Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Bloody Chops – Kurzbesprechungen, September 2024

Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Ulrich Noller (UN) und Thomas Wörtche (TW) über:

Bernhard Aichner: Yoko
Mark Billingham: Die Handschrift des Todes
Margot Douaihy: Verbrannte Gnade. Ein Schwester Holiday-Krimi
Malin Persson Giolito: Mit zitternden Händen
Wayne Johnson: Das rote Kanu
Joe R. Lansdale: More Better Deals
Davide Longo: Am Samstag wird abgerechnet
Seichō Matsumoto: Tokio Express
Chris Whitacker: In den Farben des Dunkels

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Blut und Gier tränken den amerikanischen Traum

(hpe) Ed Edwards ist unzufrieden mit seinem Leben. Er ist Koreakriegsveteran. Er verkauft Gebrauchtwagen, kennt alles fiesen Tricks und Kniffe für dieses Business. Er will mehr. Er hat einen Schwarzen Vater, der sich schon in seiner Kindheit verdrückt hat. Die Mutter ist weiß, Alkoholikerin. Im Gegensatz zum älteren Bruder, der in Detroit am Fließband steht, geht Ed gut und gerne als Weißer durch, allenfalls als Südländer. Ebenso seine jüngere Schwester Melinda. Ed lässt seine Geburtsurkunde fälschen, das B für Black durch ein W für White ersetzen. „Ich wollte als Weißer Erfolg haben.“

Als er Nancy kennenlernt, sieht er eine Chance. Sie hat „etwas Verderbtes und zugleich Anziehendes“: „Es war wie ein saurer Whiskey, an den man sich gewöhnen musste, wozu man wegen seiner Wirkung nur allzu gerne bereit war.“ Und sie ist Geschäftsfrau, betreibt ein Autokino und einen Haustierfriedhof. Er lässt sich auf eine Affäre mit der verheirateten Frau ein. Sie muss ihn nicht lange bitten, ihren gewalttätigen Gatten umzubringen, mit ihr seine Lebensversicherung zu kassieren und ins Geschäft einzusteigen.

„More Better Deals“, so der Titel des Romans von Joe R. Lansdale auch im Deutschen, will Ed machen. In einem namenlosen Ort in East Texas in den frühen Sechzigerjahren hat Horror- und Crime-Altmeister Lansdale die wüste Geschichte angesiedelt, in der ein Abgehängter den Aufstieg mit allen Mitteln realisieren will: „Ich würde für Girl und Gewinn morden, eine etwas gewalttätigere und blutigere Version des amerikanischen Traums.“

Doch natürlich läuft alles nicht so glatt, wie sich Ed das ausgerechnet hat. Und die ihn angeblich heiß liebende Nancy scheint eigene Pläne zu verfolgen – die Femme fatale erweist sich als cleverer als der Gebrauchtwagenverkäufer. Lansdale erzählt die düstere Südstaatenstory auf seine gewohnt gekonnte Art: Spannend, zuweilen mit einem Augenzwinkern, mit Situationskomik und mit vielen knackigen Dialogen treibt er seinen Protagonisten dem Abgrund entgegen.

Dabei ist neben der gewalttätigen Version des amerikanischen Traums auch Rassismus ein Thema. Schwarze hatten in den Sixties in den Südstaaten noch weniger Chancen als heute. Ed will auch die Geburtsurkunde seiner Schwester Melinda fälschen lassen, damit sie an ein weißes College gehen kann, was er mit seinem ertrogenen Geld ermöglichen würde. Doch Melinda gibt ihm zu bedenken: „Kriegt jemand raus, dass man auch nur einen Tropfen Blut eines Farbigen in sich hat, ist man plötzlich farbig, und das war’s dann. Willst du dieses Spiel dein Leben lang spielen, dich und deine Umgebung belügen? Versuchen, weiß zu sein?“ Nun, Ed will das zumindest versuchen. Dass dann aber alles ein böses Ende nimmt, erstaunt bei einem Autor wie Lansdale nicht.

Joe R. Lansdale: More Better Deals (More Better Deals, 2020). Aus dem Englischen von Wulf Bergner. Festa Verlag, Leipzig 2024. 334 Seiten, 22,99 Euro.

