Geschrieben am 19. September 2017 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops September 2017

bloody chops

Bücher, kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW) über:

James Lee Burke: Flamingo & Zeit der Ernte (und zwölf weitere)
Massimo Carlotto: Der Tourist  
Anne Chaplet: In tiefen Schluchten
Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutext
Ellen Dunne: Harte Landung
Lucie Flebbe: Totalausfall 
Sven Heuchert: Dunkles Gesetz
Thomas Hippler: Die Regierung des Himmels. Globalgeschichte des Luftkriegs
Arlie Russell Hochschild: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten
Mark Jones: Am Anfang war Gewalt: Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik
Steve McCurry: Afghanistan 
Yassin Musharbashs: Jenseits
Philippe Pujol: Die Erschaffung des Monsters. Elend und Macht in Marseille
Thomas Weibel: Bare Münze. Was es über Geld zu wissen gibt.


cover carlotto 9783852567280Politisch inkorrekt & komisch

(TW) Nach ein paar Jahrzehnten literarischer Dauerpräsenz kann auch der übelste Serialkiller serialkillen wie er will, es interessiert so recht niemanden mehr. Das muss auch „Der Tourist“ erfahren, der zwar ein ganz toller Top-Killer ist, sich aber trotzdem ratzfatz von einem, dann von einem anderen Geheimdienst angeworben sieht (alternativlos), um seine Talente in sinnvolle und ersprießliche Bahnen zu lenken. Herzerwärmend ist dabei, dass er bei der Arbeit ein Serialkillerweibchen kennen lernt, die genauso psychopathisch ist wie er. Bei so viel Wahlverwandtschaft werden die beiden ein schönes Paar und könnten in Ruhe ihrem Beruf nachgehen, wenn sie nicht in einen fiesen Krieg zwischen offiziellen Geheimdiensten und den sogenannten „Freiberuflern“ gerieten, deren beider Methoden im neoliberalsten Sinne absolut dereguliert sind. Das alles erzählt Der Tourist von Massimo Carlotto. So wie der Schauplatz des Romans, Venedig, vom Tourismus und den riesigen Kreuzfahrschiffen zur Sau gemacht wird, was den idealen Subtext des Romans ergibt, so demontiert Carlotto die letzten Reste von Vertrauen in rechtsstaatliche Standards. Die Raison von undurchschaubaren Institutionen – schon lange nicht mehr irgendeine Staatsraison – dominiert das Handeln der Figuren, wobei Carlotto (ein alter Trick) die völlig plausible  „Systemkritik“ von den Bösen, den „Freiberuflern“ artikulieren lässt. Fast wollüstig versenkt der Roman alle Werte des politisch Korrekten – er ist auch ein Buch über Frauenfeindlichkeit, aber kein frauenfeindlicher Roman, weil er die strukturelle Frauenfeindlichkeit von Serialkiller-Narrativen deutlich sichtbar macht. Und nicht nur die – Der Tourist zerschießt auch andere Formeln (Polizeiroman, Polit-Thriller etc), die gern bemüht werden, um „Sinn“ oder ähnliches in die gleichgültige, kontingente Welt zu implantieren. Da fällt ein Serialkiller mehr oder weniger auch nicht mehr ins Gewicht.  Und natürlich, siehe Stichwort „neoliberal“, „der Markt“ will ja bedient werden. textet Carlotto noch schnell ein Sequel an.  Das ist, letztendlich, sehr ausgekocht und sehr komisch. Gar zynisch?

Massimo Carlotto. Der Tourist (Il Turista, 2016). Übersetzt von Monika Lustig und Catherine Hornung. Folio Verlag, Bozen 2017.  240 Seiten, 20,00 Euro.

cover 1flamingo 9783865325907

Lay Down My Sword and Shield

(AM) Die Lektüre des großen James Lee Burke hat CrimeMag immer zu befördern gesucht (siehe etwa hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier). Nun aber wird es Zeit für einen Zapfenstreich. 

Sechstausendneunhundertzweiundneunzig Seiten, vierzehn dicke Romane in 36 Monaten , das macht Zeit der Ernte von James Lee Burke6,11141552511 Seiten täglichen James-Lee-Burke-Lesestoff alleine für die letzten drei Jahre. Die Frage sei erlaubt, ob  das noch jemand lesen kann? Und mag. Ich ja schon, aber das war eben auf auch jene elf Jahre mitverteilt, in denen der produktive James Lee Burke keinen deutschen Verlag mehr hatte, also von 2003 bis 2014.

