Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023

Bloody Chops – April 2023

Kurzbesprechungen von Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW):

Mathijs Deen: Der Taucher
Sven Heuchert: Das Gewicht des Ganzen
Bernhard Jaumann: Banksy und der blinde Fleck
Peter Papathanasiou: Steinigung
Claudia Piñeiro: Kathedralen
P. G. Pulixi: Die Insel der Seelen

Immer Ärger mit der Moral

(TW) Claudia Piñeiros Themen sind schon immer die Neurosen und Psychopathologien der argentinischen Mittelschicht. So auch in ihrem neuen Roman Kathedralen, der sich mit religiösem Eifer, katholischem Dogma, traditionellen Vorstellungen von „Familie“ und den daraus resultierenden Katastrophen beschäftigt.

Vor dreißig Jahren wurde Ana, die jüngste von drei Töchtern der Familie Sardá, tot aufgefunden, verbrannt, mit abgetrennten Gliedmaßen und Kopf. Die Polizei war damals nicht weitergekommen, die Familie im Lauf der Zeit auseinandergedriftet. Lía, die mittlere Schwester, ist nach Spanien ausgewandert, die Mutter an Krebs gestorben, die älteste Sardá-Tochter hat Julían geheiratet, der eigentlich Priester werden wollte, Mateo, deren Sohn läuft davon und nur der mittlerweile moribunde Vater, Alfredo, will immer noch wissen, was genau damals passiert war, und rekonstruiert zusammen mit einem Ex-Polizisten und Anas damaliger bester Freundin die Todesumstände.

Soweit der kriminalliterarische Plot, der sowieso nicht dominant ist. Relativ bald ist klar, wie der Hase läuft. Überraschend, wenn überhaupt, sind nur die unterschiedlichen Motivationen, die zum Tode der armen Ana geführt haben. Deswegen ist es kein Spoilern, wenn man verrät, dass die damals 17jährige Ana an den Folgen einer Abtreibung gestorben ist, ihre Leiche aber von ihrer ältesten Schwester Carmen und deren Gatten Julían, der Ana geschwängert hatte, verstümmelt wird, um die wahre Todesursache zu verschleiern. 

Claudia Piñeiro lässt die traurige Geschichte von den sieben handelnden Personen erzählen, wobei es nicht um die Faktizität der Geschehnisse geht, sondern um die Gründe des Handelns. Deswegen sind die Kernstücke des Romans die Erklärungen und Rechtfertigungen von Carmen und Julían. Und die sind starker Tobak, zumindest für aufgeklärte, säkulare Geister. Julían, ein winselnder Waschlappen, der den wiederholten Sex mit der minderjährigen Ana hinterher reuevoll und zerknirscht bejammert, überlässt seiner Frau die Drecksarbeit, weil er ja so sensibel ist, aber gleichzeitig, ganz Kerl, seine „natürliche Triebhaftigkeit“ nicht im Griff hat. Toxische Männlichkeit par excellence. Und noch schlimmer Carmen: Die totale Täter-Opfer-Umkehr – Ana hat ihr den Verlobten missgönnt, so legt sie sich die Angelegenheit zurecht. Sie ist es, die Ana eine Kurpfuscher-Abtreibung organisiert, sie ist es, die ihre Schwester zerlegt und verbrennt (eine der grausamsten Szenen, die ich in letzter Zeit gelesen habe), und sie ist es, die den moral-theologischen Unterboden bereitstellt: Es ist alles Gottes Willen, den der Mensch nicht zu diskutieren hat. Und es ist Gottes Willen, der die Heiligkeit der Familie zu schützen gebietet, koste es, was es wolle. Der sture Konservatismus, der die handelnden Personen umgebenden Gesellschaft umgibt, ist der Nährboden – die Kirche ist gerne bereit, den Sünderinnen und Sündern zu vergeben, wenn sie nach dem Willen Gottes, dessen einzig richtige Auslegung nur der Kirche zusteht, handeln. Die Verantwortung für die üble Tat liegt dann außerhalb menschlichen Vermögens, irgendwo im Transzendenten, im Irrationalen. So rational bösartig auch dieses Handeln sein mag. 

