Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019, News

CulturMag Highlights 2019, Teil 10 (Nössler – O’Brien – Paretsky – Perumal)

Regina Nössler –
Frank Nowatzki –
Andrea O’Brien –
Sara Paretsky –
Murali Perumal –

Regina Nössler: Liv und Kya: Zwei wilde kleine Mädchen in der Isolation

Schon der erste Satz des Buches ist großartig für einen Thriller und kommt gleichzeitig so nüchtern und fast nebensächlich daher: „Im weißen Zimmer war es dunkel, als mein Vater meine Großmutter umgebracht hat.“ 

Harz von Ane Riel sah ich im Sommer in der Buchhandlung meines Vertrauens, dem „Hammett“ in Berlin-Kreuzberg, und wollte es zuerst gar nicht in die Hand nehmen, weil ich fälschlicherweise dachte, der deutsche Harz sei gemeint, dunkler Wald, Tannen, Brocken und so, und Regionalkrimis mag ich nicht, egal, welche Region. Aber die Autorin stammt aus Dänemark, und titelgebend ist hier Baumharz. Mit Hilfe dieser klebrigen Substanz werden keine prähistorischen Mücken wie in Jurassic Park konserviert, die ihrerseits Dinosaurierblut in sich tragen – Bernstein –, sondern Familienmitglieder, wie wir bald erfahren.

Die sechsjährige Liv lebt mit ihrer Familie an einem abgeschiedenen Ort auf einer kleinen Insel, zu der sich fast niemand verirrt. Ihr Vater Jens lässt die Behörden glauben, Liv sei im Meer ertrunken, damit sie nicht zur Schule muss. Er will sie nicht verlieren, so wie er sich auch von allem anderen nicht trennen kann. Er kann im allerwahrsten Sinne nicht loslassen. Der Hof der Familie ist heruntergekommen und total vollgemüllt. Akribisch listet die Autorin unvorstellbar viele Dinge auf, die sich dort im Laufe der Jahre angesammelt haben. Ich fragte mich beim Lesen oft, ob Ane Riel eine Extradatei für diese vielen Dinge angelegt hat, um einerseits den Überblick zu behalten und sich nicht zu wiederholen – oder sich andererseits gegebenenfalls absichtlich zu wiederholen, da einigen der Dinge noch eine besondere Bedeutung zukommt. Sie beschreibt die isolierte Welt sehr anschaulich, manchmal hatte ich in meinem sauberen Schlafzimmer den Gestank der verdorbenen Lebensmittel und der Tierexkremente regelrecht in der Nase. Der Hof wird immer voller und voller, im Haus und auch draußen kommt man fast nirgends mehr vorbei, mangels Platz auf dem Fußboden wird der Weihnachtsbaum an der Zimmerdecke befestigt. All das findet Liv ganz normal, denn sie kennt das Leben nicht anders.

Und was Jens betrifft, ihren Vater, der sich von nichts trennen und alles bewahren will: Was soll auch aus jemandem werden, dessen glücklichste Kindheitserinnerung die ist, als er zusammen mit seinem Vater, Schreiner wie er selbst, in einem frisch gezimmerten Sarg lag, so friedlich und heimelig?

Ich schenkte das Buch einer Person, die bei sich manchmal leichte Messie-Tendenzen befürchtet, in der Annahme, der Krempel, die kaputten Gegenstände, der ganze Müll würden sie eher beruhigen und ihr die Botschaft senden: Bei dir sieht es doch ganz ordentlich aus. Das Gegenteil war der Fall, nach dem Lesen räumte sie als Erstes ihre Wohnung auf.

Am Schluss des Buches, als ich dachte, alles wäre jetzt erzählt und der Text würde noch ein wenig ausplätschern, wartet die Autorin übrigens mit einem letzten echten Knüller auf.

Auch im Marschland leidet man an der Liebe

Auch Der Gesang der Flusskrebse schildert eine abgeschiedene eigene Welt, hier das Marschland nahe beim Meer in North Carolina in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. 