11. Oktober 2017: Weißes Leuchten: Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 5 (Pendragon, 496 Seiten)
28. August 2017: Zeit der Ernte: Ein Hackberry-Holland-Roman, Band 1 (Heyne Hardcore, 384 Seiten)
17. August 2017: Flamingo: Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 4 (Pendragon, 480 Seiten)
20. Mai 2017: Schmierige Geschäfte: Ein Dave-Robicheaux-Roman, Band 3 (Pendragon, 480 Seiten)
8. Februar 2017: Straße der Gewalt: Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 13 (Pendragon, 520 Seiten)
20. Januar 2017: Sturm über New Orleans: Ein Dave-Robicheaux-Krimi (Heyne Hardcore, 576 Seiten)

14. November 2016: Vater und Sohn: Ein Hackberry-Holland-Roman (Heyne Hardcore, 640 Seiten)
10. Oktober 2016: Blut in den Bayous: Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 2 (Pendragon, 456 Seiten)
4. Juli 2016: Neonregen: Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 1 (Pendragon, 432 Seiten, 3. Auflage)
9. Mai 2016: Fremdes Land: Ein Weldon-Holland-Roman (Heyne Hardcore, 576 Seiten)
22. Februar 2016: Mississippi Jam. Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 7 (Pendragon, 588 Seiten, 2. Auflage)

14. September 2015: Glut und Asche. Ein Hackberry-Holland-Roman (Heyne Hardcore, 704 Seiten)
16. Februar 2015: Sturm über New Orleans. Ein Dave-Robicheaux-Roman, Band 16 (Pendragon, 576 Seiten, 5. Auflage)

20. Oktober 2014: Regengötter. Ein Hackberry-Holland-Roman (Heyne Hardcore, 672 Seiten).
(Meinung dazu gerne an: CrimeMag@gmx.de)

cover flebbe_BO1,204,203,200_Neunter Fall für eine ungewöhnliche Krimiheldin

(JF) Der Vater prügelt, die Mutter schaut weg. Die Familienhölle verbirgt sich hinter einer gutbürgerlichen Fassade. Und der entkommt man nur durch Flucht. Doch bis es soweit ist, kann dauern. Mit zwanzig, gerade hat sie das Abitur bestanden, ergibt sich für Lila Ziegler endlich die Gelegenheit zu verschwinden. Dass sie ausgerechnet in Bochum aus dem Zug steigt, ist ebenso ein Zufall wie das Zusammentreffen mit dem griesgrämigen, aber sehr attraktiven Privatschnüffler Ben Danner. Das heißt, Lilas Erfinderin Lucie Flebbe (damals noch Klassen) hat diese eher unwahrscheinliche Verkettung von Umständen frech konstruiert, um die wohl jüngste Ermittlerin der deutschsprachigen Kriminalliteratur jenseits des Kinderbuches ihrer Bestimmung zuzuführen. Gelungen ist ihr dieses gewagte Manöver allemal, wie man an den bislang erschienenen acht Romanen um die detektivisch hochbegabte junge Frau sehen kann. Seit ihrem Debüt „Der 13. Brief“ (2008) hat Lucie Flebbe ihre Heldin vor allem dort ermitteln lassen, wo es in unserem fein organisierten Sozialsystem kriselt. Ob als Reinigungskraft im Krankenhaus oder als Aushilfe beim Pflegedient: Undercover war Lila Ziegler unschlagbar. Und da die Autorin sie mit einer unverwechselbaren Stimme, die sehr schön zwischen Selbstzweifel und Entschlossenheit changiert, ausgestattet hat, überzeugt sie auch als Erzählerin ihrer Abenteuer.

Nun liegt mit Totalausfall der neunte und wohl endgültig letzte Fall der Serie vor. Ausnahmsweise ist die Jungdetektivin nicht mit geborgter Identität unterwegs. Nach einem gescheiterten Suizidversuch findet sie sich von allen Freunden verlassen als Patientin in einer psychiatrischen Klinik wieder. (Wie es dazu kam, lässt sich in dem Vorgängerroman „Am Boden“ nachlesen.) Den Plan, ihrem Leben ein Ende zu setzen, hat sie noch nicht aufgegeben. Doch dann geschieht ein Mord, und Lilas detektivisches Interesse erwacht. Bis sie allerdings aufklären kann, wer der jungen karriereorientierten Psychologin die Kehle durchgeschnitten hat, müssen zwei Mitpatienten ins Gras beißen. Dass Lila währenddessen auch noch in eigener Sache ermittelt, macht die Sache für sie nicht einfacher, die Lektüre aber spannender. Wer sich an Alfred Hitchcocks Psychiatriethriller „Ich kämpfe um dich“ („Spellbound“, 1945) erinnert fühlt, liegt sicher nicht ganz falsch, auch wenn Lilas Problem sich nicht so einfach lösen lässt wie Gegory Pecks Schuldkomplex. Schließlich sind die Zeiten, da man Dr. Freuds psychoanalytischen Methoden vertraute, vorbei. Heute setzt man auf Gesprächs-, Verhaltens- und Kunsttherapie, leider vergeblich bei einer starrköpfigen Patientin wie Lila Ziegler. Was sie wirklich braucht, zeigt das glückliche und ein wenig sentimentale Ende des Romans. Und das gönnt man dieser ungewöhnlichen Krimiheldin zum Abschied gerne.

