Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Neu gelesen: Elsa Morante »La storia«

Unvergessliche Lektüre

Vielleicht mag die kommende Frankfurter Buchmesse im Oktober Anlass sein, dass man „La Storia“ von Elsa Morante (1912-1985), einer der großen italienischen Romane des 20. Jahrhunderts, in einer Neuübersetzung wieder- und neuentdecken kann und sollte. Schließlich steht die Literatur vom „Stiefel“ im Mittelpunkt, Italien ist Gastland. Aber der Wälzer mit seinen mehr als 700 Seiten ist und bleibt eines: aktueller denn je. An vielen Stellen der Welt herrscht Krieg, der je nach Schauplatz mehr oder weniger Schlagzeilen erzeugt. Vom gewaltvollen Aufeinanderprallen von Mächten, dem keiner entfliehen kann, handelt Morantes Meisterwerk, das mich tief berührt hat wie zuletzt kein Buch.

Anlass für diesen Roman war eine Meldung in einer Zeitung, in der über das traurige Schicksal einer Mutter mit ihrem Sohn nebst Hund berichtet wird. Es bildet letztlich den tragischen Abschluss des Romans und einer Reihe dramatischer Geschehnisse. Von nahezu allen Figuren, die man im Verlauf kennengelernt hat, muss man sich verabschieden. Sie werden durch Krieg und dessen Folgen sowie durch verschiedene Umstände ausgelöscht. „La Storia“ ist kein Roman, der Hoffnungen macht, sondern mit einer erschütternden Ehrlichkeit von all dem Leid berichtet.

Das Geschehen setzt im Jahr 1941 ein. Der Zweite Weltkrieg wütet, Italien kämpft zu Beginn an der Seite von Nazi-Deutschland und der Wehrmacht. Ida Ramundo, eine Lehrerin, lebt mit ihrem Sohn Nino allein und zurückgezogen in einer kleinen Wohnung im Viertel San Lorenzo in Rom. Ihr Mann ist bereits gestorben, in Rückblicken wird ihre Herkunft geschildert. Schon ihre Eltern waren Lehrer, ihre Mutter ist Jüdin, ihr Vater Atheist. Eines Tages wird sie von einem deutschen Soldaten vergewaltigt. Aus diesem gewaltvollen Akt entsteht ihr zweiter Sohn Useppe, der allzu früh zur Welt kommt.

Ida bemerkt, dass er ein besonderes Kind ist, das die Welt mit anderen Augen zu sehen scheint, eine unfassbare Lebensfreude ausstrahlt und eine besondere Beziehung zu Tieren pflegt. Oft ist Useppe auf sich allein gestellt, da seine Mutter arbeitet, sein großer Bruder um die Häuser zieht. Ida liebt Useppe innig, auch Nino, der sich zuerst den Faschisten anschließt, um jedoch später als Partisan gegen die Deutschen, die im Laufe der Kriegsereignissen einen Teil Italiens besetzt halten, zu kämpfen, ist in seinen kleinen Bruder vernarrt. Nachdem das Haus, in dem die Familie lebt, von einer Bombe getroffen und zerstört wird, ziehen Ida und Useppe in eine Not-Unterkunft für Evakuierte in einem Vorort Roms, Herberge für die unterschiedlichsten Menschen samt ihren Tieren: da ist eine Großfamilie, „Tausend“ genannt, da ist auch Davide, ein junger Jude, der sich vor den Deutschen in Sicherheit bringen konnte und später an der Seite Ninos in den Widerstand geht. Später werden Mutter und Sohn in die Wohnung einer Familie ziehen, dessen Sohn in Russland an der Front kämpft. Der Krieg ist für die Ramundos eine Zeit des ständigen Herumirrens, eines leidvollen Daseins zwischen Leben und Tod.

