Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Michael Friederici: Olympia 2024, Paris

Erst die Kicker, jetzt die Olympioniken: Deutsche Sportler versagen dabei , das Volk zu einen

Dabeisein ist nicht alles!

Der „olympische Traum“ lebt.  Diesmal hat Frankreich sein Sommermärchen erlebt. Alle Franzosen wurden – Brüder, Schwestern – und Diverse, während „die Deutschen“ im Medaillenspiegel auf das schlechteste Ergebnis seit 1952 abstürzten. Nationale Aufbruchstimmung sieht anders aus  – meint Michael Friederici, der die Eröffnung allerdings grandios fand.

2021 hatte das Olympische Komitee auf Vorschlag seines Präsidenten Thomas Bach das alte olympische Motto „citius, altius, fortius“, schneller, höher, weiter, um „communis“, gemeinsam – erweitert – und für 2024 die „Open Games“ ausgerufen. Die Franzosen änderten das offizielle Motto in das wortverspielte, fast kubricksche „Ouvrons grand les jeux“ („Lasst uns die Spiele/die Augen weit öffnen“). Und der neue olympische Geist verzauberte und begeisterte – jünger, urbaner, integrativer, nachhaltiger, vielfältiger usw. usf. Die Franzosen stimmten dazu immer wieder die Marseillaise an, um die fabelhaft amüsante Inszenierung ihrer Metropole zu begleiten.

Zu den Waffen, Bürger, Formiert eure Truppen, Marschieren wir, marschieren wir! Dass unreines Blut Tränke unsere Furchen!

Alle Abbildungen in diesem Text © Wiki Commons

Erstaunlicherweise schalteten die deutschen Sender trotzdem nicht ab. Die ör-Moderatoren und -Regisseure hielten das wohl für pazifistische Folklore alter weißer Männer mit Baskenmütze und glutenfreiem Weißbrot unterm Arm. 

Teurer Kindergeburtstag für Sportfans

Sicher scheint hingegen, dass es bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ein neues Frame Manual für Superlative geben muss. Denn selbst Kneipenflippern hätte in den olympischen Tagen bei ARD und ZDF zumindest das Prädikat „episch“ und „historisch“ erhalten. Aber ganz vorne galoppierte ARD-Hoppereiter Carsten Sostmeier: „Freunde, das ist unglaublich, das ist unglaublich...“ Beim „goldenen Ritt“ „unseres“ Michael Jung steigerte er sich von Begeisterung in Ekstase: „Freunde! Chapeau, Chapeau, Chapeau! Boah, was für eine Tour d’honneur der Emotionen, die förmlich in unsere Herzen galoppiert.“ – Spätestens da beneidete ich ihn um die Pferdesalbe, mit der dieser Mann gegurgelt haben musste.

Aber diese rührselige, peinlich ranwanzende Gefühlsduselei gehört heute zum Programm der modernen Event-TV. IAus Paris kam allerdings eine solche Überdosis, dass selbst den TV-Marathonis die Galle übergelaufen ist. Und dann diese penetrant besoffene „immer lächeln und winken“-Fröhlichkeit. Selbst das IOC räumte ein, „dass unsere Hostbroadcast-Produktion in einigen Fällen zu viele Bilder von jubelnden Zuschauern enthielt„, so ein Sprecher der zuständigen IOC-Tochter Olympic Broadcasting Service (OBS). ARD, ZDF und Eurosport übernehmen wie Sender in aller Welt das von OBS produzierte Signal, das sogenannte Weltbild, und sind selbst meist nur mit sparsamem Equipment unterwegs. Bei Olympia war es dann wie beim Fußball: Egal, was auf oder vor dem Platz passierte, die Kameras zeigten, was sie für verkaufsfördernde Stimmungsbilderund „gute Laune“ etc. hielten, um die „unglaubliche Atmosphäre“ zu vermitteln.  – Und wenn die Stadien zu leer waren, zu wenig „Stimmung“ boten, dann gab es eben „Jubelperser“ aus anderen Aufzeichnungen. – Es fehlte eigentlich nur noch die fröhlich gut gelaunte Kitchimea-Familie.

