Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

Hazel Rosenstrauch zum Mord an Mireille Knoll

Es gab Ungeheuer, aber nicht alle waren solche Monster

Das Buch ist sechs Monate nach dem Mord an Mireille Knoll in Frankreich erschienen, es hat sechs Jahre gedauert, bis es am deutschsprachigen Markt ankam. Geschrieben wurde es innerhalb von vier Monaten von den Söhnen der Ermordeten. Beides Männer um die sechzig, die Mutter war 85 Jahre alt, als der Mann, den sie seit seinem siebten Lebensjahr kannte, sie zusammen mit einem Kumpel durch mehrere Messerstiche tötete und anzündete. Die Söhne haben geschrieben, um zu verstehen, was warum passiert ist. Beide haben normale Berufe, sind weder Schriftsteller noch sonstwie aus dem Kulturbetrieb.

Medien und jüdische Organisationen hatten das monströse Abschlachten einer hilflosen alten Frau, die immer zu allen freundlich gewesen war, schnell unter die antisemitischen Morde in Frankreich eingereiht. Die Schlagzeile “alte jüdische Dame ermordet” wurde zum Anlass, um genau hinzuschauen, was dieses Jüdische ist. “Natürlich waren wir auch Juden, aber diese Eigenschaft wurde erst seit dem Tod unserer Mutter zu einem Thema, zu dem wir uns Fragen stellen […]. Als Mutter noch lebte, interessierte uns die schmerzliche Vergangenheit nicht allzu sehr.” Vergangenheit heißt jüdische Vergangenheit, heißt Verfolgung, Flucht, Tod, Lager, Glück, Trauer, auch Armut. Die Söhne suchen nach dem Motiv des Mörders, denken vorsichtig, immer differenzierend, darüber nach, welche Rolle “das Jüdische” in der Geschichte der Familie und der Geschichte des Mordes gespielt haben könnte.

Wie in vielen jüdischen Familien haben die Angehörigen auf der Flucht vor Pogromen viele Länder durchquert. Weil der Fall hohe Wellen schlug, meldeten sich Leute aus der ganzen Welt. “Die Geschichte von Juden ist […] von vielen Lücken gekennzeichnet: Manchmal mussten sie fliehen, es kam zu brutalen Todesfällen, oder es ‘verschwanden’ Personen, dann wieder starben Menschen, ohne dass dies angezeigt wurde und ohne dass sie begraben wurden.” Da die Wohnung der Ermordeten versiegelt ist, haben die Autoren keinen Zugang zu ihren Fotoalben oder sonstigen Fundstücken. Sie tasten sich vorsichtig voran und forschen – im Umfeld der Mutter und im eigenen Kopf.

Ich kann mich nicht erinnern, ob der “Fall” auch in Deutschland weites Aufsehen erregt hat, aber er wurde sogar in Brasilien bekannt, wo der Großvater einige Zeit gelebt hatte, von dort meldete sich eine Frau und bot ihre Hilfe bei der Suche nach Spuren an.

Mireille, Jahrgang 1923, hatte, u.a. dank eines brasilianischen Passes ihrer Mutter, die Zeit der deutschen Besatzung und französischen Kollaboration mit Umwegen über Portugal, Brasilien und Kanada, überlebt. “Dank” der Flucht sprach sie vier Sprachen, sie war nicht religiös, voller Lebensfreude, fortschrittlich und modern wie schon ihre Eltern. Deshalb wird diese Recherche zum Bericht über eine jüdische Normalität jenseits von den hierzulande so gern gefeierten reichen Juden mit Kunstgegenständen, großen Häusern und Genie.

Mireilles heiß geliebter erster Mann kam aus Österreich, er hat Auschwitz und den Todesmarsch knapp überlebt, aber über diese Zeit wurde nicht gesprochen. Diesem Schweigen in vielen jüdischen Familien widmen die Autoren viele Überlegungen, vor allem stellen sie Fragen, dröseln die Komplexität des Judentums auf. Differenzieren, Abwägen, das Vermeiden vorschneller Urteile gehören zum Charakteristikum des Buchs. Ich wollte wissen, ob dieser Kurt Knoll einen Eintrag in Wikipedia hat und fand einen gleichnamigen österreichischen SS-Mann! Den blonden, blauäugigen Juden gleichen Namens kennt das Lexikon nicht.

