Geschrieben am 3. Juli 2024 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2024, News

Frank Göhre: Margaret Millar & Ross Macdonald – Familiengeheimnisse


Die Packhäuser der landwirtschaftlichen Betriebe standen wie Flugzeugschuppen am Rand der grünen Felder. Etwas weiter zur Stadt hin folgten die üblichen Tankstellen, Drive-ins und Motels. Der Highway war ein strenger, sozialer Äquator. In der nördlich höher gelegenen Hälfte lebten die Weißen; Inhaber und Angestellte von Banken,
Restaurants, Textil-, Lebensmittel- und Spirituosengeschäften.“
(Ross Macdonald, 1952; dt. Ein Grinsen aus Elfenbein, Zürich, 1976)

Der Highway 101, von Norden bis Süden an der kalifornischen
Küste entlang. Von San Francisco bis Los Angeles.
An Santa Barbara vorbei.
An Hope Ranch.
Hope Ranch ist eine Gemeinde am Pazifik mit ca. 2.000 Einwohnern. Sie grenzt direkt an Santa Barbara. Die Hauptstraße ist der Las Palmas/Marina Drive, ein von Palmen gesäumter Straßenabschnitt. Es ist eine der teuersten Gegenden Kaliforniens. Der durchschnittliche Preis für ein Einfamilienhaus liegt bei 2,5 Millionen Dollar. Häuser mit
Meerblick kosten mindestens 5 Millionen Dollar, Immobilien am Meer 25 Millionen Dollar und mehr.

Hope Ranch ist in den Fünfziger Jahren der Wohnsitz des Autorenehepaars Margaret Millar und Ross McDonald.

Ein Schild an der Straße verkündete: Privat. Durchfahrt nur für Anlieger. – Die Krüppeleichen wichen Palmengruppen und gepflegten Zypressenhecken. Gelegentlich erhaschte ich einen Blick auf Rasenflächen, denen die Sprenger Regenbogengloriolen aufsetzten, auf weite weiße Veranden und Dächern aus roten Ziegeln oder grünem Kupfer. Ein Rolls mit einer Traumfrau am Steuer zog wie ein Windhauch an uns vorbei; es kam mir alles sehr unwirklich vor. Der blaugraue Dunst in der Tiefe des Cañons sah aus, als würden sie dahinter Stöße von
Banknoten verbrennen. So verschleiert wirkte selbst der Ozean wie ein kostbares Schmuckstück – ein Aquamarin in Fels gefasst. Garantiert farbecht und wertbeständig.“
(Ross Macdonald, 1949; dt. Reiche sterben auch
nicht anders
, Reinbek, 1968)

Margaret Millar, als Margaret Sturm 1915 im kanadischen Ontario geboren. Studium der Philologie und Psychologie. Diplom als Konzertpianistin. Ein Selbstmordversuch. Heiratet mit Dreiundzwanzig ihren Jugendfreund Kenneth Millar, der später unter dem Pseudonym Ross McDonald berühmt wird. Am 18. Juni 1939 Geburt der Tochter Linda.

„Ihr Gesicht war qualvoll verzerrt, als wüßte sie bereits, dass das Kind, das sie zur Welt brachte, verunstaltet, eine
Missgeburt sein würde.“
(Margaret Millar, 1955; dt. Liebe Mutter, mir geht es gut, Zürich, 1975)

Margaret (Maggie) ist während der Schwangerschaft und in den ersten Monaten nach der Geburt bettlägerig. Offiziell eine Migräne. Wahrscheinlich aber eine Schwangerschaftdepression. Sie schreibt Drehbücher für Hollywood und zwischen 1941 und 1945 sechs erfolgreich verkaufte Spannungsromane. Ihr Mann Kenneth Millar kommt 1946 zum ersten Mal nach Santa Barbara und wohnt Downtown in der Bath Street. Die Honorare seiner Frau ermöglichen in den frühen Fünfziger den Kauf eines Hauses in der Via Esperanza.

„Das Haus stand auf dem Abhang zu unseren Füßen, Front zum Meer. Es war flach und lang gebaut, seine beiden Flügel trafen sich im stumpfen Winkel, der wie ein weißer Bug gegen die See vorstach. Teilweise verdeckt durch Gebüsch glänzten türkisfarbene Schwimmbecken und weiße Tennisplätze zu uns herauf.“ (Ross Macdonald, 1949; dt. Reiche sterben auch nicht anders, Reinbek, 1968)

Kenneth Millar wird 1915 in Kalifornien geboren, wächst in Kanada auf. Zerrüttete Familie. Internat. Studium. Ein Jahr in Europa.. Danach die Heirat mit Margaret. Er unterrichtet Englisch und Geschichte an privaten Schulen. Absolviert den Militärdienst. Wird mit seiner Familie in Kalifornien ansässig.