Hintergrund der kaum noch zu steigernden medialen Debilität: Das IOC steuert sein Image auch durch eine eigene Bildproduktion.  Warner/Discovery hat die auf 1,3 Milliarden Euro geschätzten Exklusivrechte für alle Plattformen, einschließlich Free-TV, Abo/Pay-TV, Internet und mobile Endgeräte, in allen Sprachen, in 50 Ländern und Territorien auf dem europäischen Kontinent erworben – ersteigert bis 2032; und die Öffentlich-Rechtlichen kaufen sich für viel Geld dort ein, um ihre „Kundschaft“ mit der gelieferten Begeisterungs-Idiotie bei Laune und vor den Bildschirmen zu halten.

Auch in Zeiten der Zeitenwende hat Sport nichts mit Politik zu tun

Aber lassen wir das. Sport hat schließlich nichts mit Politik oder Wirtschaft zu tun. Während Russland nicht mitturnen durfte, ließ sich die Ukraine feiern. „Von Sport spricht man erst seit Ende des 18. Jahrhunderts. Das Wort kommt aus England – und das hat unsere heutige Vorstellung geprägt. In der griechischen Antike sprach man von Agon. Agon heißt auf der einen Seite Krieg, Schlacht – und auf der anderen Seite Wettkampf.“ (Manfred Lämmer, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln). Die Vorstellung einer sportlichen Gemeinschaft, wo allein die Teilnahme zählt – nach dem Motto „dabei sein ist alles“, das ist ein Mythos, den der „Erfinder“ der modernen Olympischen Spiele mitgeprägt hat. Und die enge Symbiose zwischen Bundeswehr und Sportverbänden im Bereich der Sportförderung ist hinreichend bekannt.

Der frühere Verteidigungsminister Manfred Wörner wies bereits vor 40 Jahren darauf hin, dass die SpitzensportlerInnen nicht nur die Jugend zu sportlichen Aktivitäten animierten, sondern zudem als „sportliche Vorbilder (…) das Gefühl der Zusammengehörigkeit“ förderten. Auch „wir Deutschen (sind) stolz auf die Leistungen unserer Mitbürger, der Sportler, die unser Land bei internationalen Wettkämpfen vertreten„, woraus sich ein „Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Stolzes auf die Leistungen unserer Kameraden“ (Wörner 1984) ergebe.

Internationale Sportveranstaltungen sind bis heute eine nationale Leistungsschau, die Sportler treiben nicht einfach nur Sport, sie repräsentieren das beste „Menschenmaterial“ der entsendenden Nation. Das gemeine Volk soll geeint jubeln und „sein“ Land feiern, während sich die Sportler stellvertretend beim Hissen der Flagge und beim Abspielen der Nationalhymne zu Tränen rühren lassen und sich mit der rechten Faust aufs Herz hauen.

Weil „Deutschland“ wieder „mehr Verantwortung“ in der Welt übernehmen, sich vulgo „kampfbereit“ melden will, kommt solchen Schaukämpfen besondere Bedeutung zu (Stichwort „Zeitenwende“). – Für die sportlich-geistige Mobilmachung gehören die ZEIT und die taz (s.u.) auf’s Siegertreppchen:

Sportfeste wie Olympia und die Euro haben einen unschätzbaren Wert. Sie feiern Talent, Passion und Freiheit. Es ist richtig, dass sich der Westen sie zurückholt… Die Spiele fanden in den vergangenen 16 Jahren zweimal in China statt und einmal im Land des Kriegsverbrechers und Dopingtricksers Putin, die Fußballweltmeisterschaft zuletzt in Russland und Katar.“ (Die ZEIT)

Schon die deutschen Fußballer hatten mit ihrem biederen Gekicke die Nation nicht zusammenrücken lassen – und dann lieferten die Olympioniken auch noch das schlechteste Medaillenergebnis seit 1952. Den allseits beliebten Nationenvergleich ließen die Fernsehanstalten deshalb meist schamhaft außen vor. Würde man die Zahl der gewonnenen Goldmedaillen durch die Einwohnerzahl der Länder teilen, läge Deutschland nach Paris erst auf Platz 33. Nimmt man statt der Einwohnerzahl das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Vergleichsmaßstab, rutscht Deutschland, die größte Volkswirtschaft Europas, sogar auf Platz 71 ab.  Das Abschneiden der jeweiligen „Nationalmannschaften“ misst sich an der Zahl der gewonnenen Medaillen und gilt als Indikator für das „nationale Prestige“ eines Landes. Staatsoberhäupter interpretieren das schlechte Abschneiden der Olympiateams als „Nachlassen unserer einst bewunderten nationalen Stärke“ (John F. Kennedy) bzw. „nationale Schande“ (Charles de Gaulle).