Wie die dänische Liv ist Kya zu Beginn sechs Jahre alt. Sie lebt mit ihrer Familie – Mutter, mehrere ältere Geschwister und ein weltkriegsversehrter brutaler Vater – in einer Bruchbude, einer Hütte mitten im Sumpf. Die Bewohner des kleinen Ortes meiden die Familie, nennen sie nur „Sumpfpack“, „Sumpfgesindel“ und Kya das „Marschmädchen“. White trash, in der Rangordnung noch unter den Schwarzen. Fünfziger Jahre in den USA. Rassentrennung allgegenwärtig und selbstverständlich. Kyas Vater ist so gewalttätig, dass nach und nach alle älteren Geschwister abhauen, schließlich auch die Mutter und Kyas letzter verbliebener Bruder. Sie bleibt mit ihrem Vater allein, bis auch der eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwindet und sie auf sich gestellt ist. In der Marsch, dieser undurchdringlichen Sumpflandschaft, findet sie sich fast blind zurecht und kann sich deswegen allen Zugriffen von außen, z.B. von Seiten der Schulbehörde, erfolgreich entziehen. Sie ist ein Naturkind – in gewisser Weise ist das Buch auch ein Ökoroman – und hat beeindruckende Kenntnisse von Flora und Fauna dieses besonderen Lebensraums. Mit den Strandmöwen steht sie auf Du und Du (eigentlich ist sie eins mit dem gesamten Biotop und all seinen Geschöpfen), und die Möwen sind die einzigen Gäste bei Kyas siebtem Geburtstag, wobei sie nicht ganz sicher ist, wann genau ihr Geburtstag ist. Sie kann nicht lesen und weiß sehr lange nicht, „was nach neunundzwanzig kommt“. Bis sie Tate kennenlernt, der ihr Privatunterricht erteilt und zu den wenigen Menschen gehört, die Kya nicht ablehnen. Mit seiner Hilfe entwickelt Kya sich von einem verwilderten, schmutzstarrenden, nicht alphabetisierten Kind zu einer Art weiblichem kleinen Humboldt – sie zeichnet mit großer Begabung Insekten, Vögel, Muscheln und Pflanzen des Marschlandes und dokumentiert sie auf diese Weise. (Ganz am Rande: Sie versteht auch Einstein und kann ihn hervorragend erklären.)

Schon als Kind kann Kya sich allein durchschlagen. Sie leidet oft Hunger, aber sie überlebt und wird zu einer immer besseren Kennerin der Wildnis um sich herum. 

Über ihre entbehrungsreiche Kindheit im Sumpf hätte ich ewig weiterlesen können, aber irgendwann wird Kya erwachsen. Und wir sehen: Auch im Marschland leidet man an der Liebe. 

Nicht zu vergessen – es gibt es auch einen Mord in diesem Buch. Das seltsame Marschmädchen gerät schnell in Verdacht. „Der Gesang der Flusskrebse“ beginnt mit poetischen und wunderschönen Naturbeschreibungen in den frühen Fünfzigern und wird dann zu einem mitreißenden Gerichtsdrama in den späten Sechzigern. 

Ane Riel: Harz, aus dem Dänischen von Julia Gschwilm, btb.
Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse, aus dem amerikanischen Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, hanserblau.

Regina Nössler ist die Autorin exzellenter Krimialromane, die bei Claudia Gerke im Konkursbuch Verlag erscheinen. Thomas Wörtche bei CrimeMag über „Schleierwolken“. Gerade mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und auf auf unserer CrimeMag Top Ten: ihr aktueller Thriller Die Putzhilfe.

Frank Nowatzki

Mmh. Jahresrückblick. Schwierig. Manche guten Dinge rauschen trotzdem einfach durch, andere bleiben nachhaltig hängen. Ich berichte von den zwei intensiveren Begegnungen.

