Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

Susan Madsen: 10 wahre Geschichten (2)

Susan Madsen fotografiert nicht nur – siehe ihre Anschau-Abenteuer bei uns hier nebenan – sie hat jetzt auch begonnen, uns Geschichten aus ihrer Kindheit zu erzählen. Wahre Geschichten. Natürlich. – Wir freuen uns über die zweite Lieferung, d. Red. Hier geht es zu Folge 1.

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#Unecht

Unsere Mutter hatte mich in Aarhus entbunden, im Redningshjemmet for forførte Piger (Rettungsheim für verführte Mädchen) für Frauen, die ihre Kinder nicht aus einer anständigen evangelischen Ehe hervorbrachten. 

Man ließ sie zwei Tage in den Wehen links liegen, bis man auf die befreiende Idee kam, mich per Kaiserschnitt zu holen. 

Man schickte unsere Mutter bald nach der Kaiserschnitt-Entbindung in den Keller, um meine Windeln im eiskalten Wasser zu waschen.

Sie bekam Fieber. 

Es starben Frauen und Kinder in diesem Rettungsheim.  

Insbesondere die Inuit. 

Unsere Mutter floh über Nacht mit mir zu ihrem Bruder und zu der anständigen evangelischen Tante. 

Zu den Großeltern konnten wir nicht, da die Großmutter kurz vor der Entbindung das Haus in Brand gesteckt hatte. 

Danach war Großmutter lange in Risskov.

Die gesamte Kleidung, die unsere Mutter für mich gehäkelt, gestrickt und genäht hatte, war zusammen mit dem Haus verbrannt.

Wir konnten auch nicht bei dem Bruder und der Tante bleiben. Sie fanden es unangenehm, ein unechtes Kind im Haus zu haben. 

Unecht waren die Kinder, die außerhalb einer christlichen Ehe zur Welt gekommen waren. 

Verständlich.

Der Bruder selbst war ein unechtes Kind.

Ich hatte ihn daran erinnert.  

Ich verbrachte mein erstes Lebensjahr bei einer Pflegefamilie.

Vorher wurde ich evangelisch getauft.

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#ThorFreja&Co

Ich las alles, was ich in den Fingern bekommen konnte über die nordischen Götter. 

Bei den Dänen genossen Thor, Freja und die Anderen ein entspanntes Dasein neben dem evangelischen Glauben. 

Die blutigen Sagen rund um die nordischen Götter hatten eine ähnliche Qualität wie die Märchen des Alten Testaments. 

Dachte ich. 

Die nordischen Götter waren mir sympathischer. 

Bei Thor, Freja und den Anderen wurde gezankt, gehurt, gesoffen und gemordet wie bei den Menschen. 

Ich las aus Höflichkeit und Respekt gegenüber der Bibel auch das Neue Testament, obwohl es im Verhältnis langweilig war. 

Ich kam zu der Erkenntnis, dass Jesus die gleiche psychische Störung wie unsere Großmutter gehabt haben musste.

Oder so ähnlich.  

Zu Jesus Zeit gab es leider kein Valium. 

Meine Gedanken dazu fanden wenig Gehör. 

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#Keller

Unsere Großmutter wohnte alleine in einem winzigen Haus in einem winzigen Dorf. 

Das Haus hatte eine unheimliche Atmosphäre. Ich konnte dort schlecht schlafen. 

Ich war oft alleine über längere Zeit zu Besuch.

Die Großmutter konnte wenig mit Kindern anfangen.

Uns beide verbanden die Bücher. 

Ich las die isländischen Sagas, die Bibel wegen der interessanten blutigen Märchen im Alten Testament, dazu Odysseus, die Werke vieler dänischer Schriftsteller, die dänische Mythologie. 

Großmutter hat nie gesagt, ich könnte oder dürfte dies oder jenes nicht lesen, weil ich dafür zu jung war.

Ich nahm mir die drei Bände von den Sagen über die Geister in Dänemarks Schlössern vor.

Ich habe zu viel Fantasie. 

Ab dann war ich mir sicher, dass im Haus meiner Großmutter Leichen im Keller waren.

Sie liegen da noch heute.

Einbetoniert im Fußboden im Keller. 

Das Haus wird keine Ruhe geben bevor sie gefunden werden.

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#Zimtschnecken

Meine Schwester und ich kamen zu einer lieben Familie in Tagespflege.

