Geschrieben am 1. November 2022 von für Crimemag, CrimeMag November 2022

Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt

Ein Textauszug aus seinem Buch über Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter

Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter (Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World, 2001). Aus dem Amerikanischen übersetzt und bearbeitet von Ingrid Scherf, Britta Grell, Jürgen Pelzer. Assoziation A, Berlin/ Hamburg 2019 (4. Auflage, erstmals 2004). 

Zwischen 1870 und 1914 wurden die Länder der Tropen vollständig der Dynamik der von den westlichen Metropolen aus gesteuerten Weltwirtschaft unterworfen. Diese „Anpassung“ an die ökonomischen und politischen Strukturen des Imperialismus war in Kombination mit der Klimakatastrophe überaus tödlich. Mike Davis spricht von Völkermorden. Ein wichtiger Begriff in seinem Buch ist ENSO. Das ganze gigantische Auf und Ab von Luftmassen und Meerestemperaturen, das bis in den indischen Ozean reicht, wird offiziell als »El Niño-Southern Oscillation« (oder kurz ENSO) bezeichnet. – d.Red.

Textauszug aus dem Vorwort:

»Gefangene des Hungers« 

Gleichzeitig auftretende verheerende Dürren schufen ein Milieu für komplexe soziale Konflikte, deren Brandbreite von Auseinandersetzungen in den Dörfern über Whitehall bis zum Berliner Kongress reichten. Obwohl Missernten und Wasserknappheit epische Ausmaße annahmen – oft waren es die schlimmsten seit Jahrhunderten – gab es fast immer Getreideüberschüsse in anderen Gebieten des Landes oder des Empires, mit denen man die Opfer der Dürre im Grunde hätte retten können. Niemals handelte es sich um einen absoluten Notstand, abgesehen vielleicht von der Situation in Äthiopien 1889. Ausschlaggebend für Leben und Tod waren indessen die aufkommenden Warenmärkte und Preisspekulationen auf der einen und der (breiten Protesten nachgebende) Wille des Staates auf der anderen Seite. Wie wir sehen werden, gab es drastische Unterschiede zwischen den Staaten und ihren Kapazitäten, Missernten auszugleichen, sowie beim Umgang mit vorhandenen Ressourcen bei der Hungerbekämpfung. Das eine Extrem war Britisch-Indien unter der Herrschaft der Vizekönige Lytton, dem zweiten Elgin und Curzon, wo inmitten einer entsetzlichen Hungersnot das Smith’sche Dogma und kaltblütiges imperiales Eigeninteresse den Export riesiger Getreidemengen nach England ermöglichten. Das andere Extrem war der tragische Fall von Äthiopien, wo König Menelik II. mit heroischen Anstrengungen, allerdings unzureichenden Mitteln versuchte, sein Volk vor einer Kombination aus natürlichen und von Menschen verschuldeten Plagen wahrhaft biblischen Ausmaßes zu retten. 

Aus einer etwas anderen Perspektive betrachtet, wurden die Menschen, um die es in diesem Buch geht, zwischen drei gewaltigen und unerbittlichen Mahlsteinen der modernen Geschichte zerrieben. Erstens kam es zu einer fatalen Synergie extremer Entwicklungen im weltweiten Klimasystem und in der spätviktorianischen Weltwirtschaft. Dies war eigentlich mit das größte Novum des damaligen Zeitalters. Vor 1870 und der Entstehung eines rudimentären internationalen Wetterdienstsystems hatte man in der Wissenschaft Dürren planetarischen Ausmaßes kaum für möglich gehalten; bis zu diesem Jahrzehnt waren die ländlichen Gegenden Asiens auch noch nicht so weit in die Weltwirtschaft integriert, dass sie ökonomische Schockwellen aussenden oder vom anderen Ende der Welt empfangen konnten. Zwischen 1870 und 1880 finden sich jedoch zahlreiche Hinweise auf einen neuen Teufelskreis (den Stanley Jevons als erster Wirtschaftswissenschaftler erkannte), der über den internationalen Getreidemarkt Wetterbedingungen und Preisschwankungen aneinander koppelte.(25) Plötzlich waren der Weizenpreis in Liverpool und der Niederschlag in Madras Variablen in ein und derselben gigantischen Gleichung des Überlebenskampfes der Menschen. 