Im Umkreis der Familie gab es weder religiöse noch ethnische Grenzen. Der Vater hat nach der Scheidung der allzu liebesbedürftigen und wohl auch anstrengenden Mireille eine Deutsche geheiratet, ein Onkel war als jüdischer Kommunist und Antizionist in Israel gelandet, der Autor ist in dritter Ehe mit einer katholischen Philippinin verheiratet, die Mutter war mit ihren Nachbarinnen aus Nord- und Schwarzafrika befreundet. Die Spurensuche führt durch den Gemeindebau, in dem die Mutter wohnte, zu Mireilles späten Liebhabern, zu den über die Welt verstreuten Angehörigen, immer auf der Suche nach Verstehen. Das setzt sich in den Kapiteln über Y fort, den Mörder, dem die vertrauensselige Mutter die Tür geöffnet und wie bei seinen früheren Besuchen Wein angeboten hat.

Es ist ein offenes Nachdenken, eine Spurensuche, die Puzzleteile zusammenträgt und ohne philosemitische Klischees oder Fiktionalisierung auskommt. Man weiß ja von Anfang an, wie die Geschichte endet, trotzdem liest sich die Rekonstruktion spannend wie ein Krimi. Im letzten Kapitel mit der Überschrift “Von der Pflicht, Überlegungen anzustellen, ohne je wirklich zu verstehen” formulieren die Autoren sehr grundsätzliche Gedanken zu Erziehung, Moral, Bildung und Demokratie, dazu gehört die Frage nach den Perspektiven für Juden in Frankreich und einer Haltung gegenüber den Muslimen. Auf die herumschwirrende Frage “Gibt es eine Zukunft für Juden in Frankreich” reagieren sie mit der Frage “Gibt es eine Zukunft für die Bewohner Frankreichs?” Das Problem in Frankreich seien nicht die Muslime, sondern die zehn Prozent, die sozial deklassiert sind und die auch ihrer Glaubensgemeinschaft schaden und der gesamten Bevölkerung das Leben vergällen. Sie sprechen nicht von einem Moslem, sondern von dem Irren, wenn sie den Mörder erwähnen. “Nicht alle, die in schwierigen Situationen sind, erwürgen oder verbrennen andere oder knallen sie ab.” Wenn es so etwas wie eine politische Stellungnahme gibt, so steckt sie in dem Satz “Die Leute halten die Respektlosigkeit, den Mangel an Anstand, verbale und physische Gewalt nicht mehr aus und wählen deshalb radikale Parteien.” 

Ersparen kann man sich das Nachwort, während Daniel Knoll vor allem fragt, hantiert die FAZ-Redakteurin Michaela Wiegel mit sehr deutschen Empörungssätzen, reiht die austauschbaren Phrasen von “Erinnerung wach halten”, “Mahnung an die Politik”, “Hass gegen die Juden” aneinander und erklärt Mireille zum “Symbol für ein neues Bewusstsein angesichts der Anfeindungen, denen die jüdische Minderheit ausgesetzt ist”. Als Bonbon verwendet sie als Schlusssatz eine “Mahnung des Nobelpreisträgers Elie Wiesel”. Besonders ärgerlich ist, dass sie die Namen der Mörder ausschreibt, die Daniel Knoll durch die Buchstaben Y und A ersetzt hat, damit  sie nicht Ruhm bei anderen Irren ernten. Auch wenn mich die unverlangte Zusendung jüdischer Titel oft ärgert (als stünde hinter meinem Namen ein gelber Stern), für dieses Buch bin ich dankbar. Das ist kein Biofic, sondern Leben, gut geschrieben, gut übersetzt.

Allan und Daniel Knoll: Unsere Mutter. Die Jüdin, die nicht hassen wollte (C’était maman, 2018). Übersetzt von Isolde Schmitt. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024. Hardcover, 224 Seiten, 24 Euro.

  • Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen. Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

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