Unsere Mutter musste arbeiten.

Wir sollten uns nur im Kinderzimmer aufhalten und der Küche nur zum Mittagessen.

Es gab zum Mittagessen zwei dicke Humpen Schwarzbrot, mit Leberwurst dazwischen.

Jeden Tag.

Mittwochs gab es bei der lieben Familie zusätzlich zum Leberwurstbrot frische Zimtschnecken, die noch warm vom Bäcker verführerisch dufteten. Der Zucker unten am Boden der Schnecken war herrlich karamellisiert. Obendrauf war Schokoladeguss. Jeder klebrige und süße Biss war himmlisch. 

Meine Schwester war noch sehr klein. 

Wenn sie die Windeln voll hatte, schloss sich die liebe Pflegemutter sich mit ihr ins Schlafzimmer ein.

Und verprügelte sie. 

Ich frage unsere Mutter, warum die liebe Pflegemutter das tat.

Unsere Mutter nahm uns aus der Tagespflege. 

Nun war es vorbei mit den Zimtschnecken.

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#Gemüsegarten

Unserer Deutschlehrer war ein freundlicher, gebildeter, schöner Mann. Er war pädophil und Quartalstrinker. Das wusste jeder. 

Da er im dänischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg und im Fröslev-Lager inhaftiert gewesen war, durfte er das. 

Wenn er trank, wurde uns ein Vertreter im Unterricht gestellt und es sollte nicht darüber gesprochen werden.

Da er wie meine Mutter Mitglied der Dänischen Kommunistischen Partei war, waren sie befreundet. 

Wir wohnten auf einem Resthof mit ein wenig Ackerfläche dazu. Der Lehrer hatte die Idee, bei uns als Projekt unsere Klasse einen Gemüsegarten anzulegen. 

Das Ergebnis war, dass wir keinen Deutschunterricht hatten, alle spielend herumliefen und er den Garten alleine pflegen durfte.

Das tat er konsequent unbekleidet. 

Es war ein besonders erheiterndes Anblick, wenn es regnete. Dann zog er einen gelben Regenmantel und Gummistiefel über seiner Nacktheit und pflegte den Garten weiter. 

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#Schwein

Unsere Mutter kaufte jedes Jahr vom Nachbarn ein junges Schwein. 

Das Schwein wohnte ein Jahr bei uns, um danach in der Tiefkühltruhe seine letzte Ruhe zu finden. 

Unsere Mutter hatte die schlechte Gewohnheit, sich mit dem Schwein anzufreunden.

Das Schwein wurde gekrault, es wurde mit ihm gesprochen und es bekam Leckerbissen aus der Küche. 

Damals dürfte man Hausschlachtungen durchführen lassen.

Wir Kinder durften auf keinen Fall zuschauen. 

Das taten wir auf jeden Fall trotzdem. 

Gruselnd lagen wir in einem Versteck, von dem man alles mitbekommen konnte. 

Der Moment, wenn das Tier getötet wurde, war läppisch. 

Wenn es mit kochendendem Wasser übergossen wurde, damit der Schlachter die Borsten herunterbekam, auch. 

Der Zenit war, wenn der Schlachter das Tier an den Hinterbeinen am Balken aufhing und ihm den Bauch aufschnitt. 

Die Eingeweide explodierten förmlich aus dem Tier heraus.

Sensationell.

Unsere Mutter bekam von allem dem nichts mit, weil sie bei den Schlachtungen immer krank vor Trauer im Bett lag.

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#Holzklotz

Wo wir den Holzklotz herhatten ist mir entfallen. 

In der Wohnung in dem Zimmer von dem unsichtbaren Mann, der nicht mehr dort wohnte, überzeugten mich zwei der größeren Mädchen aus dem Haus, dass der Sohn vom Gemüsehändler im Erdgeschoss ein Idiot wäre. 

Wir schauten aus dem Fenster im vierten Stock und sahen ihn unter uns im Hof spielen. 

Man ermunterte mich dazu, den Holzklotz aus dem Fenster fallen zu lassen. 

Was ich auch tat. 

Die großen Mädchen mussten dann dringend nach Hause. 

Kurz darauf klopfte es an unserer Tür. 

Die Frau des Gemüsehändlers stand mit dem Idioten vor der Tür. 

Das Blut lief über seinem Kopf und über seine dicke Brille, die auch ziemlich mitgenommen aussah. 