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Nicht die normalste Nonne

(JF) Einen Mangel an Ideen kann man der amerikanischen Autorin Margot Douaihy wahrlich nicht vorwerfen. Eine lesbische Nonne, die in einem früheren Leben Mitglied einer Punkband namens „Original Sin“ („Erbsünde“) war, aber nun in einer Klosterschule Musik unterrichtet, als Amateurermittlerin einzusetzen, ist ein kaum zu toppendes Alleinstellungmerkmal in einem immer wieder unter Ermüdungserscheinungen leidenden Genre. Und der Erfolg gibt ihr Recht. Lobende Zitate von Größen wie Gillian Flynn und Don Winslow zieren das schicke Cover von Verbrannte Gnade, dem ersten „Schwester Holiday-Krimi“.

Ort der Handlung ist New Orleans, wo die Schwestern vom Erhabenen Blut eine Privatschule betreiben. Allerdings besteht der Orden nur noch aus vier Nonnen, einschließlich der Oberin. Eine davon ist Holiday Walsh, die von Schuldgefühlen geplagte Tochter eines Polizisten aus Brooklyn ohne besondere detektivische Fähigkeiten, aber mit einem unbedingten Willen zur Aufklärung rätselhafter Umstände. Deshalb beginnt sie natürlich zu ermitteln, als der Hausmeister des Klosters bei einem offenbar gelegten Brand ums Leben kommt. Ihre Nachforschungen gestalten sich ausgesprochen mühsam. Und taugen leider, aller aufgebotenen Dramatik zum Trotz, auch nur für einen ziemlich langatmigen Kriminalroman. Mit sehr vielen beeindruckenden Metaphern.

Margot Douaihy: Verbrannte Gnade. Ein Schwester Holiday-Krimi. (Scorched Grace. 2023). Aus dem Amerikanischen von Eva Kemper. Berlin. Blumenbar 2024. 368 Seiten, 23 Euro.

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Reflexion weit über die Geschehnisse hinaus

(TW) Ein winziges, abgelegenes Bergdorf im Piemont, am Fuß eines Staudamms. Etwas außerhalb dieses Dorfes findet man in seinem Jaguar XJ 40 den Filmproduzenten Terenzio Fuci erdrosselt vor, Blutspuren legen nahe, dass auch dessen Gattin, die Ex-Filmdiva Vera Ladich, in diesem Auto war. Sie ist aber spurlos verschwunden. Weil Fuci aus einer mächtigen, dem Vatikan nahestehenden Familie stammt und sein Bruder Amilcare Minister und graue Eminenz der Democrazia Cristiana war und zudem Besitzer des Staudamms, schaltet sich die hohe Politik ein. Man schickt Turins besten Mordermittler, den Commissario Vincenzo Arcadipane und seine Truppe ins Gebirge. Der holt sich noch seinen besten Freund, den Ex-Polizisten und Ex-Lehrer Corso Bramard zu Hilfe. Man ermittelt, man bohrt tief in die Vorgeschichte von Fuci und Ladich, man stößt auf Familiengeheimnisse, man sieht Spuren, die weit in die Geschichte des kleinen Dorfes zurückführen, sogar bis in die frühe Neuzeit. Man entschlüsselt alte Fresken und Dokumente, entdeckt einen uralten, befremdlichen Kult, und muss die sieben Filme, die Vera Ladich während ihrer kurzen Karriere gedreht hat, neu interpretieren – bis der Fall letztendlich einer befriedigenden Lösung zugeführt ist.

Sie sehen: Betrachtet man „Am Samstag wird abgerechnet“ unter den Aspekten von Plot und Handlung, haben wir einen ganz und gar topischen Kriminalroman vor uns, der im Großen und Ganzen so läuft, wie man sich das alsbald denkt. Sagen wir so: Wenn ein konstruktionstechnisch nicht ganz unumstrittener Staudamm im Spiel ist und immer mal wieder sehr lauthals beiläufig Sprengstoff erwähnt wird, besteht die leise Möglichkeit, dass solche Umstände beim Showdown eine Rolle spielen könnten.