Die Not und das Leid werden von Tag zu Tag größer. Eindrücklich beschreibt Morante, welche Folgen Krieg und Besatzung auf die Zivilbevölkerung haben. Die Menschen fürchten um ihr Leben bei Bombenangriffen oder der systematischen Verfolgung der politischen Gegner und vor allem der jüdischen Bevölkerung, auch Ida hat Angst, als Jüdin erkannt zu werden, und entdeckt eines Tages am Bahnhof Tiburtina einen Güterzug voller Menschen auf dem Weg in das Vernichtungslager Auschwitz; eine der wohl dramatischsten Szenen des Romans. Es herrscht Hunger, die Schwarzmarkt-Preise bringen Ida um ihre Ersparnisse, später wird sie stehlen, um ihrem kleinen Sohn und sich das Überleben zu sichern. Sie denkt dabei mehr an Useppe als an sich, bei dem sie schließlich eine Charakterveränderung wahrnimmt. Aus dem Sonnenschein ist ein stiller, in sich gekehrter Junge geworden, den schließlich furchtbare Anfälle, die seinen kleinen Körper erschüttern, ereilen und unter denen bereits Ida als Kind gelitten hatte. Obwohl der Krieg beendet ist, bleiben Idas Sorgen.

„La Storia“ erschien 1974 im Verlag Einaudi. Morante, 1912 als Tochter einer jüdischen Lehrerin und eines Postbeamten geboren, hatte an ihrem Werk seit den 1960er-Jahren gearbeitet. Ihr Wunsch war es, dass ihr Roman in einer verständlichen Sprache geschrieben ist und als Taschenbuch erscheint, damit so viele Leser wie möglich Zugang zu ihrem Buch haben, das sowohl die Geschichte einer Familie als auch die Schicksale verschiedener Personen in Nebenszenen erzählt, die der Gewalt und dem Schrecken des Krieges ausgesetzt sind. „La Storia“ wurde ein bis dahin unerreichter Publikumserfolg.

Allein im Jahr seines Erscheinens wurden in Italien 600.000 Exemplare des Romans verkauft. Morante, die bereits als Jugendliche geschrieben hat, war da allerdings keine Unbekannte mehr. Für ihren Roman „Lüge und Zauberei“ („Menzogna e Sortilegio“), 1948 erschienen, erhielt sie den Literaturpreis Premio Viareggio. Für ihren zweiten Roman „Arturos Insel“ („L’isola di Arturo“) wurde ihr 1957 der Premio Strega verliehen. Morantes letzter Roman „Aracoeli“ wurde 1984 mit dem Prix Médicis ausgezeichnet. Heute gilt Morante, die mit dem Schriftsteller Alberto Moravia (1907-1990) verheiratet war, zu den einflussreichsten Schriftstellerinnen ihres Landes. Zu ihren engsten Freunden zählten Natalia Ginzburg und Pier Paolo Pasolini.

In ihrem Nachwort zu ihrer Neuübersetzung gehen Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski auf die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung des Romans ein. Die Italienerin wollte ihr Werk als große Anklage verstanden wissen, als ewige Geschichte von Gewalt und Unterdrückung. Trotz seines Umfangs und langer Bandwurm-Sätze liest man den Roman wie in einem Rausch, was an der Spannung und der völligen Hingabe Morantes für ihre Figuren liegt. Die Passagen, in denen die Verbindung zwischen Ida und ihrem jüngsten Sohn sowie dessen Zuneigung zu Tieren wie den Hunden Blitz und Bella sowie zum älteren Bruder beschreiben, sind voller ergreifender Emotionen.

Diese private Geschichte bettet Morante indes ein in die realen Geschehnisse. Jahreszahlen mit den wichtigsten politischen wie gesellschaftlichen Ereignissen verorten die Handlung zeitlich, die von einem unbekannten Erzähler geschildert wird. Hinzu kommen Lieder, Reime und Zitate anderer Autoren, die den Roman zu einem vielstimmigen und komplexen Werk machen, das in einer eindrucksvollen Neuübersetzung, die sich laut den beiden Übersetzerinnen mehr an den Ausgangstext hält, wieder entdeckt werden kann. Wem nur wenig Zeit bleibt, im Zuge der Frankfurter Buchmesse die italienische Literatur kennenzulernen, sollte vor allem zu „La Storia“ greifen. Anspruchsvoll, aber eine Lektüre, die sich einprägt und unvergesslich bleibt.

Elsa Morante: La Storia (1974). Neu übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski. Verlag Klaus Wagenbach, Hamburg 2024. 768 Seiten, Lesebändchen, gebunden, 38 Euro. – Verlagsinformationen.

Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.

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