Lucie Flebbe: Totalausfall. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund 2017. 270 Seiten, 11,00 Euro.

cover mark jones SX312_BO1,204,203,200_Geschichte wiederholt sich nicht

(TW) Manchmal, gerade jetzt, zu Zeiten des Wahlkampfs, mag man es nicht fassen, wenn CDU/CSU und SPD zum Thema „Innere Sicherheit“ miteinander kuscheln wie nix Gutes. Dann fällt einem, im Falle SPD, letztendlich doch der Name Noske ein. Nicht, weil sich Geschichte wiederholt, aber weil es durchaus Analogien gibt. Der neuseeländische Historiker Mark Jones schaut sich in seinem kapitalen Werk Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik minutiös und auf Alltagsquellen (Tagebücher, Zeitungen, Briefen etc.) gestützt, die Rolle der SPD an, die vor lauter Kommunisten (= Spartakus)-Angst nicht vor gröbster Gewaltanwendung (Feldartillerie und Luftwaffe im Straßenkampf, Massaker, willkürliche Gewalt) zurückschreckte, ohne Not, ohne Relation, oft aus bloßer Hysterie, oft aus reinem Machtkalkül. Unter dem Vorwand, die „Demokratie zu retten“ arbeiteten die Regierungen Ebert und Scheidemann einvernehmlich mit Reichswehr und Freikorps zusammen und heizten das Gewaltlevel einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft sehenden Auges hoch. Wie gesagt, Geschichte wiederholt sich nicht, sie weist allerdings hin und wieder fatale Kontinuitäten auf. Wichtige Kontextstudie …

Mark Jones: Am Anfang war Gewalt: Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Propyläen Verlag 2017, Übers.: Karl Heinz Silber, 432 Seiten, 26,00 Euro. Verlagsinformationen.

cover-2_Hippler 9783957573360Polizeiarbeit – aus der Luft

(AM) „Und in diesem Augenblick schießt ihm der Entschluss auf, unerschütterlich: Flieger will er werden… Im Dreck herumkrebsen ist gut genug für alte Leute. Er aber wird sind in den stählernen Lindwurm verwandeln, mit Krallen, Schweif und feurigem Atem, der das Gezwerg in seinen Klüften aufstört… Eine gebrechliche Kiste wird er unter sich haben, zwei breite Flügel, eine wirbelnde Luftschraube, und heidi übers Wolkenmeer hinaufsteigen wie eine Lerche am Sonntag – und freilich nicht Lieder trillern, sondern Bomben herunterwettern, die kriechenden Menschen mit Gas beaasen, mit Spritzkugeln unter ihnen aufräumen.“ Arnold Zweig fasst so in „Erziehung vor Verdun“ (1935) die Allmachtsphantasien eines deutschen Soldaten zusammen.

Der Luftkrieg ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Der französische Philosoph und Historiker Thomas Hippler verblüfft in Die Regierung des Himmels vor allem mit zwei, miteinander in Verbindung stehenden Befunden: Die Schauplätze des ersten Ausprobierens von Luftbombardements waren die gleichen wie dann hundert Jahre später in unserer Zeit: Libyen, Irak, Afghanistan, Somalia. Und die Begründung dafür hat sich kaum geändert: „Der Pilot als Polizist und die Bombe als Knüppel“, zitiert Hippler Sven Lindqvists Studie „The History of Bombing“ aus dem Jahr 2000. Bevor die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg das Zentrum erreichten, so legt Hippler überzeugend und materialreich dar, wurden sie an der Peripherie des Weltsystems erprobt und perfektioniert: „Bevor die europäischen Städte in Schutt und Asche gelegt wurden, hatte man die Matrix des totalen Krieges bereits in den Kolonien entwickelt.“