Was den 560-Seiten-Roman aber zu einem teilweise virtuosen Text macht, ist die Erzählweise von Longo. Sowohl Arcadipane als auch Bramard sind fast bizarre Gestalten, ziemlich kaputt gemacht von Job und Leben. Exzentrisch, manchmal fast sozialdebil der Commissario, der von beinahe Nichts eine Ahnung hat, seinen Gehilfen Pedrelli kujoniert, in scheußlichen Klamotten herumläuft, aber dennoch über alles und jeden räsoniert. Verbrechen aufklären aber kann er brillant. So wie sein Freund Bramard, der schon fast moribund, ein Masterbrain ist, stur, intuitiv und deduktiv erste Sahne. In beider Köpfe nistet der Erzähler und blendet seine Stimme auch noch mit ein. So entsteht eine sehr kleinteilige, bis ins Detail gehende Reflexion über die Geschehnisse und weit über die Geschehnisse hinaus.

Das Paradoxe dabei: Weder Arcadipane noch Bramard sind Kommunikationsgenies, die ihrer Umwelt etwa andauernd ihre Ermittlungsfrüchte mitteilen. Wie überhaupt Longo selten etwas erklärt, er lässt alles in den Erzählstimmen aufgehen und fordert dadurch ein kreatives Lesepublikum, das sich das Ungesagte selbst zurechtlegen und an der richtigen Stelle einfügen muss. Dazu kommt ein extrem origineller Umgang mit Metaphern und Vergleichen, die es spielend mit Chandler aufnehmen können, wenn etwa jemand „ein Bild bietet, das jedem erspart bleiben sollte, der nicht wenigstens für ein Schulmassaker verantwortlich ist.“ Diese Methode macht den Roman auch zu einem oft komischen Text. Und Komik ist schließlich ein entscheidendes Qualitätsmerkmal.

Davide Longo: Am Samstag wird abgerechnet (La vita paga il sabato, 2022). Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner und Felix Mayer. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 560 Seiten, 26 Euro.

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Thriller in Reinform

(UN) Du hast keine Chance, also nutze sie: In seinem neuen Roman Yoko treibt der österreichische Schriftsteller Bernhard Aichner seine Heldin – und seine Leser:innen – durch einen serpentinenhaften Plot steil und hoch bis zum Gipfel des Erträglichen. Thriller in Reinform, Genre im Konzentrat.

Zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Erfahrung kennt jeder. Ist alltäglich. Meistens hat das ja keine großen Folgen. Nur so ein Gefühl. Bei Yoko, der Heldin von Bernhard Aichners neuem Roman, ist es diesmal ganz anders: Eine klitzekleine alltägliche Begegnung, und alles wird sich umkehren, nichts mehr sein wie zuvor – auch sie selbst wird eine ganz andere sein. Im Guten, wie im Schlechten. Sofern sie überlebt.

Yoko hat einen ungewöhnlichen Beruf: Sie stellt Glückskekse her. Die Einzigen, die schmecken. Beim Ausliefern überrascht sie beim Hintereingang eines Chinarestaurants zwei Männer, düstere Typen, die auf einen kleinen Hund eintreten. Yoko zeigt Zivilcourage – und das macht sie zum Opfer. Die Männer, Teil des organisierten Verbrechens, entführen und missbrauchen sie, in einem Exzess aus Gewalt. Was die Männer nicht wissen können, was auch Yoko zunächst nicht weiß: Dieser Übergriff ist nicht nur an sich traumatisch, sondern triggert auch ein älteres Trauma an, das Yoko vergessen und verdrängt hatte. Sie hat nur eine Chance, dem zu entfliehen: Rache. Yoko muss vom Opfer zur Täterin werden. Und damit geht die Story dieses Thrillers erst so richtig los – Ausgang offen.