Jim Nisbet hat mir irgendwann mal von der interessanten Wiederentdeckungsgeschichte von Lucia Berlin erzählt. Ein paar Jahre nach ihrem  Tod stöberte Black Lizard Gründer Barry Gifford in alten Black Sparrow Anthologien, blieb bei Lucia hängen und fand, dass hier etwas getan werde müsse. Er half Steve Emerson, einem guten Freund von Lucia, die Rechte zurückzuholen und der machte sich an Werk, das daraufhin in 26 Länder übersetzt wurde. Eine wundervolle Comeback-Geschichte.  Niemand hatte mit diesem posthumen Erfolg gerechnet. Ihr Name blieb auf meiner Watchlist, bis ich auf der diesjährigen Buchmesse am Stand des Kampa Verlags vorbeikam und an dem neuen Titel von Lucia Berlin Abend im Paradies hängen blieb. 

Das Cover wirkt ein bisschen aus der Zeit gefallen, doch mit einem sprachlich absolut überzeugenden Sound schreibt Lucia Berlin hier autofiktionale Short Stories,  die im Buchbetrieb meist schon von der Form her zum Scheitern verurteilt sind. Völlig zu unrecht.  Eine junge Dame flirtet hier im Zug mit einem angehenden Priester, eine Mutter verteidigt ihr abgeschiedenes Paradies gegen Blattschneiderameisen, und, als der Ex-Dealer ihres Mannes auftaucht, um den ehemals Süchtigen wieder anzufixen, kämpft sie mit dem Messer in der Hand, auch gegen den freundlichen Eindringling. In der titelgebenden Geschichte um ein beschauliches mexikanischen Küstenkaff fällt ein US-Filmteam ein, um mit Starregisseur John Huston „Die Nacht den Leguan“ zu drehen. Das Paradies fängt an sich zu wandeln und ruft Strandboys, Gigolos und Dealer auf den Plan, die sich an der Hotelbar um Ava Gardner, Liz Taylor und Ray Burton scharren.  Texte aus verschiedenen Schaffensphasen lassen erahnen, was für eine Rebellin Lucia Berlin gewesen sein musste und was man unter magischem Realismus verstehen kann. Den Soundtrack dazu lieferte Peggy Lee mit ihrem „Is that all there is?“ 

Und natürlich hat sich auch Jim Nisbet auf seine Art an Lucia und ihre erste Begegnung erinnert – siehe hier.

Serien kommen und gehen, die Streamingdienste fangen an einen zuzumüllen. Ausgerechnet Amazon hat sich getraut die übersinnliche Neo-Noir-Crime Serie „Too old to die young“  von Regisseur Nicolas Winding Refn („Driver“) auszustrahlen, eine Serie, die mit vertrautem Serienablauf konsequent bricht und sich in stilistischer Selbstverliebtheit, explizierten Bildern und Farben aalt. Wer auf der Suche nach einem raffinierten Plot ist, wird ihn vergeblich suchen, man kann in so gut wie allen zehn Folgen einsteigen, ohne das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Dafür: Düstere Kulissen, langsame einfühlsame Einstellungen und kontrastreiche Neonleuchteffekte mit dem bizarren Soundtrack von Cliff Martinez, der in den 80zigern bei Captain Beefheart aushalf.