Insofern ist Piñeiros Roman ein radikaler Frontalangriff auf Gesellschaftsstrukturen, die auf Repression, Misogynie und radikal-religiöser „Moral“ basieren – und das geht weit über die argentinische Mittelschicht hinaus. 

Claudia Piñeiro: Kathedralen (Catedrales, 2020). Deutsch von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2023. 309 Seiten, 24 Euro.

Gleichermaßen reich wie sparsam

(JF) Vom Tod des Sängers Steve Marriott hörte ich im Autoradio. Es war der 20. April 1991, ein Samstag. Marriott war mit brennender Zigarette eingeschlafen und hatte so einen Schwelbrand verursacht, bei dem er ums Leben kam. Zum Andenken wurden die Small Faces gespielt, eine Liveaufnahme. Ungezähmter souliger Bluesrock, ganz anders als die hübschen Popstücke, mit denen die Band in den sechziger Jahren die Hitparaden gestürmt hatte. Steve Marriott wurde 44 Jahre alt.

Dass mir ausgerechnet heute dieser Tag vor mehr als 30 Jahren einfällt, ist Sven Heuchert geschuldet, der in seinem neuen Roman Das Gewicht des Ganzen an Marriots frühen Tod erinnert. Und das scheinbar beiläufig, indem er Milla, eine der beiden Hauptfiguren, an jemanden denken lässt, der immer meinte, „Steve Marriott sei der beste Sänger, den er jemals gehört hat“. Das ist lange her. Etwas Schreckliches ist passiert und nun sitzt Milla in einem alten Haus in der kanadischen Wildnis, um ihrer Vergangenheit zu entkommen. Doch das will nicht gelingen. Alte Geschichten spuken in ihrem Kopf herum. Zum Beispiel die von der Fahrt nach Straßburg, um ihren 13-jährigen Sohn Hannes abzuholen, der sich während eines Zeltlagers auf Texel aus dem Staub gemacht hat. Nur eine Kassette hatte sie dabei und deshalb gleich zweimal gehört, CCR, Spencer Davis und Humble Pie, Steve Marriotts spätere Band. Das weiß sie immer noch. Denn nichts gehe „jemals wirklich verloren“.

Sven Heuchert ist durch zwei Romane bekannt geworden, die von der Kritik rasch unter „deutscher Country Noir“ verbucht wurden. Nicht ganz zu unrecht. Denn der 1977 im Rheinland geborene Autor hat bei den besten Vertretern des Genres, von Daniel Woodrell bis Donald Ray Pollock, gelernt. Aber er ist alles andere als ein Kopist. Und wehrt sich wie sie dagegen, in eine Schublade gesteckt zu werden. Das zeigt sich nachdrücklich in „Das Gewicht des Ganzen“. Was sich zwischen dem Antiquitätenhändler Russ und der ehemaligen Speditionsbesitzerin Milla abspielt, ist keine finstere, gewaltgetränkte Tragödie, sondern die, aller Trauer zum Trotz, positive Geschichte einer ganz besonderen Beziehung. Keine Liebe, aber vielleicht Freundschaft. Ohne einander das Herz auszuschütten. Obwohl es viel zu erzählen gäbe. Aber das ist Sven Heucherts Sache nicht. Als hervorragender Stilist setzt er auf Details, auf Gegenstände, auf Namen. Und damit auf unsere Assoziationen. Das Ergebnis ist eine gleichermaßen reiche wie sparsame Prosa. Denn ein anderer Lehrmeister des Autors ist der amerikanische Schriftsteller Gordon Lish, der weniger durch seine eigenen Werke als durch sein radikales Lektorat der Kurzgeschichten Raymond Carvers bekannt wurde. Deshalb ist auch eine alte Kassette im Handschuhfach eines Mercedes 190E wichtig. Und das traurige Ende des Ausnahmesängers Steve Marriott.

Sven Heuchert: Das Gewicht des Ganzen. Ullstein Verlag, Berlin 2023. 188 Seiten, 22,99 Euro.