Rudyard Kipling war bei weitem nicht der einzige, der mit seinen „wüsten Kriegen des Friedens“ die Idee einer Weltregierung auf Grundlage der Luftwaffe (und ihrer „polizeilichen“ Sanktionsmöglichkeiten) propagierte. Bis heute ist die Entwicklung der Luftfahrt innig mit einer rassistischen Weltauffassung verknüpft: Den weißen Völkern bringt sie Frieden, den Kolonialisierten Bomben. Ganz im Sinne von Kiplings „Bürde des weißen Mannes“ hat der Luftkrieg den Krieg als Kollektivstrafe im bittersten Sinne des Wortes demokratisiert, als Kreuzzug für die Zivilisation und zugleich gegen Hungersnot, Krankheit, Unwissenheit und Tyrannei. Auch Trumps Drohungen mit „Feuer und Wut“ gegen Nordkorea oder sein Marschkörper-Flugbefehl gegen Syren während eines Dinners in Mar-a-Lago sind ein Teil dieser „kolonialen Matrix“ (Hippler).
Als Resultat der angestrebten Weltordnung aber regiert das globale Chaos. Die Regierung des Himmels, die darauf verzichtet, den Boden zu befrieden, markiert den Beginn der assymetrischen Kriege ohne ein Ende.

Thomas Hippler: Die Regierung des Himmels. Globalgeschichte des Luftkriegs (Le Gouvernement du ciel. Histoire globale des bombardements aériens, 2014). Aus dem Französischen von Daniel Fastner. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 270 Seiten, 24,00 Euro. Verlagsinformationen.

cover ellen dunne 36288Aktuelle gesellschaftliche Probleme, reflektiert

(JF) Dass es in der schönen neuen Arbeitswelt der Digitalwirtschaft menschenfreundlicher zuginge als im analogen Büro von vorgestern, ist ein frommer Glaube. Auch wenn die Angestellten in kurzen Hosen herumlaufen dürfen und ihre Tätigkeit nicht nach Arbeit aussieht. Skiller ist da keine Ausnahme. Entstanden als Tauschplattform im Internet ist das Start-Up-Unternehmen Unsummen wert. Und das, obwohl es noch keinen Cent Gewinn gemacht hat. Wer in solche Firmen investiert, setzt auf die Zukunft. Nun, da der Börsengang bevorsteht, wächst der Stress. In einer solchen Situation greift mancher zu aufmunternden Drogen, Carolin Höller, die gerade aus der Dubliner Zentrale in die Münchner Filiale gewechselt ist, macht da keine Ausnahme. „Wir wachsen mit jedem Tag und jeder neuen Aufgabe über uns selbst hinaus“, heißt es im „Skiller“-Wertemanifest. Und das geht erheblich besser mit Kokain. Doch nun ist Carolin Höller tot, ihre Leiche findet sich unterhalb ihres Bürofensters auf der Innenhofterrasse. Suizid, Mord oder ein Unfall? Die Ermittlungen übernimmt Hauptkommissarin Patsy Logan von der Münchner Kripo. Schließlich scheinen sie ihre deutsch-irischen Wurzeln für einen Fall zu prädestinieren, der zwangsläufig von München nach Dublin führen wird.

Das Online-Unternehmen Skiller ist fiktiv, so wie auch Patsy Logan. Aber man darf der gebürtigen Österreicherin Ellen Dunne, die im Dubliner Google-Hauptquartier gearbeitet hat, getrost abnehmen, dass sie weiß, wie es in der digitalen Industrie zugeht. Auch ihre Heldin muss sich mit Problemen herumschlagen, die im Alltag beruflich erfolgreicher Frauen nicht ungewöhnlich sein dürften. Gatte Stefan, Psychologe mit eigener Praxis, will partout Nachwuchs, auch wenn es auf die herkömmliche Weise nicht gelingen mag. Patsy hingegen hat erhebliche Zweifel, ob sie sich den Künsten der modernen Reproduktionsmedizin aussetzen möchte. Eine Ehekrise scheint in vollem Gange, während zeitintensive Ermittlungen beginnen. Die Lage bessert sich nicht, als Patsy für Vernehmungen in der Skiller-Zentrale nach Dublin reisen muss, zumal sie hier mit traumatischen Erinnerungen konfrontiert wird. Ellen Dunne wollte ihrer Figur offenbar nichts ersparen. Dass diese, trotz solcher Zugeständnisse an genretypische Konventionen, als Ich-Erzählerin überzeugt, ist ein Qualitätsmerkmal des Romans. Wir haben es mit einer Autorin zu tun, die ihr Handwerk versteht. Das zeigt sich auch an den geschickt in die Haupterzählung montierten Rückblenden und Textdokumenten.