„Anfangs waren sie ineinander verliebt. Er hat sie aus Liebe geheiratet, aber weil sie Geld hatte, war sie dessen nie ganz sicher.“ (Margaret Millar, 1943; dt. Blinde Augen sehen mehr, Zürich, 1990)

Kenneth Millar beginnt mit dem Schreiben als er merkt, daß seine Frau mit der Schriftstellerei mehr Geld verdient als er als Dozent. Sein erster Lew-Archer-Roman (dt. „Reiche sterben auch nicht anders“) erscheint 1949. Er schreibt fortan unter dem Pseudonym Ross Macdonald siebzehn weitere Kriminalromane mit dem Familiengeheimnisse aufdeckenden Privatdetektiv und wird als der legitime Nachfahre von Hammett (erster Roman 1929) und Chandler (erster Roman 1939) bezeichnet. In der Ehe kommt es wegen der schriftstellerischen Konkurrenz zunehmend zu lautstarken Streitereien:

„Sie schrien sich an. Sie ohrfeigten sich gegenseitig. Sie wetteiferten darum, wer von beiden die schlechtere Laune hatte. Maggie schmiss einmal eine Schreibmaschine aus dem Fenster im zweiten Stock. Ken warf Lindas Gummipuppe nach seiner Frau, und als der Kopf abbrach, beschuldigte sie ihn, das Spielzeug absichtlich kaputt gemacht zu haben. Er schlug sie und verletzte sie am Auge.“ (Sara Weinman, Linda, interrupted, CrimeReads, 11/2020)

„Auch mich machten sie für ihre Streitereien verantwortlich. Zumindest benahmen sie sich so. Ich kann mich nicht an viel von dem erinnern, was passierte, als ich ein kleines Mädchen war. Aber ich werde nie vergessen, wie sie sich einmal über meinen Kopf hinweg anschrieen – brüllende, verrückt gewordene, splitternackte Riesen, und ich als Zwerg zwischen ihnen. Und er noch einen Kopf größer als sie. Sie nahm mich auf den Arm, ging mit mir ins Badezimmer und schloss die Tür ab. Er brach die Tür mit der Schulter auf. Danach lief er noch lange Zeit mit dem Arm in der Schlinge herum. Und ich“, fügte sie leise hinzu, „ich laufe seitdem mit meinem Geist in der Schlinge
herum.“
(Ross Macdonald, 1976; dt. Der blaue Hammer, Zürich, 1978)

„Ken (Kenneth) hat Linda manchmal geschüttelt oder geohrfeigt, aus unbeherrschter Wut auf ihre Mutter. Linda war der Preis, um den ihre Eltern kämpften. Die Familie war irgendwie gestört, und alle drei wussten es.“ (Tom Nolan, Ross Macdonald. Biografie, New York, 2008)

Bin ich vielleicht an diesem Tatbestand schuld?“ – „Na, einer ist doch schuld.“ – „Nur niemals du, was?“ – „Für Mädchen ist der Vater zuständig. Außerdem ähnelt sie dir sehr. Meistens begreife ich sie überhaupt nicht. Sie äußert sich nicht und verrät keinem Menschen, was sie denkt oder welche Einstellung sie den Dingen gegenüber hat.“ – „Sie ist nur schüchtern, sonst nichts.“ (Margaret Millar, 1955; dt. Liebe Mutter, mir geht es gut, Zürich, 1975)

Die Millars, fünfziger Jahre

Sie war ein schlankes Mädchen, ziemlich hübsch, obgleich das blonde Haar und die sehr hellen Augenbrauen sie zerbrechlich und farblos erscheinen ließen. Ihre Augen waren tiefblau und rund, so dass ihr Blick immer etwas Fragendes hatte, wie bei einem Kind, für das alles neu ist.“ (Margaret Millar, 1952; dt. Stiller Trost, Zürich, 1994)

„Während der ganzen Fahrt hatte sie in makellosen Schweigen dagesessen, hatte den Blick über die anderen
Passagiere des Busses schleifen lassen, jedoch ohne das leiseste Anzeichen von Interesse.“
(Margaret Millar, 1944; dt. Da waren’s nur noch neun, Zürich, 1996)

Linda muss schon als Heranwachsende in den Romanen ihrer Eltern lesen, wie deren Blick auf sie ist. Sie fühlt sich
ausgestellt, benutzt und missbraucht – zeitlebens, denn egal, wie sich ihr Leben gestaltet, ob Höhen oder Tiefen und Verzweiflung bis hin zum frühen Tod, für Margaret Miller und Ross Macdonald bleibt sie Objekt ihrer schriftstellerischen Arbeit.