Indigo-Fabrik in Bengalen um 1900 © wiki-commons

Die ersten sechs Kapitel liefern Dutzende Beispiele für die unheilvolle Wechselbeziehung zwischen klimatischen und ökonomischen Prozessen. Die meisten der indischen, brasilianischen und marokkanischen Bauern, die zwischen 1877 und 1878 starben, waren zuvor aufgrund der 1873 einsetzenden Weltwirtschaftskrise (der »Großen Depression« des 19. Jahrhunderts) verelendet und für Hunger anfällig geworden. Im China der Qing beschleunigten die rapide steigenden Handelsdefizite – die durch britische Drogenhändler künstlich erzeugt worden waren – den Niedergang der »traditionellen« Kornspeicher, die im Kaiserreich Schutz vor den Auswirkungen von Dürre und Flutkatastrophen geboten hatten. Im Gegensatz dazu hatte die Trockenheit im Nordosten Brasiliens 1889 und 1891 die Bevölkerung bereits geschwächt, als die ökonomische und politische Krise der neuen Republik einsetzte und ihre Auswirkungen verstärkte. 

Allerdings müssen Kondratieff (der Theoretiker der ökonomischen »langen Wellen«) und Bjerknes (der Theoretiker der El-Niño-Schwankungen) durch Hobson, Luxemburg und Lenin ergänzt werden. Der Neue Imperialismus war der dritte Impuls in dieser Katastrophengeschichte. Wie Jill Dias am Beispiel der Portugiesen in Angola so hervorragend herausgearbeitet hat, orientierte sich die koloniale Expansion stark am Rhythmus der Naturkatastrophen und Seuchen.(26) Jede globale Dürre war das Signal für eine neue impe- rialistische Landnahme. So bot beispielsweise 1877 die Dürre in Südafrika Carnarvon eine günstige Gelegenheit, gegen die Unabhängigkeit der Zulus vorzugehen, und die Hungersnot in Äthiopien in den Jahren 1889 bis 1891 betrachtete Crispin als politische Vollmacht, ein neues Römisches Reich am Horn von Afrika zu errichten. Auf ähnliche Weise nutzte das wilhelminische Deutschland die Flut- und Dürrekatastrophen, die nach 1890 Shandong verwüsteten, zur Ausdehnung seines Einflusses in Nordchina, während die USA zur gleichen Zeit Dürre und Hunger sowie Krankheitsepidemien als Waffen einsetzten, um die Philippinische Republik unter Aguinaldo zu vernichten. 

Die Agrargesellschaften Asiens, Afrikas und Südamerikas ließen sich jedoch nicht friedlich in die neue imperiale Ordnung einfügen. Hungersnöte sind Kriege, die das Existenzrecht in Frage stellen. Dass sich der Widerstand gegen die Hungersnöte in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts (außer im südlichen Afrika) vorwiegend in lokalen Aufständen entlud, abgesehen von einigen wenigen Beispielen gut organisierter Rebellionen, lag zweifellos an der noch wachen Erinnerung an den staatlichen Terror bei der Niederschlagung des indischen Sepoy- und des chinesischen Taiping-Aufstands. Am Ende des Jahrhunderts hatte sich die Situation gewandelt, und moderne Historiker haben die Rolle deutlich herausgestellt, die Dürre und Hunger beim Boxer-Aufstand in China, in der koreanischen Tonghak-Bewegung, beim aufkommenden indischen Extremismus und im Krieg von Canudos in Brasilien ebenso wie bei unzähligen Revolten im östlichen und südlichen Afrika spielten. Der Messianismus, der die künftige »Dritte Welt« am Ende des 19. Jahrhunderts erfasste, bezog den Großteil seiner eschatalogischen Energie aus solch schweren Subsistenz- und Umweltkrisen. 

Aber wie steht es mit der Rolle der Natur in dieser blutigen Geschichte? Was setzte das große Rad der Dürre in Bewegung, und ist ein periodisches Auftreten charakteristisch? Wie wir in Teil III sehen werden, waren gleichzeitig auftretende Dürren aufgrund massiver Verschiebungen in der üblichen saisonalen Position tropischer Hauptwettersysteme eines der großen wissenschaftlichen Rätsel des 19. Jahrhunderts. Der entscheidende theoretische Durchbruch erfolgte erst in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, als Jakob Bjerknes von der University of California in Los Angeles zum ersten Mal nachwies, wie der äquatoriale Pazifische Ozean, in Verbindung mit den Passatwinden als planetarischer Hitzegenerator fungierend, die Niederschläge in den Tropen und sogar den gemäßigten Breiten beeinflusste. 

