Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019

CulturMag Highlights 2019, Teil 15 (WEB – Werth – Whish-Wilson – Whitmer)

WEB –
Christopher Werth –
David Whish-Wilson –
Benjamin Whitmer –

WEB

FIRST TIME

„The Favourite“ – Giorgos Lanthimos (2018). Eine schräge, makellose Posse in einem Aquarium kalkulierter Monstrosität – nach Lobster der zweite Geniestreich von Lanthimos.

„Burning“ – Lee Chang-Dong (2018). Wie man aus einer kargen Short Story einen zweieinhalbstündigen Film komponiert, der buchstäblich abhebt -: schwebt

„Stratos“ – Yannis Economides (2014).  Griechenland sieht aus wie Aserbaidschan. Und nie hat man einen unscheinbareren und unheroischeren Killer gesehen – der sich aber zugleich noch an so etwas wie Werte erinnert, und im Zweifelsfall auch an ihnen festhält.

„The Sea Wolf“ – Alfred Santell (1930). Ein Ereignis. Eine Mischung aus Hawks und Sternberg. Wie dieser Regisseur derart  rigoros aus der Filmgeschichte ausgesperrt geblieben ist, ist ein Rätsel. 

„Dragnet“ – Yasujiro Ozu (1933). Ein Gangsterfilm, leichtsinnig, mondän, ironisch – lauter Vokabeln, die man mit Ozu noch nie in Verbindung gebracht hat.

„Walk Cheerfully“ – Yasujiro Ozu (1930). Fahrten, Schwenks, „gewagte“ Einstellungen, drei vier  Männer beginnen auf einmal unisono zu tänzeln oder zu steppen: so spielerisch und erfrischend wie ein früher Godard. 

„There Was a Father“ – Yasujiro Ozu (1942). I can make fried tofu, boiled tofu, stuffed tofu. Cutlets and other fancy stuff, that’s for other directors. (Ozu).

„Tokyo Twilight“ – Yasujiro Ozu (1957). Nachkriegs-Pessimismus pur, extrem düster, für Ozu-Verhältnisse beinahe melodramatisch (inkl. einem Selbstmord!) und einer seiner wenigen Mißerfolge. 

„The Intruder“ – Roger Corman (1962). Ein Agitator bezieht Quartier in einer Kleinstadt im tiefsten Süden, um die Integration – zehn Schwarze sollen erstmals die lokale Schule besuchen dürfen – zu stoppen. Großartig; und bezeichnenderweise Cormans einziger Kassenflop.

Nguyen Le & Ngo Hon Quang – Ha Noi Duo (2017). Der in Paris geborene vietnamesische Gitarrist Nguyen Le mußte immer mit dem Vorwurf leben, Jazz und Vietnam nicht zusammenbringen zu können. Das hat sich mit diesem Album erledigt. Famos! 

REVISITED

„Leave Me Alone“ – Gerhard Theuring  (1971). Der über zweistündige Film  besteht ausnahmslos aus Einstellungen, die mit Aufblenden beginnen und mit Abblenden enden. Auf meine Frage im Q&A, ob er die Blenden schon in der Kamera (und nicht erst strategisch am Schneidetisch) gemacht habe, Gerhard, wie vom Blitz erschlagen: „Hast du das gesehen?“ Nein, das nicht; aber gefühlt.

„Night and the City“ – Jules Dassin (1950). Wegen der Blacklist in London statt New York gedrehter Noir um einen hysterischen Aufschneider, der einmal im Leben das große Los wittert und prompt als Leiche in der Themse endet.

„Force of Evil“ – Abraham Polonsky (1948). Es gibt keinen Film in dem Sprache so verdichtet und eigenständig – sprich unabhängig von Bild, Ton oder Story – ist, daß sie buchstäblich glüht.

„Tell Them Willie Boy Is Here“ – Abraham Polonsky (1968). Man erfährt, hautnah und emotional: was es heißt, einer Minderheit anzugehören – was eine Flucht ist und warum Menschen vor Menschen flüchten müssen – und was eine Verfolgung ist und warum Menschen andere Menschen verfolgen.

„Odds Against Tomorrow“ – Robert Wise (1959). Einer der letzten echten Noirs (Buch Abe Polonsky). Zwei Männer, die einander abgrundtief hassen, der Schwarze Harry Belafonte und der Rassist Robert Ryan, finden am Schluß nach einem Schusswechsel durch eine Explosion beide den Tod. Einer der Cops, die die beiden Leichen anstarren:  Which is which? Der andere: Take a pick.