Mit Bernhard Aichner ist es so eine Sache: Der Innsbrucker Autor, Fotograf, Dramaturg und Künstler ist als Thriller-Schaffender international hoch anerkannt und in Österreich ein Star mit Bestsellergarantie. In Deutschland dagegen will es mit dem ganz großen Erfolg (noch) nicht so ganz klappen. Warum auch immer, und vielleicht kann “Yoko“ das jetzt ja ändern: Ein meisterhaft arrangierter, unfassbar spannender, hoch eleganter und extrem konzentrierter Thriller. Reduktion und Konzentration aufs Wesentliche, das beherrscht Bernhard Aichner wie wenig andere – seine Highspeed-Thriller sind auch ästhetisch herausragend, und zwar wegen ihrer literarischen Mittel, nicht wegen des bloßen Effekts. 

Yoko ist eine Person, die einem so schnell nicht mehr aus dem Hirn schwindet, auch lange nach der Lektüre. Eine typische Aichner-Figur, ein wenig wesensverwandt mit seiner “Totenfrau“ Brünhilde Blum, deren unfassbare Abenteuer auch als Netflix-Miniserie durchzuschütteln wissen.  Yoko ist übrigens keine Asiatin, mit ihrem Namen hat´s eine eigene Geschichte auf sich. Eine Figur mit enormem Potential jedenfalls. Sofern sie überlebt, eh klar.

Bernhard Aichner: Yoko. Rowohlt Verlag ,Hamburg 2024. Hardcover, 336 Seiten, 23 Euro. 

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Den Fahrplan kennen

(JF) Auf die japanische Eisenbahn ist Verlass. Busse, die auf dem Lande verkehren, können aber schon mal unpünktlich sein. Das muss ein Mörder, dessen perfider Plan auf dem genauen Studium des Kursbuchs beruht, mit einkalkulieren. Bis dem jungen Kriminalisten Kiichi Mihara dieser Zusammenhang aufgeht, sind wir schon fast am Ende von Tokio Express angelangt.

Der im Original 1958 erschienene und 1969 erstmals ins Deutsche übersetzte Rätselkrimi des japanischen Schriftstellers Seichō Matsumoto (1909-1992) ist vor allem eine Übung in der wiederholten Falsifikation auf den ersten Blick logisch klingender Theorien. Und jedes Mal ist Mihara aufs Neue „fassungslos und verzweifelt“ (S. 166), gedenkt aber nicht aufzugeben. Denn er hat keinen Zweifel daran, dass der Unternehmer Tatsuo Yasuda ein Motiv hatte, Kenichi Sayama, Referent in einem der Korruption verdächtigen Ministerium, aus dem Wege zu räumen. Dummerweise wurde Sayamas Leiche gemeinsam mit der einer jungen Frau gefunden, was den Doppelselbstmord eines Liebespaars nahelegte. Aber Mihara ist überzeugt, dass es sich um eine Inszenierung handelt. Doch das nachzuweisen, fällt schwer. Und erfordert die ausgiebige Beschäftigung mit Fahr- und Flugplänen, wie man es von Matsumotos einschlägigen britischen Vorbildern kennt.

Originell sind Gedankenspiele dieser Art also nicht, aber allemal reizvoll und unterhaltsam, zumal es sich bei „Tokio Express“ um einen erfrischend schlanken Kriminalroman handelt, in dem die Privatangelegenheiten des ermittelnden Personals keine Rolle spielen.

Seichō Matsumoto: Tokio Express (Ten to sen, 1958). Aus dem Japanischen von Buccie Kim, Edith Shimomura und Mirjam Madlung. Kampa Verlag, Zürich 2024. 205 Seiten, 22,90 Euro.

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Was denn nun?