Rasche Erwärmung des östlichen tropischen Pazifiks (genannt El Niño) führt beispiels- weise zu schwachen Monsunniederschlägen und damit einhergehenden Dürren in weiten Teilen Asiens, Afrikas und im nordöstlichen Südamerika. Ist der östliche Pazifik dagegen ungewöhnlich kühl, kehrt sich das Muster um (La-Niña-Ereignis genannt), und es kommt zu anomalen Niederschlägen und Überschwemmungen in denselben »televerbundenen« Regionen. Das ganze gigantische Auf und Ab von Luftmassen und Meerestemperaturen, das bis in den indischen Ozean reicht, wird offiziell als »El Niño-Southern Oscillation« (oder kurz ENSO) bezeichnet. 

Die erste zuverlässige Chronologie über das Auftreten von El Niño, beziehungsweise der so genannten El-Niño-Ereignisse, für die mit großer Akribie meteorologische Daten und eine Vielzahl unterschiedlicher Aufzeichnungen (einschließlich der Tagebücher der Konquistadoren) ausgewertet wurden, ist erst zwischen 1970 und 1980 entstanden.(27) 

Der äußerst starke El Niño von 1982 weckte erneut das Interesse an der Geschichte der Auswirkungen früherer Ereignisse. 1986 publizierten zwei Forscher eines internationalen Wetterforschungslaboratoriums in Colorado einen detaillierten Vergleich der meteorolo- gischen Daten über Anomalien zwischen 1876 und 1982, wobei sie die erste als paradig- matisches ENSO-Ereignis ausmachten: vielleicht das stärkste in den letzten 500 Jahren (vgl. Abbildung P2).(28) Auch das ungewöhnliche Hintereinander tropischer Dürreperioden und ausbleibender Monsunregen in den Jahren 1896/1897, 1899/1900 und 1902 wurde eindeutig mit den El-Niño-Erwärmungen im östlichen Pazifik in Verbindung gebracht. (Die Überschwemmung des Gelben Flusses war dementsprechend vermutlich eine La-Niña- Anomalie.) Tatsächlich weist das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, wie das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, im Vergleich zum jahrhundertlangen Mittel eine außergewöhnliche Intensivierung der El-Niño-Aktivität auf.(29) 

Wenn in den Augen der Wissenschaft die Klimakatastrophen des viktorianischen Zeitalters durchweg die unheilvollen Merkmale von ENSO zeigen, so müssen die Historiker diese Erkenntnis erst noch entsprechend auswerten. In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche Fallstudien durchgeführt und Abhandlungen erstellt, die unser Wissen über die Auswirkungen der Weltmarktkräfte auf die Landwirtschaft außerhalb Europas außerordentlich vertieft haben. Wir verstehen nun weit besser, wie die Teilpächter in Ceará, die Baumwollproduzenten in Berar und die armen Bauern im westlichen Shandong in die Weltwirtschaft eingebunden waren und weshalb sie dadurch den Dürren und Überflutungen stärker schutzlos ausgeliefert wurden. Wir verfügen auch über beeindruckende Analysen größerer Teile des Puzzles: den Niedergang der Systeme der Kornspeicher und der Flutkontrolle im Qing-Reich, die internen Strukturen des indischen Baumwoll- und Weizenexportsektors, die Rolle des Rassismus in der regionalen Entwicklung im Brasilien des 19. Jahrhunderts und vieles mehr. 

Teil IV stellt den ehrgeizigen Versuch dar, diese umfangreiche Literatur nach Informa- tionen über die im Hintergrund wirkenden Kräfte zu durchforsten, die für die Anfälligkeit gegenüber Hungersnöten verantwortlich waren und letztendlich auch darüber entschieden, wer sterben musste. Werden in den einleitenden geschichtlichen Abrissen von Teil I und II kurzfristige konjunkturbedingte ökonomische Faktoren (wie das Ende des Baumwollbooms oder die Rezession des Welthandels) beschrieben, beschäftigen sich die abschließenden Kapitel mehr mit den langfristigeren strukturellen Prozessen: der perversen Logik der Kommerzialisierung der Subsistenz, den Folgen aus den Verträgen über die Kolonialabgaben, dem Einfluss des neuen Goldstandards, dem Verfall regionaler Bewässerungssysteme, dem informellen Kolonialismus in Brasilien und so weiter. Am Anfang steht ein Kapitel, das eine Übersicht über die gesamte spätviktorianische Wirtschaftsordnung liefert, einschließlich der strategischen Beiträge der indischen und chinesischen Bauernschaft, insbesondere zur Aufrechterhaltung der britischen Vormachtstellung. Danach folgt eine kritische Zusammenfassung einiger Studien jüngeren Datums über Indien, China und Brasilien im 19. Jahrhundert. 