Szene aus „Too Old to Die Young“

Wir folgen einem wortkargen Polizisten Martin Jones (Miles Teller) auf seinem Rachefeldzug und sehen seine Wandlung zum Auftragskiller, um das Böse in Form von Kinder- und Frauenschändern, Mördern und Folterer auszuschalten. Verwoben ist seine Geschichte mit der von Jesus (Augusto Aguilera), einem US-mexikanischen Kartellboss, der den Mord an seiner Mutter rächen möchte. Die Titel der Episoden erinnern an Tarot-Karten, die auch in den einzelnen Folgen thematisch den Schwerpunkt bilden: „Die Hohepriesterin“ beispielweise entpuppt sich als Jesus Gefährtin Yaritza, (Christina Rodlo) die man, wenn sie gefangene Zwangsprostituierte ihres eigenen Kartells aus Käfigen befreit und rächt, durchaus als feministische Hohepriesterin des Todes sehen kann, die sich gegen eine Welt stellt, die von toxischer Männlichkeit dominiert zu werden scheint. Refns Visionen von Tod und Zerstörung können verstören und haben bei aller Anziehung hohes Frustpotential. William Baldwin, in der Rolle als Kunstmäzen und Vater der minderjährigen Freundin (Nell Tiger)  von Martin Jones, tanzt  zum 999 Song „Homicide“ in seiner Kunstgalerie. Und Refn gibt der Szene und dem Song solange Zeit wie es eben braucht. Kein Fade-out, nur um irgend etwas abzuhaken. Genauso wenig wie die Skalegende Price Buster und dessen rocksteady beat, zu dem Martins schwarzer Auftragsgeber Damian (Babs Olusanmokun)  chillt. Die Machart dieser Serie ist einzigartig und wirkt lange nach. Versprochen. 

Frank Nowatzki ist der Verleger von PulpMaster. Texte von ihm bei CrimeMag.

Andrea O’Brien: Mein Jahr der Langeweile und Mittelmäßigkeit

Warnung: Der folgende Artikel ist nicht repräsentativ, höchst subjektiv und nicht für empfindliche Gemüter geeignet. Weiterlesen erfolgt auf eigene Gefahr!

Tja, schon wieder ein Jahr vorbei. Und ein neuer Rückblick ist angesagt. Lange habe ich darüber nachgedacht, welche Spannungsromane mich in den vergangenen Monaten beeindruckt haben. 

2019: Das Jahr der großen Entdeckungen? Leider nicht. 

2019: Das Jahr der innovativen Krimis? Nope. 

2019: Das Jahr, in dem ich einen großartigen Spannungsroman gelesen habe. Ja, genau. Einen.

Man beachte bitte, dass diese Einschätzung allein meinem Geschmack und meiner persönlichen Auswahl an Lesematerial geschuldet ist, es gibt sicher ganz großartige Krimis, die mir in meiner Beschränktheit entgangen sind. So ist das manchmal. Life’s a bitch and then it’s 2020.

Die ersten großen Langweiler des Jahres 2019 waren Gilly MacMillan, Emily Carpenter und Douglas Skelton.

Wie Denise Mina (s.u.) greift auch MacMillan in ihrem Roman I Know You Know das immer beliebter werdende Medium des True-Crime-Podcasts auf, was ich deswegen problematisch finde, weil Podcasts zum Hören da sind und als langatmig integriertes Skript den Lesefluss stören. 

Doch darin liegt gar nicht meine Hauptkritik. MacMillan baut ihre recht komplexe Handlung über mehrere hundert Seiten hinweg auf und bevölkert diese mit vielschichtigen Figuren. Kurz vor Schluss aber gilt das alles plötzlich nicht mehr, stattdessen will die Autorin uns ohne weiteren Kontext weismachen, dass alles, was sie uns vorher lang und breit aufgetischt hat, eigentlich genau umgekehrt ist. Unerwartete Wendungen kenne ich eigentlich anders. Natürlich darf man seine Leser aufs Glatteis führen und mit unzuverlässigen Erzählern täuschen – das finde ich sogar sehr spannend – , doch bei MacMillan wirkt es eher, als hätte sie ihre Handlung vor dem Niederschreiben nicht zu Ende gedacht und daher kurzerhand alles zurückgenommen, was sie vorher behauptet hat, nur damit die Geschichte irgendwie aufgeht. Nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Verzeihung, aber als Leserin fühle ich mich von ihr verschaukelt. 

