei Steilwandfahrern beliebt. Dann gibt es noch zwei BMW R 51/2-Motorräder und einen BMW Dixie Formel V-Rennwagen aus dem Jahr 1928.

Die Steilwand aus Holz misst bei sechs Meter Höhe 9,80 Meter im Durchmesser und besteht aus 18 Wandelementen. Der Zentralmast ist zwölf Meter hoch, die Anlage auf 200 Zuschauer angelegt. Knapp zehn Minuten dauert eine Show. Sie brennt sich ein für die Ewigkeit. Darauf einen Toast.

Ich mag weiche Whiskeys, solche, wo du die Flasche ansetzt und es auf ex trinken kannst und nichts brennt, sagt Ganslmeier. Wann er denn die letzte Flasche auf ex getrunken habe? Puh, mit 22? 23? Aber das mache er ja nicht mehr. Jetzt genieße er.

Alf Mayer

PS. Wunderbarer Weise im Internet abrufbar ist Jörg Wagners Neun-Minuten-Dokumentarfilm „Motodrom“ von 2006, einer der Handvoll Filme, die mir aus 20 Jahren Gutachtertätigkeit bei der FBW für immer in Erinnerung geblieben sind. Prädikat „besonders wertvoll“. Auszug aus dem Gutachten damals: „Gestochen scharf sind die Bilder, ästhetisch überaus schön, alle Tempi deklinierend. Mit Geräuschen, Ton und Schnitt, Bildfolgen und Einstellungen operiert der Film ebenso geschickt wie es die Höllenfahrer mit ihren Maschinen tun. So ist dies nebenbei auch eine Demonstration dessen, was das Medium Film vermag. „Motodrom“ ist ein richtiger Film, filmisch durch und durch, auch noch in 20 Jahren sehenswert.“

Motodrom: Regisseur: Jörg Wagner .Produzent: Dirk Manthey. Cast: Hugo Dabbert, Jagath Perera, Tomasz Wyszomirski. Jahr: 2006. – Von Hugo Dabbert hat Donald Ganslmeier das in diesem Buch gezeigte Motodrom übernommen. Rund bleibt rund.

Zwei Fotos aus dem Film. Aus dem Buch stehen leider keine Abb. zur Verfügung.

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