Dies ist eine Arbeit über die »Politische Ökologie des Hungers«, da man sowohl vom Standpunkt der Umweltgeschichte und dem der marxistischen Politischen Ökonomie aus argumentieren muss: ein Ansatz zur Analyse der Geschichte der Subsistenzkrisen, wie er von Michael Watts in seinem Buch Silent Violences: Food, Famine and Peasantry in Northern Nigeria erstmals entwickelt wurde.(30) Obwohl andere Sammelbegriffe und Verbindungen denkbar sind, ermutigt mich die Tatsache, dass Watts und seine Mitarbeiter ihre Arbeit als »Politische Ökologie« bezeichnen, das Gleiche zu tun, und sei es auch nur, um so meine Dankbarkeit und Solidarität zum Ausdruck zu bringen. (Wer mit dem Buch von Watts vertraut ist, wird leicht seinen Einfluss auf meine Arbeit erkennen können.) 

Schließlich habe ich noch versucht, David Arnold zu berücksichtigen, der immer wieder die prominente Rolle der Hungerkatastrophen als »Motoren der historischen Transforma- tion« betont hat.(31) Die großen viktorianischen Hungersnöte waren die Antriebskräfte und beschleunigenden Momente eben jener ökonomischen Kräfte, die sie verursacht hatten. Eine Kernthese dieses Buches ist, dass das, was wir heute (mit einem Begriff aus der Zeit des Kalten Krieges) die »Dritte Welt« nennen(32), ein Produkt der Einkommens- und Ver- mögensungleichheiten ist – der berühmten »Entwicklungslücke«, die vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden ist, als man begann, die großen Bauernschaften außerhalb Europas in die Weltwirtschaft zu integrieren. Wie andere Historiker vor kurzem nachgewiesen haben, gab es zur Zeit des Sturms auf die Bastille zu den vertikalen Klas- senunterschieden innerhalb der großen Gesellschaften dieser Welt keine entsprechenden dramatischen Einkommensunterschiede zwischen den Gesellschaften. Die Unterschiede im Lebensstandard zwischen einem französischen Sansculotte und einem Bauern des Dekhan waren relativ unbedeutend im Vergleich zu der Kluft, die beide von ihren jeweiligen herrschenden Klassen trennte.(33) Am Ende der Herrschaft von Königin Viktoria war jedoch die Ungleichheit zwischen den Nationen so groß wie die Ungleichheit zwischen den Klassen. Die Menschheit war unwiderruflich geteilt. Und die berühmten »Gefangenen des Hungers«, die die Internationale zum Aufstand ermutigt, waren ebenso moderne Erfindungen des spätviktorianischen Zeitalters wie das elektrische Licht, Maschinengewehre und der »wissenschaftliche« Rassismus. 

Anmerkungen:

  1. 25  Vgl. Kapitel VII.
  2. 26  Jill Dias, »Famine and Disease in the History of Angola, 1830–1930«, in: Journal of African History 22, 1981.
  3. 27  P. Wright, An Index of the Southern Oscillation, University of East Anglia, Climate Research Unit Publication, Norwich 1975; und William Quinn u.a.: »Historical Trends and Statistics of the Southern Oscillation, El Niño, and Indonesian Droughts«, in: Fish.Bull. 76, 1978.
  4. 28  George Kiliadis und Henry Diaz, »An Analysis of the 1877–1878 ENSO Episode and Com- parison with 1982–1983«, in: Monthly Weather Review 114, Juni 1986. Obwohl sie der »Ver- suchung widerstehen«, die ›Intensität‹ der beiden Ereignisse zu vergleichen, betonen sie, dass der El Nino von 1876 bis 1878 länger dauerte und über weite Gebiete in den Tropen durch Luftdruckanomalien über dem Meer verbunden war (S. 1046).
  5. 29  Peter Whetton und Ian Rutherford, »Historical ENSO Teleconnections in the Eastern He- misphere«, in: Climatic Change 28, 1994, S. 243.
  6. 30  Michael Watts, Silent Violence: Food, Famine and Peasantry in Northern Nigeria, Berkeley 1983.
  7. 31  David Arnold, Famine, Social Crisis and Historical Change, London 1988.
  8. 32  Alfred Sauvy, »Trois mondes, une planète«, in: L’Observateur 118, 14. August 1952, S. 5.
  9. 33  Vgl. die Diskussion in Kapitel IX; vgl. auch die lange erwartete Studie von Kenneth Pomeranz,The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton, New Jersey 2000; sie erschien, als dieses Buch bereits im Druck war.

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