Emily Carpenter schießt mit ihrem abstrusen Psychotrip Every Single Secret wirklich den Vogel ab. Die Verlobten Daphne und Heath beschließen, vor der Hochzeit ein paar Wochen in einem einsamen Retreat bei einem schrägen Psychoguru zu verbringen. Beide hatten eine traumatische Kindheit und sind nicht ganz ehrlich miteinander (Man beachte das Wort „Secret“ im Titel). Leider ist die Geschichte trotz aller Kapriolen sterbenslangweilig, völlig vorhersehbar, der Handlung fehlt der rote Faden, und das, was am Ende als überraschende Wendung oder große Enthüllung gedacht war, erinnert mich ein bisschen an geschmolzenen Mozzarella – Sie wissen schon, diese gefühlt tausend Fäden, die so klebrig an einem herunterhängen?

Schauplatz der Handlung in Douglas Skeltons Roman Thunder Bay ist eine kleine Hebrideninsel. Kenner der Shetland-Reihe von Ann Cleeves und Peter Mays Lewis-Trilogie sind mit den üblichen Klischees vertraut: dicke Wollpullis, kauzige Nachbarn, Hunde, Wind und Whiskey (und mindestens eine Mhairi). Ist ja auch alles ganz nett und kuschelig, aber ein bisschen mehr muss da schon rüberkommen, um das Ganze von den üblichen Urlaubskrimis zu unterscheiden. Das gelingt aber leider nicht, die Geschichte braucht ewig, um richtig in Gang zu kommen, und das Ende überrascht leider überhaupt nicht. Bei aller Idylle und Tragfähigkeit des Handlungsorts darf man sich eben nicht nur auf die damit verbundenen Klischees verlassen.

Weiter ging meine Suche. Ich durchstreifte die düsteren Gassen der fiktionalen Unterwelt und traf dort altbekannte Spannungsmeister wie Denise Mina, Kate Atkinson, Adrian McKinty, Michael Robotham, Karen Slaughter und William Kent Krueger

Denise Minas Roman Conviction (Klare Sache, dt. von Zoë Beck) hat mich zugegebenermaßen wenigstens streckenweise unterhalten, nur der überambitionierte Plot nervte mich irgendwann, außerdem störten mich die selbstironische Erzählerinnenhaltung und Minas Bestreben, alle Handlungsstränge bis ins Absurde hochzuschaukeln und immer noch einen draufzusetzen. Das fand ich ehrlich gesagt zu anstrengend. 

Mit Big Sky, Kate Atkinsons heißersehnter Fortsetzung der Reihe um Jackson Brodie, hatte ich ähnliche Probleme, auch diesen Roman fand ich anstrengend, nicht weil der Plot zu komplex oder das Thema zu anspruchsvoll gewesen wären,  sondern weil mir der Erzähler auf die Nerven ging, so wie es einem mit Menschen gehen mag, die nicht viel zu sagen haben, sich aber gerne reden hören. Atkinson schmückt ihre klugen, immer wieder auch witzigen Girlandensätze leider unablässig mit geistreichen (in Klammern gesetzten) Ergänzungen aus, was leider nicht dazu dient, eine einzelne Figur zu charakterisieren, sondern sich gleichmäßig durch den gesamten Roman zieht. Geschwätzig nennt man das wohl.

Adrian McKinty, eigentlich ein zuverlässiger Held meiner fiktionalen Spannungswelt, hat mich mit The Chain (The Chain. Durchbrichst du die Kette, stirbt dein Kind, dt. von Anke und Eberhard Kreuzer) so richtig enttäuscht. Sowohl die Handlung als auch Figuren und ihr Verhalten sind völlig an den Haaren herbeigezogen. Schiefe Sätze, die sich (im englischen Original) geschickt am Lektorat vorbeigemogelt haben, lenken von der Spannung ab, die man mit viel gutem Willen in diesem Roman finden mag. Das Ganz mutet wie ein seichtes Drehbuch an – oder ein alberner Kettenbrief.

Michael Robotham hat mich in der Vergangenheit mit seiner Joe-O’Loughlin-Serie trotz einer gewissen Formelhaftigkeit immer ganz gut unterhalten, doch der erste Band seiner neuen Serie mit dem Titel Good Girl, Bad Girl( Schweige still, dt. von Kristian Lutze) um den forensischen Psychologen Cyrus Haven hat mich nicht überzeugt. Die Ausführung ist mittelmäßig, die Figuren vom Reißbrett, die Handlungsmuster aus vielen anderen Krimis bekannt. Billige Massenware. Leider.