Beste Unterhaltung also, aber auch ein erneuter Beweis für die Fähigkeit von Spannungsliteratur, aktuelle gesellschaftliche Probleme in einem fiktiven Rahmen zu reflektieren. So richtig zufrieden bin ich allerdings erst, wenn die Autorin mir erklärt, was Patsy meint, wenn sie bemerkt, sie sehe aus „wie eine Frau von der Zeitsparkasse“ (S. 190). Bei so einer Institution hätte ich nämlich gern ein Konto.

Ellen Dunne: Harte Landung. Ein Fall für Patsy Logan. Kriminalroman. Insel Verlag, Berlin 2017. 442 Seiten, 10,95 Euro.

cover despentes 9783462048827Eisklarer Blick

(TW) Ein richtiger, klassischer Noir ist Virginie Despentes´ Das Leben des Vernon Subutex, der erste Teil einer Trilogie, die man in Frankreich schon als den besseren Houllebecq feiert. Da ist was dran.  Vernon Subutext ist Schallplattenhändler, dem der digitalisierte Strukturwandel seiner Branche die Beine weggehauen hat. Er verliert seinen Laden, seine Wohnung, seine gesamte bürgerliche Existenz. Das Einzige von Wert, was ihm bleibt, sind ein paar Tonaufnahmen des gerade gestorbenen Rock/Rap-Stars Alex Bleach, die dieser total zugedröhnt aufgenommen hat. Die Devotionalienindustrie, die tote Stars fleddert, ist hinter den Aufnahmen, das bildet das eher flache, noir-typische plot-Konzept des Romans.  Die andere Erzählstruktur ist das down-and-out von Subutex. Er steht auf der Straße und versucht, bei den alten Kumpels und Ex-Geliebten unterzukommen. Hier entfacht Despentes ein sprachgewaltiges Pandämonium quer durch die prekäre Boheme von Paris, eine Stadt, die für normale Menschen immer unbezahlbarer wird und vor sozialer Kälte nur so klirrt. Wir treffen die Verlierer und die Gewinner, die, denen es mit den alten Idealen von Musik und Kunst ernst war und die abgestürzt sind, oder die, die sich zu schleimigen Opportunisten entwickelt haben, die auf dem rechten Ticket Karriere machen, die Drogensüchtigen, Kriminellen, die Gewalttätigen und die veritabel Irren. Despentes verknüpft alle diese Figuren virtuos, porträtiert sie gnadenlos genau – ihr Blick ist eisig klar, sie geht an die Kerne ihrer Figuren, bis in die letzten Winkel des Körperlichen. Und überall bilden die ökonomischen Bedingungen die Basis für die menschlichen Beziehungen, deren Sozialität oft schon außer Kraft gesetzt ist. Ein Roman nicht nur über Paris, sondern sozusagen über „uns“, insofern wir den nicht-bürgerlichen Weg gewählt haben, ohne die Konsequenzen sehen zu wollen. Humanität und Kreativität sind im betriebswirtschaftlichen Entwurf von Gesellschaft schon lange nicht mal mehr symbolisches Kapital. Exzellentes, böses Buch, großartig.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex (Vernon Subutex, 2015). Übers.: Claudia Steinitz. Kiepenheuer&Witsch, Köln 2017, 400 Seiten, 22,00 Euro.

Pujol_25686-MR.inddOrtstermin (1): Marseille – ohne Romantik

 (AM) Auf Jean-Claude Izzo (1945–2000) bezog er sich ganz explizit, als er 2014 mit dem Prix Albert Londres, Frankreichs prestigeträchtigem Reporter-Preis, ausgezeichnet wurde. Wie 2006 – mit dem Buchmessen-Schwerpunkt Indien und Suketu Mehtas „Bombay Maximum City“ – bringt uns das diesjährige Gastland Frankreich nun die Übersetzung eines weiteren großen Stadtporträts auf den Tisch – ein Buch, das ohne Weiteres neben Michael Pyes „Maximum City“ (New York), Rana Dasguptas „Capital“ (Delhi), Francisco Goldmans „The Interior Circuit“ (Mexico City) oder Ben Judahs „This is London“ (CM-Kritik hier) zu bestehen vermag.