Leistung muß sich wieder lohnen

Politiker sind alarmiert, Patrioten erschrocken. Die Ursache liegt auf der Hand, zumindest wenn man dem staatsraisonistische Gleichschritt von Medien und Politik folgt: Es ist die Leistung. Denn die lohnt sich nicht mehr:

Mehr als 5 Millionen Mitbürger sollen wegen Wohngeld und Sozialhilfe auf der faulen Haut liegen – und der jüngste PISA-Test scheint die staatlich geförderte Verwahrlosung zu bestätigen.  Die Ergebnisse in Lesen, Rechnen und Naturwissenschaften waren geradezu olympiareif: die schlechtesten, die hierzulande je gemessen wurden. Zudem ist Deutschland derzeit Schlusslicht bei der goldenen Wirtschaftskuh „Wachstum“, das Vertrauen in die Politik schwindet – und die Deutsche Bahn nimmt auch niemand mehr ernst. Das Boot sinkt!
 Jens Lehmann, einst Goldjunge auf dem Bahnrad, klagte im Berliner Tagesspiegel:

Sport ist ein Spiegel der Gesellschaft und im Medaillenspiegel zeigt sich, dass die Bereitschaft für Leistung immer weiter nachlässt. Das fängt schon damit an, dass wir unseren Kindern bei den Bundesjugendspielen den Leistungswillen abtrainieren.

Abgesehen davon, dass Lehmann, ein verdienter DDR-Sportler, inzwischen für die CDU in die Pedale tritt und in guter alter DDR-Tradition Medaillen als Ausdruck nationaler Leistungsfähigkeit, ja eines politischen Systems begreift: Was den Sport angeht, hat der Radsportler eine gelungene patriotische Idee:

„Es braucht wieder Sportarten, die typisch deutsch sind und wir Medaillen in Serie abräumen.“

Dabei geht es natürlich nicht um Imagegewinn oder das Feiern der eigenen Nation. Das machen nach hiesiger Lesart nur die Falschen, nämlich „die Russen“ (Sotschi), die Chinesen (Peking) u.a., die damit ihr Volk von den alltäglichen Drangsalen ablenken und von den Vorzügen westlich-demokratischer Ausbeutung fernhalten. –

Pistorius, Hofreiter, Berbock und Kramp-Karrenbauer an die Sportfront

Aber Schluss mit der üblichen Doppelmoral. Pistorius, Hofreiter/Baerbock und Marie-Agnes Strack-Zimmermann könnten für einen wirkungsvollen sportpolitischen Neuanfang stehen.   Dieses Quartett verkörpert Kampfgeist und Staatsräson in einem – und die Fähigkeit, eine Nation für die anstehenden schweren Aufgaben zu wappnen und zusammenzuschweißen. Die Pressearbeit übernimmt der Autor der grünen Stahlhelm-Postille taz, Leon Holly. Der hat sich schon mal prophylaktisch leistungs- und sterbe-, kurzum: kampfbereit erklärt, um Deutschland gegen „den Russen“ zu „verteidigen“. „Am Ende“, schreibt er (taz, 17. 8. 2024), „sind all die Wohlstandsdebatten um den eigenen Kampfwillen und den der anderen bequem: Salonpazifisten und Salonbellizistinnen spielen den Ernstfall aus sicherer Entfernung durch. Gut möglich also, dass einige, die jetzt mit ihrer Kriegstauglichkeit hausieren gehen, am Ende doch lieber sichere Häfen suchen, sollten russische Iskander-Raketen in der Friedrichstraße einschlagen. Ebenso denkbar aber, dass manche (wie er, mf), die es sich niemals vorstellen könnten, eben dann zur Waffe greifen.“ – Kein Wunder also, dass sich wenig später auch die FAZ in ihrem Feuilleton ausführlich mit derlei Fragen beschäftigte.

Sport und Kultur: Wiedervereinigung auf französisch

Die Eröffnungsfeier hat in der Tat gezeigt, was Sport und Kultur leisten können. Wann hat man das schon erlebt, dass sich eine Stadt als Sportkulturtheater inszeniert?  Die überforderten öffentlich-rechtlichen (Sport-)Kommentatoren, die schon mal von montäglichen Museumsbesuchen sprachen, flüchteten sich vor dieser kultursatten Lebenslust in die Aufzählung der Nationalmannschaften, die auf der Seine vorbeischipperten.