Karen Slaughters neuestes Werk The Last Widow (Die Letzte Witwe, dt. von Fred Kinzel) dreht sich wieder um Sara Linton und Will Trent, die ewigen Turteltäubchen im gewalttätigen Atlanta, Georgia. Dieser Roman ist von der Autorin offenbar schnell zu Papier gebracht worden und wird vermutlich von dieser Leserin ebenso schnell vergessen werden. Die beiden Hauptfiguren haben sich aus einem Nackenbeißer in einen Thriller verirrt. Außerdem geht es um Kidnapping, einen rechtsextremen Kult und Terrorismus. Spannend? Eher weniger.

Bleibt nur noch der eigentlich großartige William Kent Krueger. Ich weiß nicht, was den Autor zwischen seinem eindrucksvollen letzten Roman Ordinary Grace (Für eine kurze Zeit waren wir glücklich, dt. von Tanja Handels) und seinem neuesten Roman mit dem englischen Titel This Tender Land befallen hat, aber seine nach innen gewandte, sentimentale, befremdlich religiös-esoterische, naive Erzählhaltung hat bei mir schon auf halber Strecke Bauchweh verursacht. Ich konnte den Roman nicht zu Ende lesen. Unendlich schade, aber dieses Buch hat mich völlig kalt gelassen.

In der Not frisst der Teufel Fliegen. Das wusste schon meine Oma, die gerne Dreigroschenromane las. Also versuchte ich es mit Joel Dicker und Laura Lippmann, Sarah Moss und Delia Owens

Während Dicker sich in Das Verschwinden der Stephanie Mailer (dt. von Amelie Thoma, Michaela Meßner) im Dickicht seines überambitionierten Plots verirrt, dekliniert Lippmann in ihrem Roman Sunburn altbekannte Muster durch, schafft es aber nicht, auch nur ein Fünkchen Spannung aufzubauen. 

Wie viele andere britische Krimiautor*innen, die ich in diesem und dem vergangenen Jahr gelesen habe, beschäftigt sich auch Sarah Moss in Ghost Wall (Geisterwand, dt. von Nicole Seifert, erscheint 2020) mit den zum Brexit gehörenden Denkmustern einiger Teile der britischen Gesellschaft, was an sich sicher interessant ist, bei ihr aber leider schablonenhaft ausfällt und nicht wesentlich zur Debatte beiträgt. 

Die Flusskrebse (I heard the Crawdads Sing, Der Gesang der Flusskrebse, dt. von U. Wasel, K.Timmermann), nun ja, kann man sich anhören bzw. lesen, muss man aber nicht (s. Mittelmäßigkeit). Den Hype um dieses Buch kann ich nicht nachvollziehen.

Unter meinen persönlichen Langweilern dieses Jahres tummelten sich außerdem Harriet Tyce (Blood Orange, dt. Blood Orange. Was sie nicht wissen, dt. von Kerstin Winter), Emily Gunnis (The Girl in the Letter, dt. Das Haus der Verlassenen, dt. von Carola Fischer), M.W. Craven (The Puppet Show), Louise Doughty (Honey-Dew) und James Delargy 55 (55 – Jedes Opfer zählt, dt. von Alexander Wagner). Wenn für mich bei einem Buch bis zu einem gewissen Punkt keine Spannung aufkommt und das Lesen zur Pflichtübung wird, lege ich es zur Seite. Und verschwende an dieser Stelle nicht noch mehr Zeit damit, mein sehr subjektives Urteil weiter auszuführen, denn das wäre vermutlich noch langweiliger. 