(TW) Dreizehn Jahre ist Patch alt, als er zufällig seine Schulkameradin Misty vor dem Angriff eines Serialkillers rettet. Misty kann entkommen, Patch wird von dem Unhold monatelang in einem stockdunkeln Raum gefangen gehalten, bis er von seiner Seelenfreundin Saint gefunden und befreit wird. Der Killer, ein religiös motivierter Psychopath namens Eli Aaron, verschwindet spurlos. Normalerweise, der Genre-Logik zufolge, wäre das schon der Plot eines handelsüblichen Serialkiller-Romans. Hier, bei Chris Whitacker, handelt es sich allerdings nur um die Exposition einer fast sechshundertseitigen Jagd kreuz und quer durch die USA. Denn in den Monaten der Dunkelheit und der Angst war ein Wesen namens Grace der einzige Halt und Trost für Patch. Er kennt nur ihre Stimme, er hat sie nie gesehen und weiß auch nicht, ob das Mädchen oder die junge Frau auch wirklich so heißt. Seit seiner Befreiung ist sie spurlos verschwunden, niemand kann ihre Existenz belegen.  Alle Welt bezweifelt, dass es sie wirklich gegeben hat. Nur Saint glaubt Patch.  Und nun beginnt die Suche nach Grace, die geschlagene dreißig Jahre anhält. Saint wird Polizistin, später macht sie Karriere beim FBI. Aus Patch wird eine genialer, hoch gehandelter Maler, Bankräuber und Mörder. Saint muss nicht nur Grace suchen, sondern auch Patch jagen. Misty, eine Schönheit aus reichem Haus, hat sich in Patch verliebt, Saint liebt Patch und für Patch hat die Suche nach Grace höchste Priorität.

Mehr Handlung kann man kaum nacherzählen. Zu verschlungen und mit vielen anderen Figuren verwoben ist Whitackers Monumental-Roman. Er kombiniert allerlei topische Elemente: Small Town America, mit allen Geheimnissen und Abgründen, der irre Serialkiller, die hartnäckige Polizistin, den sympathischen Outsider, den opaken Kleinstadtsheriff, die pragmatische Großmutter und vor allem Dutzende oder Hunderte von vermissten, vergewaltigten, ermordeten Mädchen und jungen Frauen. Ein Thema, das, glaubt man Whitacker, für die amerikanische Gesellschaft zur Obsession geworden ist. Diese Kombinatorik, vom verblüffenden Anfang einmal abgesehen, wirkt stellenweise jedoch genau so: konstruiert. Und oft genug wenig plausibel. Über diese Klippen rettet sich Whitacker mit einer Unzahl überraschender Wendungen, mit einer ausgefuchsten Spannungsdramaturgie, und oft sehr pointierten, gar witzigen Dialogen.

Zudem sind da noch die Subtexte, die anscheinend so nebenbei, aber letztlich essentiell, mitlaufen. Der Roman bietet über mehr als 30 Jahren eine Kultur-, Alltags-, Sitten- und Mentalitätsgeschichte des vorwiegend weißen Amerikas. Letztendlich aber fokussiert sich der Roman auf ein brandaktuelles Thema: Abtreibung und Frauenrechte. Ein Thema, das in vielen Facetten regelrecht durchdekliniert wird, aber durchaus geschickt so inszeniert, dass der Text nicht davon dominiert wird. Dennoch bestimmt es, gerade vom Ende aus gesehen, den Generierungscode des ganzen sehr aufwändigen und manchmal sehr kleinteilig erzählten Romans. Ein Meisterwerk oder überambitioniertes Genre? Der Text gibt beide Lesarten her. Das wiederum spricht eher für das Buch.

Chris Whitacker: In den Farben des Dunkels (All the Colours of the Dark, 2024). Deutsch von Conny Lösch. Piper Verlag, München 2024. 589 Seiten, 24 Euro.

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Ein Pädophilenring bedient sich im Reservat

(hpe) Buck ist Tischler. Er baut Möbel und auch Boote. Die Weißen nennen ihn Michael Fineday, seinen Ojibwe-Namen kennt niemand. Im Moment geht es ihm beschissen. Die Frau, die er immer noch liebt, hat ihm die Scheidungspapiere zustellen lassen. Er denkt darüber nach, sein Leben zu beenden. Doch dann taucht Lucy in seiner Werkstatt auf, eine indigene 15-Jährige aus der Umgebung. Sie interessiert sich für den Bootsbau, für Holz. Buck spürt, dass sie Hilfe braucht. Sein Helfersyndrom bringe ihn immer, wieder in Schwierigkeiten bringt, sagt seine bald Ex-Frau. Als sie Lucy kennenlernt, sieht sie gleich, dass das Mädchen Bucks „neues Projekt“ ist.