„Dr. Strangelove“  –  Stanley Kubrick (1964).  So schockierend hundsföttisch & durchtrieben wie eh und je! Gemeiner – und zeitloser! – kann man nicht sein.

„Une Chambre en Ville“ – Jacques Demy (1982  ). Allein die Demos mit den singenden Streikenden und den zurücksingenden Bullen sind un-glaub-lich. Gegen ihn wirken seine anderen Filme wie Konfekt. Hier fühle ich mich zu Hause.

„I Was Born, But…“ – Yasujiro Ozu (1934). Ungeheuerlich! Fünfzehn Jahre später hat man das in Europa Neorealismus genannt! Gleichzeitig stecken aber auch der Humanismus von Chaplin und der Realismus von Harold Lloyd mit drin. 

The Catcher in the Rye – Jerome Salinger. Ein Wunder, echt! Liest sich im Alter von 75 Jahren trotz einer Million Kopisten und Imitatoren noch immer frisch wie der Frühling.

Leser der Filmkritik kannten das Kürzel WEB und schätzten Wolf-Eckart Bühlers Texte über John Ford und seine Stock Company, zum Polizeifilm oder zu linken Filmemachern wie Leo Hurwitz, Irving Lerner, Abraham Polonsky. Im Frühsommer 2016 zeigte das Filmmuseum München eine Retrospektive seiner Filme (Text von Alf Mayer dazu hier). Der beim US-Klassikerlabel Criterion digital remasterte  John-Huston-Film „The Asphalt Jungle“ ist mit WEBs Dokumentarfilm „Pharos of Chaos“ (1982) über den Schauspieler Sterling Hayden gekoppelt, dem auch sein Film „Der Havarist“ (1983) dann galt. Beide Filme hat das Filmmuseum München 2018 digital restauriert als Doppel-DVD herausgebracht. Alf Mayer dazu bei CrimeMag: König ohne Untertanen, WEBs Nachruf auf Hayden in unserem Verlust-Special: „Vale, Wanderer!

© Rupert Warren

Christopher Werth

Das Gastspiel der Wooster Group an der Berliner Schaubühne

Die Wooster Group aus New York ist so legendär, wie sie selten nach Europa kommt. Die avantgardistische Theatergruppe ist der Traum tausender Schauspieler:innen und Regisseur:innen. Dementsprechend kommen auch nur die allerbesten rein. In ihrem Stück “The Town Hall Affair” wird eine turbulente Podiumsdiskussion über das Verhältnis der Geschlechter aus den 1970ern nachgespielt, die wiederum auch in einem Dokumentarfilm festgehalten wurde. Die Dekonstruktion der Dekonstruktion. Positionen und Ideen von damals im Spiegel von heute. Gedanken werden immer wieder über mehrere Ecken umgeleitet und treffen schließlich über Bande ins Ziel. Das Setting ist simpel. Schauspieler:innen an Tischen und eine Leinwand, auf der parallel der Film gezeigt wird. Schlampige, beiläufige Lässigkeit, scheinbar nutzlos herumliegende Gegenstände, Mikrophone, ein Rednerpult. Die Schauspieler:innen sind reduziert auf ihre Fähigkeiten zu spielen, zu sprechen, zu singen, zu performen. Das reicht aus, um Magie zu erzeugen. Wenn man wie Regisseurin Liz Compte so ein exzellentes Ensemble hat, das mit präzisem, musikalischem Timing aus der Beiläufigkeit immer wieder große Momente schafft. Das Ergebnis: spektakuläres Theater für härteste Theaterfans.

Die Gesamtausgabe der Metro-Trilogie und der darauf basierende Ego-Shooter Metro Exodus von 4A Games aus Kiew

Schon das Warschauer Entwickler-Studio CD PROJECT RED zeigte mit den drei “The Witcher”-Spielen, wie viel Potential in der Transformation von Literatur zu Game steckt. Der dritte Teil “The Wild Hunt” zählt bis heute zu Recht zu den besten Spielen im Genre RPG (Role Play Game) aller Zeiten. Je besser die Story, umso besser und immersiver die Experience. Auch die neueste Adaption des Witcher-Stoffs von Netflix lässt schmerzhaft deutlich werden, wie viel kompromissloser die Warschauer Gaming-Meister die besondere Atmosphäre, die politische Themen und die widersprüchlichen Charaktere in ein packendes Erlebnis übersetzen konnten. 