Ich staunte über meine Treffsicherheit. 

Die Frau vom Gemüsehändler sagte sehr viel.

Und zum Abschluss, wir müssten darauf Rücksicht nehmen, dass ihr Sohn Brillenträger sei. 

Ich habe sie so verstanden, es wäre in Ordnung gewesen, das mit dem Holzklotz …

… wenn der Idiot keine Brille getragen hatte.

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#Demokratie

Unsere Mutter brauchte Ruhe im Sommer. 

Der befreundete Deutschlehrer nahm uns mit ins Hippie-Camp. 

Es war ein Haufen Kreative, die alles gemeinsam machten, Essen mit Sand drin kochten, aus alten Kaffeekannen Musikinstrumente bauten, nackt herumliefen und bei ständigen Plenarsitzungen stundenlang diskutierten. 

Es war für uns Kinder Pflicht, an den Plenas teilzunehmen, da es für wichtig gehalten wurde, dass wir uns früh mit Politik auseinandersetzen.

Bei einer dieser Diskussionen wurde heftig darüber gestritten, ob man das gemeinsame Essen nackt einnehmen dürfte. 

Die Fraktion NEIN gewann, nach stundenlangem Streiten, diese Schlacht.

Die Fraktion JA nahm ab dann, aus Protest, egal wie das Wetter war, alle Mahlzeiten nur mit lila Windeln bekleidet ein.

Politik und Demokratie seien völlig überbewertet.

Dachte ich.

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#Trolle

Unsere Mutter hatte es strengstens verboten, an den Mergelgruben in unserer Gegend zu spielen. 

Der Mangel an ausreichender Aufsicht kam uns zugute. 

Meistens wurden die Mergelgruben genutzt, um ganz legal Müll zu entsorgen. 

Das machte die Wasserlöcher zum idealen Spielplatz. 

Wir hüpften gemeinsam mit Klaus auf den entsorgten Traktoren und anderen Fahrzeugen herum. Suchten nach Schätzen und wurden oft fündig. 

Es waren gefährliche Spielplätze. 

Das erhöhte selbstverständlich den Reiz. 

Die Mergelgruben hatten eiskalte Unterwasserquellen, die Schwimmer herunterzogen.

Sagte man. 

Die Legende über einen Badesee in unserer Nähe, eine ehemalige Mergelgrube, besagte, es säße ein Troll am Boden des Sees und fresse die jungen Kühe, die ins Wasser gingen. Später fraß der Troll dann auch die Schwimmer. 

Die Legende gefiel mir besser als Fakten. 

Da sich die Positionen der kalten Löcher ständig änderten, wurde der Badesee mit Hubschrauber mehrmals im Jahr überflogen, um genau auszumachen, wo die Löcher waren. 

Ich nahm an, der Troll versuchte, sich zu verstecken. Er baute laufend neue Höhlen unter Wasser. 

Tatsächlich ertranken jedes Jahr ein paar Schwimmer, welche die Bojen, die den gefahrlosen Bereich markierten, missachteten. Oft wurden sie nicht mehr gefunden.

Logisch.

Dachte ich.

Der Troll hatte sie gefressen. 

Mich betraf es nicht. Ich konnte nicht schwimmen, und Angst vor Wasser hatte ich auch. 

Vor Trollen weniger. 

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#Veto

Unsere Mutter hatte viele Pläne.

Einmal sollten wir ins Kollektiv ziehen.

Ein anderes Mal Drogenabhängige zur Entwöhnung auf unserem Hof behausen.

Uns reichten eigentlich die Besuche von den RAF-Sympathisanten, die alleinstehenden oder nicht alleinstehenden Männer aus der Umgebung, die Hippies aus dem Kollektiv, Internatsschüler, die lieber bei uns waren als im Internat, und Nachbarn, die sonst nirgends eingeladen wurden, aufgrund ihrer Unfähigkeit zur Integration im evangelischen Weltbild.

Wir machten Gebrauch vom unserem Vetorecht.

Unsere Mutter kümmerte sich als Ersatz für ihre nun gescheiterten Lebenspläne um die Häftlinge aus dem Offenen Vollzug in unserer Nähe.

Bis einer der Häftlinge mit dem Scheck, der für die Lieferung der Futterzentrale gedacht war, abgehauen ist. 

Unsere Mutter machte neue Pläne.

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