Abenteuer unter Wasser

(TW) Der titelgebende und bedauernswerte Taucher in Mathjis Deens neuem, gleichnamigen Roman, ist mit Handschellen an ein Schiffswrack am Meeresboden gekettet, die Schlüssel zur Freiheit geradeso außer Reichweite, die Sauerstoffflasche leer. Es handelt sich dabei um die 1950 gesunkene „Hanne“, ein Frachter mit Kupferplatten im Millionenwert an Bord, die Besatzung war damals jämmerlich ertrunken. Und in der Nähe der „Hanne“ liegt noch U-22 auf dem Meeresboden in der Deutschen Bucht, ein Relikt aus dem 2. Weltkrieg, das – wie die „Hanne“ auch – das Interesse von Wrackräubern und Nazi-Devotionalien-Fans erregt hat. Die Körperhaltung des toten Tauchers ist jedoch speziell – er scheint eine letzte Botschaft aussenden zu wollen. Das alles ist sehr mysteriös und deswegen ein deutlicher Fall für Liewe Cupido, einem Ermittler des Bundeskriminalamts, den wir schon aus Deens Roman „Der Holländer“ kennen. Cupido ist holländischer Herkunft, ein wortkarger Einzelgänger, der lieber mit seiner Hündin Vos kommuniziert, als mit Menschen. Melancholiker ist er auch – und ein brillanter Polizist. Und so seziert er, schon fast mit chirurgischer Sorgfalt und Geduld, die komplexen Umständen eines Verbrechens, das dann am Ende gar nicht mehr so mysteriös ist. Bei Deen ist es der Human Factor, der entscheidend ist – erst wenn Cupido tief genug in den (Familie-)Geschichten der beteiligten Personen gegraben hat, entsteht ein plausibles Bild des Geschehens.

Deen erzählt bewusst entschleunigt, man fährt viel Auto, sitzt in trostlosen Hotelzimmern, schaut auf´s Wasser oder beobachtet still gewisse Lokalitäten. Und plötzlich bricht Action durch, dass es fetzt, zum Beispiel wenn ein Unhold mit seinem Motorboot an die Säule eines Windrades knallt. Und dann, wie ein Meeresstrudel plötzlich verschwindet, fährt die Erzählung wieder ruhig fort.

Man muss eine solche Meeres-Metaphorik nicht strapazieren, aber in Mathijs Deens Bücher spielt die Nordsee nun einmal die Hauptrolle. Ihre Gezeiten, ihre Wattenmeere nebst den abscheulichen Wattwürmern, die Inseln, die Küsten und Flüsse, die in sie münden, ihre nur scheinbare Unveränderlichkeit (wo doch zum Beispiele Sandbänke wandern können und Strömungen immer neu unterseeige Strukturen bilden), all das schafft einen Bedeutungsraum, in dem die Menschen agieren, kommunizieren, lieben und auch töten müssen, notfalls nolens volens, und immer mit dem Bewusstsein, dass ihr Schicksal in diesem Bezugsrahmen eher gleichgültig ist. Es sei denn, sie kümmern sich selbst darum. Und das geht nicht immer gut.

In diesem Punkt erinnert Mathijs Deen ein bisschen an Georges Simenons Maigret-Romane: Unter dem behaglich-gemütlichen Gewand steckt eine präzise, fast eisige Verhandlung dessen, was Menschen und Menschlichkeit letzten Endes seien. 

Mathijs Deen: Der Taucher (De Duiker, 2023). Deutsch von Andreas Ecke. Mareverlag, Hamburg 2023.  318 Seiten, 22 Euro.

Banksy in München?

(JF) Subversiv und zugleich kommerziell ungemein erfolgreich: Der unter dem Pseudonym Banksy operierende Spray-Artist aus England ist ein perfekter Popstar der modernen Kunst. Ihm zugeschriebene Graffiti sorgen dafür, dass aus einem Garagentor ein sündhaft teures Spekulationsobjekt werden kann, ohne dass deren Echtheit nachgewiesen wäre. Hier kommt selbst die auf Provenienzforschung spezialisierte Kunstdetektei von Schleewitz an ihre Grenzen, was das bewährte Dreierteam aber nicht davon abhält, den Auftrag einer Sammlerin anzunehmen, deren Villa mit einem der für den mysteriösen Künstler typischen Schablonenbilder verziert worden ist.