Die Metro-Trilogie des russischen Schriftstellers Dmitri Alexejewitsch Gluchowski schreit geradezu nach einer Umsetzung als Game. Die drei Romane sind 2019 noch einmal in einem massiven, wunderschön und hochwertig gestalteten Hardcover-Band bei Heyne herausgekommen, aus dem Russischen übersetzt von David Drevs. Ein Buch, bei dem die Gestaltung, Aufmachung und das Lesevergnügen in tollem Verhältnis stehen. 

Kurz zur Handlung der Metro-Trilogie: Wir befinden uns in der Moskauer Metro nach einem apokalyptischen Atomkrieg, der das Leben, wie wir es kennen, an der Oberfläche ausgerottet hat. Die einzelnen Stationen der Metro sind nach erbitterten Kämpfen unter allen erdenklichen Gruppen aufgeteilt, die die menschliche Neigung zu verschiedensten Formen von Extremismus hergibt. Es gibt eigene Stationen für Spezies wie Satanisten, Nazis, Menschenfresser, Trotzkisten, Bibliothekare, Sonnenanbeter, Kapitalisten, Akademiker, Christen oder Techniker, die sich trotz aller Differenzen gegen gemeinsame Bedrohungen stellen müssen. Während die ersten beiden Teile vor allem unter der Erde spielen, verlassen wir im dritten Teil die Moskauer Metro und fahren mit einer alten Dampflock durch das gesamte atomar verseuchte Russland. Das ist dann auch die Handlung des Spiels “Metro Exodus”. Die Bezeichnung des Genres: Story-Shooter. Mit verschiedenen Waffen sind Aufträge zu erledigen, bei denen es gilt, am Leben zu bleiben, um die Mission zu erfüllen, einen nicht verseuchten Ort auf der Erde zum Leben zu finden.

Mit unfassbarer Liebe zum Detail sind die Welten und Charaktere gestaltet. Von den Gängen der Metro über die endlosen weiten an der Wolga, die Wüste am Kaspischen Meer oder das gnadenlose Sibirien. Fantastische Landschaften können erkundet werden und machen so die klaustrophobische Story zu einem der besten Spiele des Jahres 2019.

Das Debut-Album des Kaiser Quartett

Im Gegensatz zu den brillanten Einsätzen als “bester Synthesizer der Welt” bei Chilly Gonzales kommt beim Debüt der vier Herren nicht nur die Beherrschung der Instrumente, sondern auch das Können des Bratschers und Komponisten Ingmar Süberkrübs voll zur Geltung. Er schreibt dem Quartett Pop-Kunstwerke voller Intelligenz, Humor und Biss auf den Klangkörper. Einerseits Avantgarde, die den Klanghorizont von Violine, Bratsche und Cello über die Grenzen hinaus auslotet, andererseits Melodien, von denen man nicht genug bekommt. Highlight ist das Stück “Skate”. Hier hat sich das Kaiser Quartett die internationale Hip Hop-Legende C‐Rayz Walz aus der Bronx ins Studio geholt, der den Track mit lässigem Flow und einer Musikalität meistert, die sich voll auf Augenhöhe mit den vier Virtuosen befindet und das Kaiser Quartett so zu einem Quintett erweitert.

Christopher Werth bei CrimeMag.

David Whish-Wilson

This year has been a good one for crime reading, with some favourite new novels out by Adrian McKinty (The Chain), Emma Viskic (Darkness for Light), Dave Warner (River of Salt), Garry Disher (Peace) and Jock Serong (Preservation). For my Christmas reading, I’m looking forward to cracking into Sticking It to the Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1950 to 1980, edited by Andrew Nette & Iain McIntyre, following their earlier pulp collaboration – Girl Gangs, Biker Boys, and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950 to 1980. I’ve got a chapter in the new book, but I know I’m going to love the range, research and comment across the whole thing.

I’m currently reading something else by Iain McIntyre – On the Fly!: Hobo Literature and Songs, 1879–1941, out this year with PM Press. It’s a fascinating collection of Hobo writing – stories, songs, poems and articles by Hobo writers, as well as some sharp analysis about who and what constituted the groups of men and women who rode the roughly 250,000 miles of US train-tracks over some six decades, and why they did it. Puts my father’s favourite Hank Williams song, ‘Ramblin Man’, into high-res context.