Das rote Kanu ist der erste Roman des US-Autors Wayne Johnson, der auf Deutsch erscheint. Buck ist schon in zwei früheren Romanen Johnsons vorgekommen, wie er in einem Interview erwähnt. In den USA ist 2023 zudem ein Prequel zum „roten Kanu“ erschienen, „The Witch Tree“, und geschrieben ist auch eine Fortsetzung, „Ray of Light“. Alle diese Romane spielen im Kosmos der Sioux in Minnesota, wo Johnson, zur Hälfte indigen, selbst teilweise in Reservaten aufgewachsen ist.

Lucy lebt in einem Trailer zusammen mit ihrem Vater. Der ist Polizist, traumatisiert von Einsätzen in Afghanistan, und er hat ein Alkoholproblem. Lucy wird von einem Kreis von Pädophilen missbraucht, dem auch Polizeikollegen ihres Vaters angehören. Ihre Freundin ist schon ums Leben gekommen, und Lucy befürchtet, dass sie und womöglich auch ihr Vater auf der Abschussliste der Übeltäter stehen. Sie will ihnen zuvorkommen und sich rächen. Mit Hilfe von Buck und zwei schlauen Freunden aus der Schule, die ebenfalls Minderheiten angehören: einer ist Schwarz, der andere Asiate.

Die düstere Country-noir-Story entwickelt sich zunächst langsam. Nach und nach steigert Johnson die Intensität und die Spannung. Bald hängt eine ständige Bedrohung in der Luft. Und schließlich wird das Ganze zum explosiven Action-Thriller. Neben dem Missbrauch indigener Mädchen thematisiert Johnson in diesem komplex geplotteten Kriminalroman auch eine ganz Reihe weiterer dräuender gesellschaftlicher Probleme wie etwa schwierige Familienverhältnisse, Rassismus, Sexismus, Kriegstraumata, Armut, Minderheiten, Polizeigewalt und scheinheilige Kirchenleute. Dabei gibt es hin und wieder auch trockene Ironie, teils vielleicht auch bei der manchmal etwas dick aufgetragenen Symbolik. Etwa wenn der von seiner Ehefrau als „Heiliger“ bezeichnete Retter von Beruf Tischler ist.

Wayne Johnson: Das rote Kanu (The Red Canoe, 2022). Aus dem Englischen von Karen Witthuhn. Mit einem Nachwort von Jon Bassoff. Polar Verlag, Stuttgart 2024, 395 Seiten, 25 Euro.

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Verlässliches Produkt

(JF) Wer Die Handschrift des Todes, den achtzehnten Tom Thorne-Roman des englischen Schriftstellers Mark Billingham liest, befindet sich auf vertrautem Terrain, auch wenn er bislang keinen einzigen der Band der Reihe kennt. Der Schauplatz ist London, der Held ein leicht aufbrausender Ermittler und der Bösewicht ein rachsüchtiges  kriminelles Genie von teuflischer Intelligenz. An der Seite des Helden finden sich treue Gefährten, von denen wenigstens einer das notwendige Maß an Skurrilität mitbringt.

Dass Gut und Böse eine gemeinsame Geschichte verbindet, versteht sich, aber die Lektüre der vorhergehenden Romane ist nicht notwendig, um die mit hinreichend spannungserzeugenden Wendungen ausgestattete Handlung zu verstehen. So richtet sich die polizeiliche Fahndung zunächst auf eine mutmaßliche Serienmörderin, die ihre Opfer über eine Dating App findet. Doch hinter ihrem Treiben steckt ein anderer, der sowohl dem Ermittlerteam als auch den Fans der Reihe bekannt sein dürfte. All das wird bemerkenswert effektiv erzählt, nicht ohne gelegentliche humoristische Schlenker. Und die Schlusspointe ist tatsächlich ziemlich gut. Weshalb sich „Die Handschrift des Todes“ als ein verlässliches Produkt des kriminalliterarischen Mainstreams empfehlen lässt.

Mark Billingham: Die Handschrift des Todes (The Murder Book, 2022). Aus dem Englischen von Stefan Lux. Kampa Verlag, Zürich 2024. 396 Seiten, 23,90 Euro.

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