Geschrieben am 19. September 2017 von für Bücher, Crimemag

Roman: Benjamin Whitmer: Im Westen nichts

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WILDROMANTISCHE, VOGELFREIE SCHEISSE

Von Ute Cohen

Countrysongs können einem das Hirn mindestens genauso aus dem Schädel blasen wie eine 38er. Verlierergeschichten ohne Happy End betäuben mit Galoppsound in Endlosschleife. Benjamin Whitmers „Im Westen nichts“ ist wie einer dieser Songs, die man in- und auswendig zu kennen glaubt, am liebsten wegdrücken möchte und dann doch bis zum Schluss anhört, die Wut im Bauch, der Handrücken verschämt die Tränen wegwischend.

Das Setting ist nichts Neues: Pike, ein verwitterter, vom Leben gezeichneter Bulle bricht auf, den Tod seiner Tochter zu rächen. Sarah, verlassen vom Vater und auf die schiefe Bahn geraten, wird tot aufgefunden, von Heroin und Drogen zugrunde gerichtet. Einzige Hinterlassenschaft: eine halbwüchsige Enkelin, die Pike samt Katze nun am Hals hat. Zerfleischt von Schuldgefühlen, versucht Pike der Tochter zumindest nach dem Tode noch Gerechtigkeit angedeihen zu lassen und dem Tathergang auf die Spur zu kommen. Mit Unterstützung seines Kompagnons Rory, einem Vicodin-süchtigen Hobby-Boxer, durchforstet er das Umfeld des Mädchens, das nach Kotze, Sperma und rauchenden Colts stinkt. Die Spurensuche führt durch die Abgründe des amerikanischen Westens. Jede Form von Menschlichkeit scheint in einem Morast aus Drogen, Armut und Gewalt zu ersticken. Die Gestalten, denen Pike begegnet, Zeugen, Freunde der Tochter, Dealer und korrupte Bullen reihen sich wie in Formol konservierte Exponate einer degenerierten Gesellschaft aneinander: schwachsinnige White Trash-Zwillinge, hündisch dahinvegetierende Rollstuhlfahrer, Vergewaltiger, die Sechsjährige malträtieren, bis ihnen die „Gedärme aus dem Arsch“ hängen. (S. 41)

Wer jetzt schon kreidebleich über der Kloschüssel hängt, sollte sich den Lesetrip ersparen. Für alle anderen gilt: Augen auf und durch! Den eigenen Kuschelkurs mit Kinderstube, Netiquette & Co. zu durchbrechen, kann wie ein Ayahuasca-Trip kathartische Wirkung haben. Man zieht vielleicht nicht gleich mit dem Colt und einem Tütchen H für potenzielle Verbündete los, um das Elend der Welt zu rächen, aber man bemüht zumindest nicht gleich die Sprachpolizei, wenn mal ein böses Wort fällt und schaut nicht weg, wenn der Nachbar die Frau verprügelt oder ein Kind in Bedrängnis ist.

Die Jungs im Buch jedenfalls stellen sich dem Leben: Sie sind nicht blind für ihre eigenen Unzulänglichkeiten, aber auch nicht so naiv-idealistisch, die Welt ändern zu können: „Das Leben ist eben überall eine verdammte Tragödie, findest du nicht?“ (S. 381) und „Die Scheiße, in der dieser Staat steckt, werden wir zwei nicht bereinigen.“