„Ihre Beine sind das Beste an ihr, und das weiß sie auch, Wenn sie nicht diese schrecklich aufgestülpte Nase hätte, wäre sie sogar ganz niedlich.“ (Ross Macdonald, 1952; dt. Ein Grinsen aus Elfenbein, Zürich, 1976)

„Also, Cathy, was war hier los?“ – „Nichts, Vater.“ Ihre Stimme war wieder spröde. „Wir haben hier gesessen und
miteinander gesprochen, da hat Pat plötzlich verrückt gespielt, mehr nicht.“ – „Er hat dich geküsst“, sagte Slocum. „Ich hab euch von Bühne aus beobachtet. Du wischt dir wohl besser dein Gesicht ab, ich rede später noch mit dir.“ – Sie fuhr sich mit der Hand zum Mund. „Ja, Vater“, sagte sie zwischen den Fingern hindurch. Sie war ein hübsches Mädchen, viel jünger, als ich aus ihren Worten geschlossen hatte. Ihr kastanienbraunes Haar blühte im Nacken zu Locken auf, die im Licht einen Kupferschimmer hatten. Der Junge schaute auf ihren Kopf hinunter und dann zu ihrem Vater hin. „Sie kann nichts dafür“, sagte er. „Ich hab versucht, sie zu küssen, aber sie wollte nicht.“ – „Das geben Sie also zu, Reavis?“
Der Junge stand jetzt neben Slocum und überragte ihn um einiges. Mit seinen dünnen Schulterblättern, die sich unter dem gelben Pullover abzeichneten, sah Slocum wie der jüngere von beiden aus. Er stand da, unnachgiebig und wütend. „Warum sollte ich das nicht zugeben“, erwiderte Reavis. „Kein Gesetz verbietet, Mädchen zu küssen …“ – Slocum sprach mit überlegter, kalter Wut: „Wenn es um meine Tochter geht, sind bestimmte Dinge untragbar“ – er suchte nach einem Wort und fand es –, widerwärtig. Kein Lümmel von einem Chauffeur …“ (Ross Macdonald, 1950; dt. Unter Wasser stirbt man nicht, Zürich, 1976)

Und was ist mit ihrer eigenen Mutter, Doris?“ – „Sie will mir meine Freiheit nehmen, mich in eine Privatklinik einschließen und den Schlüssel fortwerfen.“ Sie krabbelte schwerfällig auf die Knie, so daß ihre blauen Augen auf gleiche Höhe mit meinen kamen. „Sind Sie ein Psychiater?“ (Ross Macdonald, 1976; dt. Der blaue
Hammer, Zürich, 1978)

„Sie haben eine sehr geringe Meinung von sich.“ – „Damit bin ich bereits geboren.“ – „Aber das muss doch einen Grund haben?“ – „Die Geschichte ist zu lang, um sie zu erzählen. Und zu langweilig, anzuhören.“ (Margaret Millar, 1955; dt. Liebe Mutter, mir geht es gut, Zürich, 1975)

Am 18. Juni 1955 hat Linda Millar ihren sechzehnten Geburtstag. Der Vater schenkt ihr einen grünen Ford Tudor. Es ist ein neu auf den Markt gekommenes, schnittiges Modell der höheren Preisklasse. Acht Monate später verursacht Linda damit einen Unfall. Sie ist alkoholisiert und hat wahrscheinlich auch Drogen konsumiert.

Es ist der Abend des 23. Februar 1956. Es ist dunkel. Die Straßen in Santa Barbara sind nur spärlich beleuchtet und vom kurz vorher nieder gegangenen Regen noch glitschig. Drei 14-15jährige Schüler sind auf dem Weg nach Hause. Sie haben den Abschluss eines Basketballturniers gefeiert. Sie gehen auf der Straße. Sie hören und sie sehen den Ford Tudor nicht. Der Wagen rast in die kleine Gruppe hinein. Ein Junge stirbt noch am Unfallort, sein Freund hat gebrochene Knochen und eine Gehirnerschütterung, nur der dritte Junge kommt knapp davon.
Der Ford bremst kurz, flüchtet dann aber und prallt schließlich gegen eine Betonmauer. Als Anwohner und dann auch die alarmierte Polizei herbei eilen, hockt Linda auf dem Bordstein, weint und wiederholt immer wieder: „Es ist alles meine Schuld, es ist alles meine Schuld, was soll ich meinen Eltern sagen?“