Ist Banksy nun in München aktiv? Die überall in der Stadt auftauchenden Graffiti lassen es vermuten. Die Lokalpresse steigt ein, und schon bald wird eine besprühte Tür, die vorher zu einer Imbissbude gehörte, für 700.000 Euro versteigert. Doch dann finden die Kunstdetektive interessante Details über Anbieter und Käufer des „Werkes“ heraus, so dass sie auch weiterermitteln, als ihre Klientin abspringt. Wie sie dennoch ihren Schnitt machen, ist eines der vielen signifikanten Details, die den ausgefuchsten Plot von Bernhard Jaumanns drittem Kunstkrimi auszeichnen. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Roman als süffige Satire über die Exzesse des Kunstbetriebs zu gestalten, doch dem Autor gelingt mehr: Banksy und der blinde Fleck überzeugt auch als sozialkritische Spannungsliteratur samt tragischem Subtext. Und dazu gehört nicht zuletzt das ermüdende Gefühl der Vergeblichkeit.

Bernhard Jaumann: Banksy und der blinde Fleck. Galiani Verlag, Berlin 2023. 315 Seiten, 17 Euro.

Unwirtliches Land

(JF) Unerträgliche Hitze, aggressive Kängurus und jede Menge Schnapsleichen: Es ist kein Wunder, dass sich kaum noch Touristen nach Cobb, eine kleinen Stadt im australischen Hinterland, verirren. Auch das Internierungslager für Flüchtlinge, von dem sich mancher einen wirtschaftlichen Aufschwung versprochen hat, ist zu einer Quelle ständigen Ärgers geworden. Detective Sergeant Giorgios Manolis, Sohn griechischer Einwanderer, erkennt den Ort, in dem er aufgewachsen ist, kaum wieder Er soll den brutalen Mord an einer Lehrerin aufklären, doch das ist unter den herrschenden Bedingungen ziemlich schwierig. Der lokale Polizeichef ist wenig kooperativ und meistens betrunken. Die Einheimischen, ob Aborigines oder Weiße, sind sich einig darin, dass man den Täter im Flüchtlingscamp suchen muss, wo eigene Gesetze gelten. Sehr drastisch wird Manolis klar gemacht, dass er nicht erwünscht ist. Doch der Ermittler ist hartnäckig und findet mehr heraus, als ihm lieb sein kann. Denn die Wahrheit ist von monumentaler Trostlosigkeit.

Steinigung, der Debütroman des australischen Schriftstellers Peter Papathanasiou, zeichnet ein deprimierendes Bild von Geschichte und Gegenwart eines unwirtlichen Einwanderungslandes, indem er sich eines genretypischen Handlungsmusters bedient. Wir teilen Verwirrung und Abscheu des Ermittlers, der in schwieriger Mission seine fremd gewordene Heimat wiedersieht. Dieser Kunstgriff gelingt Papathanasiou auf so überzeugende Weise, dass er auf manchen Erzählerkommentar hätte verzichten können. Dem Roman wäre ein bisschen mehr Vertrauen in die eigene Dialog- und Beschreibungstechnik nicht schlecht bekommen.

Peter Papathanasiou: Steinigung (The Stoning, 2021). Aus dem Englischen von Sven Koch. Polar Verlag,Stuttgart 2023. 368 Seiten, 17 Euro.

Allerlei tiefe Bedeutung

(JF) Archaische Riten, grausame Morde und ein todkranker Polizist, dem nicht mehr viel Zeit bleibt, um den Fall seines Lebens zu lösen. An seiner Seite zwei Ermittlerinnen, die einander nicht grün sind. Dass auch sie biographisch belastet sind, versteht sich von selbst. Denn Die Insel der Seelen, ein Kriminalroman des sardischen Autors Piergiorgio Pulixi, folgt einem unwiderstehlichen Erfolgsrezept, zu dem auch ein reizvoller Schauplatz und ein wendungsreicher Plot gehören. Rasche Szenenwechsel und kurze Kapitel garantieren eine kurzweilige Lektüre.

Leider wird dieser unterhaltsame Mumpitz mit allerlei tieferer Bedeutung aufgeladen. Und das macht den dickleibigen Schmöker dann doch zu einer ziemlich trivialen Angelegenheit.

P. G. Pulixi: Die Insel der Seelen (L’isola delle anime, 2019). Aus dem Italienischen von Barbara Engelmann, Barbara Neeb und Katharina Schmidt. Zürich. Kampa 2023. 537 S. 19,90 Euro.

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