Akrobaten, Tänzer, Filmeinlagen, Bizets „Carmen“, Ravels „Wasserspiele“, passenderweise im strömenden Regen aufgeführt, Lady Gaga, Celine Dion, Aya Nakamura mit dem Orchester der Republikanischen Garde vor der Kulisse der Académie Française, der Torso einer vervielfältigten Marie Antoinette mit ihrem singenden Kopf unter dem Arm, die Darstellung eines altgriechischen Bacchanals… Baron de Coubertin hatte die griechischen Spiele wiederbelebt und ihnen das Motto „Alle Sportarten, alle Nationen“ gegeben. Die neuen Spiele sollten unpolitisch sein, zur Völkerverständigung beitragen und die Toleranz zwischen den Nationen fördern. Coubertin erfand auch die fünf miteinander verbundenen Ringe, die die fünf Kontinente symbolisieren. Coubertin selbst wurde 1912 unter einem Pseudonym mit einer „Ode an den Sport“ Olympiasieger in der Disziplin Literatur.

Denn von 1912 bis 1948 gab es bei den Olympischen Spielen noch Kunstwettbewerbe – in den Bereichen Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei. Thomas Jolly, der Regisseur dieser unglaublichen vierstündigen olympischen Nacht, knüpfte daran an. Damals gab es noch andere Disziplinen, die man sich heute wieder wünschen würde: Tabakweitspucken z.B. (St. Louis) Sackhüpfen…

Der Star des Abends – Paris

Größter Star des fulminanten Eröffnungsabends war die französische Hauptstadt selbst, ihre Sehenswürdigkeiten aus der Vogelperspektive, von der Seine aus und aus der Zuschauerperspektive: Notre Dame, Louvre, Grand Palais, Pont Neuf, Palais du Trocadéro und natürlich der Eiffelturm im Zentrum des Geschehens. Auf einer Strecke von sechs Kilometern wurden die Athleten von der Pont d’Austerlitz an zwölf Bühnen mit rund 2.000 Künstlern vorbei bis zum Trocadéro am Eiffelturm befördert, auf den Seine-Ausflugschiffen. Begonnen hatte der Abend mit einem Feuerwerk in den französischen Nationalfarben. Am Ende, als der Regen nachließ, keimte irgendwo im Innern für ein paar Momente das Gefühl auf, dass hier nicht nur eine fantastische Show geboten wurde, sondern sich etwas Schönes , gepaart mit charmantem Größenwahn abgespielt hatte. Ein Abend der verregneten Maßlosigkeit, ein Panorama aus Sport, Stadt und Theater.

Dieses rauschende Fest brach in vielerlei Hinsicht mit der Tradition: Zum ersten Mal fand es nicht in einem Stadion statt. Und niemand marschierte in ein Stadion ein, sondern mehr als 320.000 Menschen versammelten sich an den Ufern der Seine, auf den Brücken. Und diese Olympiade lernte fliegen: Dort, wo 1783 der erste Flug der Menschheitsgeschichte stattfand, erhob sich ein kleines technisches Wunderwerk, eine grüne E-Interpretation der Montgolfiere im aktuellen Hightech-Look. Grandios. Ein Pianist griff im strömenden Regen auf einem brennenden Flügel in die Tasten…

Imagine

Es gäbe noch viel zu erzählen, von diesem wild collagierten, zauberhaft verzauberten Eröffnungsabend, von einem Turmspringer mit Höhenangst zum Beispiel, von beleidigten Kirchenfürsten und einer noch beleidigteren Dicken, die sich gegen fettfeindliche Beleidigungen auch juristisch zur Wehr setzt, von einem Wettkampfturm, der vor Tahiti mitten im Korallenriff stand, vom Zustand des Seine-Wassers, von männlichen Wesen, die sich als Frauen fühlten und boxende Damen verhauten, aber auch von einem Discjockey, der auch bei den Beachvolleyballerinnen den Ton angab. Als es im Finale zu einer lautstarken Auseinandersetzung kam, legte er einfach „Imagine“ auf – und die alte Lennon-Friedensnummer funktionierte immer noch: Die Spielerinnen, die sich gerade noch angekeift hatten, mussten grinsen – und die Fans rissen die Arme in die Höhe und sangen lauthals mit. Zumindest in diesem Moment war zu spüren, dass die Idee vom großen Fest der Commune noch lebt.

Michael Friederici – veranstaltet in Hamburg Schwarze Nächte (mit Literatur). Seine Texte bei uns hier.

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