Und es ist die perfekte Fortsetzung jener Arbeit, der sich der von Thomas Wörtche für die Metro-Reihe in den deutschen Sprachraum geholte Jean-Claude Izzo so vielgestaltig gewidmet hat. Immer noch lesenswert: die 1995 bis 1998 entstandene Marseille-Trilogie mit „Total Cheops“, „Chourmo“, „Solea“; für Rosinenpicker empfohlen: „Mein Marseille“. Auch Philippe Pujol, 1975 geboren, lebt und arbeitet in dieser Stadt als Journalist. Seine Reportagen für die Tageszeitung „La Marseillaise“ wurden mehrfach ausgezeichnet, er hat ein großes Sensorium für Rassismus, ohne dabei alarmistisch zu sein; hoffen wir, dass sein aktuelles Buch „Mon cousin le fasciste“ einen deutschen Verlag findet.

In seinem Stadtporträt Die Erschaffung des Monsters dekonstruiert Pujol auf Randsteinhöhe den Mythos und die Medienbilder, die wir von Marseille haben. Schon gleich im ersten Absatz des ersten Kapitels („Schwarze Hände“) fällt die Tür hinter ihm zu und er ist eingesperrt in einen Keller, in dem ein paar nervöse Kleindealer gerade Haschisch mit Altöl strecken. Lokalpolitiker, Immobilienhaie, Dealer, Mütter und Freundinnen, kleine und größere Gangster und Kriminelle, pragmatisch gewordene Cops, Bewährungshelfer, Ladenbesitzer und Architekten, Pujol stößt uns ins Metropolenchaos, findet zu allen einen packend-anschaulichen Zugang. Seine Reportage flirrt und tänzelt, hat poetische Kraft und ist im besten Sinne politisch.

„Marseille ist eine schillernde Stadt, ein Knäuel von Phantasien und Lügen, Trugbildern und Täuschungen. Marseille gehört mit Haut und Haar zur Welt des Mittelmeeres… Ganz ohne Romantik war und bleibt Marseille der Ort, an dem sich die Exilierten der Welt begegnen“, hat Izzo geschrieben. „Jedem seine Liebe zu Marseille. Eine heiße Liebe, die kräftig mit Mythen und Legenden unterhalten und befeuert werden muss“, heißt es im Schlusskapitel „Frankenstein“ von Philippe Pujols Buch. Und weiter: „Die Gewalt, die Drogen, die Geschäftemacherei, die Mauscheleien, der Beton, die Wahlen, der Rassissmuss … Für Frankreich und andere Länder, die sich für uns interessieren, ist Marseille für sich genommen schon ein Abenteuer, ohne dass man in die Ferne reisen muss. Marseille stellt auch eine Art Sicherheitsventil dar, um den Überdruck der in ganz Frankreich aufgestauten Probleme abzulassen… Die schönste (und älteste) Stadt Frankreichs verbirgt ihre Wunden nicht. Sie ist aufrichtig. Das ist alles.“

Philippe Pujol: Der Erschaffung des Monsters. Elend und Macht in Marseille (La fabrique du monstre : 10 ans d’immersion dans les quartiers nord de Marseille, la zone la plus pauvre d’Europe, 2016). Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz und Till Bardoux. Hanser Berlin, 2017. 286 Seiten, 24,00 Euro. Verlagsinformationen.

cover chaplet 9783462050424Atmosphärisch

(JF) Es gibt Rätsel, Tote, Ermittlungen. Und doch ist Anne Chaplets neuer „Kriminalroman aus dem Süden Frankreichs“ kein gewöhnliches Stück Spannungsliteratur und auch kein weiterer Beitrag zum populären Genre des Urlaubskrimis. Angesiedelt in der historischen Provinz Vivarais (dem heutigen Department Ardèche), führt die Handlung zurück in die Vergangenheit. Ein widerständiges Völkchen ist hier zuhause, das trotz Verfolgung über Jahrhunderte seinem protestantischen Glauben treu blieb. Und während der deutschen Besatzung war die Résistance besonders stark. Später, ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, zog die wildromantische Gegend alternativbewegte Aussteiger aus ganz Europa an. „Gewitzte Bauern“, so heißt es in Chaplets Roman, verkauften „den Hippies damals für viel zu viel Geld ihre alten Ruinen“. Ein Hippie ist Tori Godon nicht. Die ehemalige Rechtsanwältin ist 42 Jahre alt und seit kurzem Witwe.  Die Vorfahren ihres zu früh verstorbenen Mannes Carl stammten aus der Gegend, deshalb hatten sie eines der leerstehenden Häuser gekauft. Nun bleiben Tori nur Trauer und die Erinnerung.