Aber es gab auch Begeisterungsmomente. Ich erwähnte eingangs diesen einen Roman, der mich tatsächlich beeindruckt hat: Peter Hellers The River (Der Fluss, dt. von Matthias Strobel). Warum? Weil der Autor schreiben kann, mich in seine Welt entführt, weiß, wie man knisternde (das musste sein) Spannung aufbaut und menschliche Abgründe auf ergreifende Art darstellt. Wer es genauer wissen will, kann einfach hier weiterlesen.

Kurz vor Schluss des Jahres flatterte mir dann doch noch ein wirklich vielversprechendes Buch auf den Tisch. Steph ChaYour House Will Pay (Brandsätze, dt. von Karen Witthuhn, erscheint 2020) erzählt die tragische Geschichte zweier Familien in LA, deren Schicksale sich an entscheidenden Punkten kreuzen.

Fazit: Ich freue mich auf 2020. Es kann nur besser werden. 

Andrea O’Brien hat unter anderem die fulminante Fiona. Als ich tot war von Harry Bingham übersetzt und ihn interviewt. Außerdem übersetzt sie die Crimson Lake Serie von Candice Fox. Zu Ihrer Internetseite geht es hier. Ihr Blog „Krimiscout“ zur englischen Spannungsliteratur enthält auch Fahnderprofile. Ihre Texte bei CrimeMag.

Sara Paretsky

Sara Paretsky

Historical fiction is difficult to write skillfully. For me, the gold standard is Hilary Mantel’s Wolf Hallyou enter the 15th century and are there without annoying efforts to recreate archaic language, without clumsy signposts flashing the date. 

Whispering City, the 2015 novel published by Rosa Ribas and Sabine Hofmann under the pseudonym Sara Moliner, similarly puts us into 1952 Spain. (English translation by Mara Faye Lethem). Franco, whose military dictatorship successfully overthrew Spain’s brief-lived Second Republic, has been in power for thirteen years. He has brutally eliminated any opposition through imprisonment, judicial murder, and isolation from the workplace. People live in fear of who may overhear their conversations or read their letters. The Catholic church is the country’s established religion and is a partner of the state – and vice versa. Women are removed from most professional jobs, and are urged through propaganda and less subtle means to think their sole role is in the home.

The whispering city of the title is Barcelona, setting for many historical novels of that era. Barcelona was the center of support for the Republic, and its politics were always further left than much of the rest of Spain. The Catholic church, in support of the regime, is about to hold a Eucharistic congress there, and the government will not tolerate any disarray of any kind.

Against this backdrop, when a wealthy woman is murdered, the police are prepared to perform a perfunctory investigation and not look for motives or any private conduct that would make regime supporters look bad.

One of the few journalism jobs that a woman can  handle in this era (and not just in Spain, by the way) is as a society reporter. And that is the job of one of the novel’s protagonists, young Ana Martí. Her father was a journalist in the pre-Franco era; he served prison time for his anti-regime reporting, and the family has to be more careful than most of how they behave in public. Nonetheless, Ana, who covered the murdered woman’s society appearances, starts to dig into the death.

The police inspector assigned to the case is brutal but not corrupt: while he criticizes her harshly he doesn’t shut Ana down, nor arrest her, as lie within his power.

The evidence Ana finds that contradict the official verdict comes from letters exchanged between the dead woman and an unknown lover. Ana seeks help from a cousin in her extended family, a woman more than twice her age named Beatriz, who had been a professor of philology before the Civil War. Beatriz was fired from her professorship because of her sex. She can’t find work and is slowly selling her collection of rare books to pay for food. She’s also bored, having to live at home, and so welcomes the chance to consult with young Ana on the letters.

The two women unravel the hidden meaning in the letters, and finally present enough evidence to the police that the true culprit is arrested. (The Spanish title was Don de Lenguas, gift of tongues, a nod to Beatriz’s special skill, and that of co-author Hofmann, herself a philology professor.)

I liked this novel for many reasons. The presence of an older woman as a partner in detection stands out. More important, the authors set their heroines in motion within the constraints of the regime. The women need to observe curfew. They need passes to travel outside Barcelona. They need to be wary of who may inform on them. They need to respect the regime’s emphasis on female docility and domesticity. I will confess that the writing could be smoother, more polished, but for two women to run a believable investigation within the constraints of Franco politics moves this book out of the ordinary. 