cinUnd die Kacke ist weiß Gott am Dampfen! Gewalt regiert diesen Westen, dieses graue, schmierige, verseuchte Cincinnati. Es geht ums reine Überleben, wobei man sich die Frage stellen darf: Was bitte ist lebenswert an diesem Dasein, in diesem Leben, in dem Leichen von Junkies geschändet werden, elfjährige behinderte Mädchen an einen Stuhl gebunden, durchgefickt und halbtot zurückgelassen werden? Frauen, Mädchen, ja, die sind ganz unten auf dieser sozialen Leiter. Sie sind ausgemergelt, geschändet, Gebrauchswaren, die nach Abnutzung auf den Müll geschleudert werden, gut genug, um den von den Brüdern ums Klo gepissten Heiligenschein wegzuwischen. Whitmer beschreibt diese Schicksale nicht mit einer weinerlichen Attitüde, sondern mit einem glasklaren Blick, der um so deutlicher das Verzweifelte-Unabänderliche dieses elenden Daseins zutage fördert. Die direkte, unverstellte Sprache verhindert auch, dass man das Ganze als einen Jahrmarkt der Kuriositäten empfinden könnte. Frauen mit zwei zusammengewachsenen Gebärmüttern, die entfernt werden müssen? Das erinnert verdammt an die Frau ohne Unterleib, an den Voyeurismus einer gaffenden Menge. Doch Whitmer erfüllt den Leserreflex nicht. „Im Westen nichts“ (Originaltitel: „Pike“) ist ein Country Noir. Whitmer weiß, dass die Gesellschaft, rotten to the bones, dieses Leid hervorbringt. In Thailand gibt es Blutegelköder, in Vietnam die Lagerfrauen, in Cincinnati zugedröhnte Minderjährige, auf denen sich die Freier wälzen. „Nationen erneuern sich nur auf Leichenbergen.“ Pike zitiert Saint-Just und ballert sein Mea Culpa solange in die Welt hinaus, bis er den Mörder seiner Tochter erledigt hat.

pike cover 8098538Klingt nach Schwarz-Weiß-Trivialo-Plot? So einfach ist die Sache nicht, denn Derrick, der Zuhälter von Pikes Tochter, ist zwar ein Schwein, aber selbst auf einem Feldzug. Er ist nicht nur Pikes Gegner, sondern auch der Feind aller Systemmoralisten, möchte jeden ausweiden, „der dumm genug ist, Gewalt eine höhere Bedeutung anzudichten.“ (427). Ein Satz, den man sich mit Ketchup an die Wand malen möchte! Derrick hat nur eine einzige „eiserne Regel“: Null Toleranz für Kinderschänder! Das hindert ihn natürlich nicht daran, mit Schlagringen Prostituierten den Schädel zu zertrümmern und sich gewalttätig in die nächste Generation fortzupflanzen.

Pike ist im Vergleich zu diesem nur noch von einer fixen Idee und dem Ticken des Herzschrittmachers am Leben gehaltenen Monstrums ein Geläuterter. Er spürt es noch, sein Herz: „Pikes Herz schlägt gewaltig in seinem Brustkorb, ungezügelt wie ein wildes Pferd. “ (S. 440)

Deshalb schnappt er sich seine Enkeltochter und verschwindet nach Texas: „Es ist eine Landschaft, die es geradezu darauf anlegt, einen daran zu erinnern, dass wir in unserem Innersten alle ein hohles Gefühl mit uns herumtragen, mit dem wir nicht umgehen können. Dass der einzige Überlebenstrick darin besteht, sich nicht selbst zu zerstören beim Versuch, es abzuschütteln.“ (S. 458)

Cincinnati aber stirbt. „Äußerlich ändert sich nichts. Innerlich auch nicht.“ (S. 464)

Epilog: „Im Westen Nichts“ spielt im Cincinnati der Reagan-Ära. Over-the-Rhine war noch Anfang des Jahrhunderts „America’s most dangerous neighborhood.“ Heute ist dieses ehemalige Problemviertel eines der gefragtesten Stadtviertel.

Nothing is forever!

Ute Cohen

Benjamin Whitmer. Im Westen nichts (Pike, 2010). Aus dem Amerikanischen von Len Wanner. Polar Verlag, Hamburg 2017.  242 Seiten, 16,00 Euro. Verlagsinformationen hier.

Im CrimeMag August-Ausgabe 2017 finden Sie den Buchanfang als Primärtext.

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