Doch für Ablenkung ist gesorgt. Erst verschwindet ein Höhlenforscher, dann stirbt ein alter Mann. Ohne Absicht wird Tori in die Geschichte verwickelt und gerät selbst in Gefahr. Dass sich die mysteriösen Zusammenhänge aufklären, ist allerdings nicht ihr Verdienst. Statt Krimikonventionen zu bedienen, setzt die Autorin auf Atmosphäre. Und das ist ihr gut gelungen. So liest sich In tiefen Schluchten auch als Liebeserklärung an eine Region und ihre Historie.

Anne Chaplet: In tiefen Schluchten. Ein Kriminalroman aus dem Süden Frankreichs. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 311 Seiten, Köln 9,99 Euro.

cover 2 weibel münze_7181Warum die 1000-Franken-Note so beliebt ist

(AM) Oft kaum mehr als eine Doppelseite umfassen die Miniaturen von Bare Münze, einem vergnüglich-erhellenden Streifzug durch die Geschichte des Geldes. Thomas Weibel, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur, fängt beim Tauschhandel in der Steinzeit an: Beeren gegen Baumnüsse, Brennholz gegen Bärenfell. Vier Absätze weiter sind wir bei den Bitcoins und beim „bartering“, was auf Deutsch nichts anders als Tauschhandel bedeutet.

Das Kapitel „Die Füße voran in siedendes Öl“ führt in die Welt der Falschmünzer und besucht etwa den Münchner Grafiker Günter Hopfinger, der als „Blütenrembrandt“ 1973 aufflog. Per Tuschefüller und von Hand zeichnete er seine Tausendmarkscheine, acht Stunden brauchte er für ein Exemplar. Eigentlich kein schlechter Stundenlohn, erklärte er den Polizeibeamten. Ebenso flott geht die Reise zu Begriffen wie Bankrott oder Blüten, zu Falschmünzern, Verkaufsautomaten, Banknoten, Weihnachtsgeld, Gutscheinen und Boni, zu der im KZ entwickelten Liliput-Rechenmaschine „Cuba“ von Curt Herzstark, zu Andy Warhols „One Dollar Bill“, die 2015 bei Sotheby’s 32,8 Mio $ erzielte, zu David Bowies Anleihe für „The Man Who Sold the World“ oder zur Frage, warum Flugtickets einmal wie teure Banknoten ausgesehen haben.

Es gibt eine kleine Geschichte des Verschließens, schön illustriert wie überhaupt all die Miniaturen, sowie Betrachtungen darüber, was für Kriminelle die besten Währungen sind, um in wenigen großen Scheinen viel Geld hinwegzutragen. Am beliebtesten weltweit: die Schweizer 1000-Franken-Note, 60 Prozent des gesamten Notenumlaufs der Schweiz besteht aus solchen Scheinen. Zehn Mio Dollar passen damit leicht in eine Aktentasche und wiegen weniger als zwölf Kilogramm, für 500-Euro-Scheine bräuchte es hier bereits zwei Geldkoffer. Und in 100-Dollar-Scheine aufgeteilt, die größte aktuelle Banknote der USA, wären für die zehn Millionen schon einige Koffer notwendig, um gut 100 Kilo Papiergeld zu schleppen. Kein Wunder, dass in Wallace Strobys Räuberinnen-Romanen mit Crissa Stone so ausgiebig Dollars gezählt werden müssen. Schon Karl Valentin wusste: „Rechnen ist schön, macht aber viel Arbeit.“

Thomas Weibel: Bare Münze. Gallier und heilige Gänse: Was es über Geld zu wissen gibt. Verlag Johannes Petri, Basel 2017. 134 Seiten, Hsrcover mit vielen Abb, 24,00 Euro. Verlagsinformationen.

cover jassin muVerrat & Intrige

(TW) Ganz fest in der Realität ist Yassin Musharbashs Jenseits verankert. Die Geschichte vom abgebrochenen Rostocker Medizinstudenten, der sich in Rakka dem IS anschließt, dort eine Art Karriere macht und plötzlich anscheinend reuig nach Deutschland zurückmöchte, reicht in ihren Verästelungen bis zu Anis Amri und den seltsamen Verhaltensweise der „Sicherheitsdienste“. 

Musharbash aktualisiert die klassischen Elemente des Polit-Thrillers (Maulwurf, Intrige und Gegenintrige, Lecks, Verrat) für ein multivektorielles Szenario, das hauptsächlich von verschiedenen Partialinteressen in Bewegung gehalten wird.  Weil der Autor nun mal selbst Journalist ist, spielt Journalismus eine große Rolle, und diese Selbstreferentialität tut solchen Romanen meistens nicht gut, so auch leider hier, weil das übliche redaktionsübliche Hickhack hin und wieder ausufert. Aber das ist nur ein kleines Manko eines ansonsten gelungenen Romans.