I’m off next year to live and work on a Sea Shepherd vessel in Equatorial and West Africa, to write about the nexus between organised crime, contract slavery and illegal fishing in the territorial waters of the eight African nations who’ve hired Sea Shepherd as a privateer entity. Sea Shepherd’s role here is to identify IUU (illegal, unreported and unregulated) fishing in these waters and allow local law enforcement to intervene, and where appropriate, to arrest IIU actors. Two terrific books that canvas a lot of the same material have been extremely useful – Ian Urbina’s Outlaw Ocean, and Catching Thunder: The Story of the World’s Longest Sea Chase, by Norwegian journalists Eskil Engdal and Kjetil Sæter (translated into English by Diane Oatley). Urbina worked on Outlaw Ocean for ten years while reporting for the New York Times – covering a range of crimes that took place (and continue to take place) in international waters, enabled by lax administration, official corruption and a general apathy by nations to enforce international treaty obligations. The book is by turns shocking and illuminating. Sadly, what amounts to modern-day slavery is alive and well on the high seas, as is the pillaging of a rapidly diminishing natural resource important to so much of the earth’s population, by shady and brutal corporations and crime syndicates. 

Catching Thunder: The Story of the World’s Longest Sea Chase, follows the story of the Sea Shepherd vessel the Bob Barker, under Captain Peter Hammarstedt, which in 2015 hounded the pirate vessel Thunder out of the Southern Ocean, where it and others were engaged in the highly lucrative plunder of toothfish stocks (the Thunder alone is thought to have earned its Galician mafia owners some 80 million dollars in just a few years, drawing up on occasion a million dollars’ worth of fish from its 60 kilometres of nets in a single day.) The book has an enviable structure for a work of journalism; following the activities on board the Bob Barker and the Thunder in intimate detail with a narrative form whose tension and intrigue is informed by the ongoing chase narrative across several oceans, and which ultimately ended in the deliberate scuttling of the pirate ship – while brilliantly drawing out the background research into the shady dealings and operators across several nations that make pirate fishing so persistent, widespread and lucrative.

David Whish-Wilson lives in Fremantle, Western Australia, where he teaches creative writing at Curtin University. His website here. Die Ratten von Perth (Line of Sight) was published in Germany in 2017, Die Gruben von Perth (Zero to the Bone) in 2018.  Alf Mayer wrote a not too small portrait. And also a review of The Coves, one for True West will follow.

Benjamin Whitmer

So I’ve been trying to think about the things that had the most impact on me this year since I was asked to do this. There’s a lot I loved. I read a bunch of books, watched movies when it was too late to read, and listened to music pretty much all the time. But thinking about it, if there was one thing that set my sights like nothing else, it was the new Sturgill Simpson album, Sound & Fury.

Simpson started as a neo-traditional country music artist, but this album was something different. A skanky synth-rock mashup designed to piss off country traditionalists. And if there’s anything I like better than traditionalists, it’s pissing them off. Especially when you’re doing it with an album that opens with a snippet from Alex Jones and lines about having a „Socom Scout and twenty extra mags, and a couple severed heads in my bugout bag.“ I can’t think of a better way to piss off nearly everyone. 

I loved the album from the first note, but I didn’t know how much I was gonna love it until I got to its centerpiece, and one of the best artistic manifestos I’ve ever heard, „Make Art, not Friends.“ As far as I can tell, and it ain’t real subtle, it’s Simpson saying „fuck you“ to market forces so he can wall himself off from all the noise and bullshit and write the best songs he can write, with no regard for who he pisses off. It feels desperate. It feels like he made this album because the only other option was going completely batshit. 

I think I’ve listened to it a couple hundred times now, and I’ll probably listen to it a couple hundred more. Because right now there’s almost nothing out there but noise and bullshit, top to bottom. Locking the door and making art with no regard for whether it sells or who it pisses off might be the only sanity left. 

Benjamin Whitmer is one of Wolgang Franßen’s favorite authors. He published Im Westen nichts (Pike) and Nach mir die Nacht (Cry Father) in 2016 and 2017 at Polar. Ute Cohen (also in this Year’s-end-issue) wrote a review titled „Wildromantische, vogelfreie Scheisse“, and CrimeMag published the opening pages of the aptly named Im Westen nichts. In the West – Nothing. Ben’s novel Flucht (Old Lonesome) about a jailbreak at New Year’s Eve 1968 in Colorado, translated by Alf Mayer, will be published by Polar Verlag in April 2020.



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