„Ich setzte mich zwischen die beiden an den Küchentisch und trank aus einer dünnen Tasse das bittere Gebräu. Der Raum schien sehr sauber und sehr leer. Das Licht, das zum Fenster hereinfiel, war von einer grausamen Helligkeit …„Konzentrieren wir uns auf Ihre Tochter Sandy. Wie alt ist sie, Mrs. Sebastian?“ – „Siebzehn. Sie ist in der letzten High-School-Klasse.“ – „Gute Schülerin?“ – „Bis vor ein paar Monaten. Dann wurden ihre Zensuren plötzlich schlecht.“ – „Warum?“ – Sie blickte in ihre Kaffeetasse. „Ich weiß es nicht.“ Es klag vage, als wolle sie der Frage ausweichen. – „Natürlich weißt du das“, sagte ihr Mann. „Das Ganze hat angefangen, als sie sich mit diesem wilden Mann einließ. Diesem Davy oder wie er heißt.“ – „Mann ist gut. Er ist ein neunzehnjähriger Junge, und wir haben die Sache völlig falsch angepackt.“ – „Was für eine Sache, Mrs. Sebastian?“ – Sie streckte die Arme aus, als versuche sie die Situation zu umfassen, dann ließ sie sie resigniert sinken. „Na, die mit dem Jungen. Wir haben das Ganze verkorkst.“ – „Sie meint natürlich, ich hab´s verkorkst – wie immer“, sagte Sebastian. „Aber was hätte ich denn tun sollen? Sandy hat ja völlig den Verstand verloren. Sie hat die Schule geschwänzt und ist nachmittags mit diesem Kerl rumgezogen … mit einem Kriminellen.“ – Seine Frau schwieg. Sie bewegte langsam ihren zarten, dunklen Kopf hin und her. Ich sagte: „Woher wissen Sie, dass der junge Mann ein Krimineller ist?“ – „Er hat wegen Autodiebstahls im Distriktsgefängnis gesessen.“ – „Wegen einer Spritzfahrt.“ – „Nenn es, wie du willst. Außerdem war es nicht sein erstes Delikt.“ – „Woher wissen Sie das?“ – „Bernice hat es in ihrem Tagebuch gelesen.“ – „Dieses berühmte Tagebuch würde ich gern mal sehen.“ – „Nein“, sagte Mrs. Sebastian. „Schlimm genug, dass ich es gelesen habe. Das hätte ich nicht tun dürfen.“ Sie holte tief Luft. „Ich fürchte, wir waren ihr keine sehr guten Eltern. Im Grund bin ich genau so schuldig, wie mein Mann.“ (Ross Macdonald, 1968; dt. Durchgebrannt, Zürich, 1970)

Linda wird verhaftet und wegen Fahrerflucht mit Todesfolge angeklagt. Der Vater zahlt eine Kaution in Höhe von 2.500 Dollar. Es wird entschieden, dass Linda vor ein Jugendgericht gestellt werden soll. Eine erneute Untersuchung des Falls wird angeordnet. Auf Anraten der Familienanwälte schweigt Linda über das Geschehen in der Unfallnacht. Sie geht nicht mehr zur Schule. Sie schneidet sich die Pulsadern auf. Die Eltern bringen sie
in ein Sanatorium. Später wird sie in das staatlich psychiatrische Krankenhaus Camarillo überwiesen.

„Sie wollten mir gerade die Meinung des Arztes mitteilen.“ – „Ja, jetzt weiß ich es wieder. Er meinte, Laurel sei als kleines Kind erschreckt oder geschockt worden, und von dieser Erschütterung habe sie sich bis heute nicht erholt. Er konnte nicht bis an die Wurzel vordringen – ihr Gedächtnis war ausgelöscht.“ (Ross Macdonald, 1973; dt. Dornröschen war ein schönes Kind, Zürich, 1975)

Aufgrund ihres Schweigens wird der Fall nicht mehr vor dem Jugendgericht verhandelt. Als Erwachsene droht Linda eine von bis zu zehn Jahren. Bei der Anhörung verweigert Linda auch diesmal die Aussage. Auch die befragten Eltern äußern sich nicht. Die Verhandlung vor der Grand Jury wird für den 10. Juli 1956 angesetzt. Linda wird für schuldig erklärt. Ihre Anwälte beantragen eine Bewährungsstrafe. Sie legen einen von Linda handgeschriebenen Brief vor. In diesem Schreiben erklärt sie: „Ich habe meine Freundin besucht und eine Flasche Wein mitgebracht. Ich habe dann noch eine Flasche gekauft und bin ein wenig herum gefahren. Ich habe nicht
bemerkt, wie betrunken ich war. Ich wusste nicht, auf welchen Straßen ich war. Ich habe die Jungs nicht gesehen. Dann war es zu spät. Ich erinnere mich nicht, dass ich gebremst habe oder gegen die Wand gefahren bin. Ich war in Panik. Dann habe ich nur noch daran gedacht, mich umzubringen.“