I keep hoping that Hofmann and Ribas will turn this into a series, and that we will see additional books by them in English.

Sara Paretsky – for CrimeMag. Most of her novels are available as eBooks in Germany. 2019 had Kritische Masse at Ariadne as a hardcover..

Schauspieler Murali Perumal, im Foyer des Theaters Nestroyhof / Hamakom in Wien

Murali Permual

Meine Highlights im Jahr 2019 sind größtenteils nichts Neues, wundert Euch nicht. Ich bin und bleibe Oldschool und habe wieder Bücher und Filme entdeckt, die es schon länger gibt. Was aber nicht heißt, dass sie heute keine Perlen wären, ganz im Gegenteil…

Beste Krimis: 

1. Jean-Patrick Manchette & Jean-Pierre Bastid: Laßt die Kadaver bräunen
Ein Wahnsinnsbuch!!! Sehr viel Action, überraschend, absurd und sehr witzig. Eins der besten Bücher, die ich je gelesen habe. Auch wenn es von 1971 ist, ein wirklicher Hammer!

2. Léo Malet: Zoff in der Rue des Rosiers
schon lange einer meiner Lieblingsautoren, mit Malet kann man nichts verkehrt machen. Die alte Schule, Crime Fiction, Noir, sehr klug geschrieben, schwarzer Humor und wer Paris liebt, kommt um seine Bücher mit  Privatdetektiv Nestor Burma nicht herum.

Beste Romane:

Carson McCullers: Frankie
Sie ist meine Lieblingsromanautorin und dieses Werk kommt sogar an ihr berühmtestes Buch The Heart is a Lonely Hunter heran. Ganz hervorragend geschrieben, sehr menschlich, still und tiefgehend! Beste Fiction!!!

Rajeev Balasubramanyam: Professor Chandra folgt seinem Flow – Ein Gute-Laune Buch für die Ferien! Toller Autor! Empfehlenswert!

Beste Sachbücher:

1. Hajo Funke: Der Kampf um die Erinnerung – Hitlers Erlösungswahn und seine Opfer

2. Priyanka Dubey: No Nation for Women– Reportage on Rape from India, the World’s largest Democracy

3. Wade Davis: The Wayfinders – Why Ancient Wisdom Matters in the Modern World( ein Geheimtipp und in unserer heutigen Zeit wichtiger denn je!)

4. Fabrice Midal: Die innere Ruhe kann mich mal – Meditation radikal anders

Bester Verlag: Cultur Books Verlag

Bester Film:Green Book“

Beste Serie: „The Fall – Tod in Belfast“

Ganz ganz tolle Krimiserie von 2013, erst dieses Jahr entdeckt und hellauf begeistert! Ein untypischer „hübscher“ Serienkiller als liebevoller Familienvater dargestellt und eine tolle Ermittlerin, gespielt von der wunderbaren Schauspielerin Gillian Anderson. Wie man diese relativ simple Geschichte so spannend über drei Staffeln erzählen kann, ist mir ein Rätsel. Da kommt keine deutsche TV-Krimiserie auch nur annähernd heran…leider!

Schauspielhaus Bochum, aufgenommen 2016 von Hans Jürgen Landes © Wiki

Bestes Theater: Bochumer Schauspielhaus

Galerie Kullukcu & Gregorian“ in München

Bestes Theaterstück: Christiane Mudra: „Kein Kläger“– NS-Juristen und ihre Nachkriegskarrieren

Schauspielhaus Bochum: Malte Jelden/ Björn Bicker: „Lehrerinnen“

Beste Ausstellung: Kunsthalle München: „Lust der Täuschung“– von antiker Kunst bis zur Virtual Reality.

Murali Perumals Website hier. Er war der einzige Schauspieler, der am Kongreß KrimisMachen 3 teilnahm.

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