Linda Millar wird zu acht Jahren auf Bewährung verurteilt. Ihr Führerschein wird eingezogen. Sie soll sich in psychiatrische Behandlung begeben. Ihr ist verboten Alkohol und Drogen zu konsumieren.

„Tatsache ich, dass sie sich selbst überhaupt nicht besonders mag. Sie scheint sich selbst für unwürdig zu halten … unwürdig, irgendeine Art Leben zu führen. Sie ist ein wirklich netten Mädchen mit wahrhaft tiefen Gefühlen … Ich meine, sie ist ein feiner Kerl trotz allem, aber so wie sie selbst über sich spricht, könnte man glauben, sie ist der schlimmste Sünder der Welt … Sie hat Fehler gemacht. Aber es ist nicht an mir, sie zu richten. Wir alle machen Fehler.“ (Ross Macdonald, 1973; dt. Dornröschen war ein schönes Kind, Zürich, 1975)

Das Urteil löst bei der Bevölkerung von Hope Ranch/Santa Barbara Empörung und Wut aus. Ken und Margaret Millar verkaufen ihr Haus und lassen sich in Menlo Park, Silicon Valley, nieder. Im Herbst 1957 beginnt Linda ein Studium an der Universität von Kalifornien in Davis. Nach zwei Monaten verstößt sie erstmals gegen die Bewährungsauflagen. Sie hängt mit zwei Offizieren der Air Force bis weit nach Mitternacht in einer Bar ab. Sie entschuldigt sich und versichert, dass es das einzige und letzte Mal gewesen sei. Kurz vor ihren Abschlussprüfungen, wird sie Alkohol trinkend im Treppenhaus des Studentenwohnheims entdeckt. Tage später fährt sie mit zwei verheirateten Männern ins Spielerparadies Reno, Nevada. Sie bleibt knapp zwei Wochen verschwunden. Ken Millar drängt die Behörden erfolgreich zu einer landesweiten Fahndung. Er engagiert einen Privatdetektiv. Er spricht im Fernsehen zu seiner Tochter: „Komm zurück, wir lieben dich!“ Margaret Millar hat einen Nervenzusammenbruch.

Als Linda schließlich wieder auftaucht, kann sie sich nur erinnern, von verschiedenen Männern mitgenommen worden zu sein und in Motels und Wohnungen übernachtet zu haben.

Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der mich nicht hassen würde, wenn er über mich Bescheid wüßte.“ (Ross
Macdonald, 1973; dt. Dornröschen war ein schönes Kind, Zürich, 1975)

Linda verlässt die Uni, zieht nach Los Angeles und arbeitet als Hilfskraft in einem Krankenhaus. Im September 1961 heiratet sie einen Computeringenieur, geht weiterhin zu ihrem Psychiater, bis 1962 ihre Bewährung vollständig aufgehoben wird und die Vorstrafen getilgt werden. In der Nacht vom 4. auf den 5. November 1970 stirbt sie. Sie ist 31 Jahre alt. Ihr Tod ist für ihren Vater der Auslöser für den letzten Lew Archer-Roman, 1973, dt. „Dornröschen war ein schönes Kind“.

„Wenn es Schwierigkeiten in einer Familie gibt, spiegelt sich das meistens im schwächsten Mitglied wider. Und die anderen Familienmitglieder wissen das. Sie machen demjenigen, der in Schwierigkeiten ist, Zugeständnisse, versuchen, ihr zu helfen und so weiter, weil sie wissen, dass sie selber mit drinstecken.“ (Ross Macdonald, 1973; dt. Dornröschen war ein schönes Kind, Zürich, 1975)

Am 11. Juli 1983, stirbt Kenneth Millar (Ross Macdonald) an Alzheimer. Margaret Millar stirbt elf Jahre nach ihm in Santa Barbara, Kalifornien.

Die Informationen über die Geschichte der Linda Millar sind dem sehr ausführlichen Beitrag von Sara Weinman „Linda, interrupted“, CrimeReads, 24/11/2020, entnommen. – Danke.

Frank Göhre, 2024

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