Yassin Musharbashs: Jenseits. KIWI-Paperback, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 320 Seiten, 14,99 Euro.

Ortstermin (2): Südwest-Louisianacover hochschild 9783593507668 – so nah, so fern

(AM) In den USA erschien dieses Buch am 6. September 2016, acht Wochen vor der Wahl von Donald Trump. Bis heute beschreibt keines genauer, anschaulicher und klüger, warum die Amerikaner ihn nun zum Präsidenten haben, warum gerade die Marginalisierten ihn wählten, warum die Zeit reif war für einen so dumpfen „Gefühlskandidaten“ wie ihn. Arlie Russell Hochschild, emeritierte Professorin der University of California und eine der bedeutendsten Soziologinnen der Gegenwart („Das gekaufte Herz: Die Kommerzialisierung der Gefühle“, USA 1979/ D 2006), war es freilich gar nicht um Trump gegangen, als sie im Jahr 2010 nach Louisiana loszog, um die sich immer mehr abzeichnende Spaltung der amerikanischen Kultur und Gesellschaft näher zu ergründen. Schon in den 1960er Jahren hatte sie sich in Kalifornien einen Monat bei der John Birch Society einquartiert, einem reaktionären Vorläufer der Tea Party, jetzt wollte sie jene Menschen verstehen lernen, die den Staat eher als Problem denn als Lösung begreifen. Immer wieder hatte sie dabei das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, aber es war ihr eigenes.

„Weiß, weiblich, grauhaarig und links“, wie sie sich selbst charakterisiert, stieg sie in mehr als fünf Jahren Recherchearbeit in eine Welt, die wir – und immer noch zu wenig – vielleicht aus den Romanen von James Lee Burke oder Benjamin Whitmer kennen (siehe Ute Cohens Besprechung in dieser CrimeMag-Ausgabe). Hochschild freilich ist keine fiction-Autorin, ihr Metier ist die teilnehmende Beobachtung. 60 Interviewpartner, viel Geduld und Empathie und 4.000 Seiten verschrifteter Gespräche halfen ihr zur „Tiefengeschichte“ jener Kluft vorzudringen, die (nicht nur) durch die amerikanische Gesellschaft läuft und mit dem Begriff „Wutbürger“, „Rechte“ oder „AfD-Wähler“ nur unvollständig beschrieben ist.

Die Menschen, die sie beschreibt, sind gute Nachbarn, handfeste Freunde und liebenswerte Menschen. Sie wählen republikanisch, schauen Fox News, unterstützen die Tea Party und dann eben auch Donald Trump. Und sie sind voller Widersprüche und kognitiver Dissonanzen. Da kann das eigene Haus im Bohrloch einer Ölfirma versinken, da kann man in einem von Chemiefirmen vergifteten Sumpf wohnen und Krebs bekommen haben, trotzdem hat man einen heiligen Zorn auf Umweltschützer, Behörden und Regulationen, ist glühend für den „freien Markt“, hasst „Big Government“ und sieht den Kampf gegen Abtreibung als wichtigstes politisches Ziel. „Wir wählen Kandidaten, die der Bibel den Rang geben, der ihr gebührt.“ Frieden im Nahen Osten, den gäbe es am ehesten, „wenn jeder dort genügend Munition und eine Waffe hätte“. Südwest-Lousiana hat die höchste Gefangenenrate in den USA und mehr als das doppelte des US-Durchschnitts an Schussopfern pro Jahr, bezieht 44 Prozent seines Haushalts aus Washington und ist gleichzeitig vehement anti-föderal, hat mit die leidenschaftlichsten Antiregulations-Wähler, bei gleichzeitig den größten Umweltschäden in den USA. Es ist ein Zentrum der Klimawandel-Leugnung, gleichzeitig steigt nirgends sonst auf dem Planeten der Meeresspiegel so stark an.

Sechs Charakter(köpf)e bringt Hochschild uns beeindruckend nah, das Buch hat mich immer wieder an George Packers „Die Abwicklung“ erinnert (CrimeMag-Besprechung hier). Als „Anhang C“ gibt es einen Faktencheck zu gängigen Ansichten.

Arlie Russell Hochschild: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten (Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right, 2016). Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Campus-Verlag, Frankfurt 2017. 430 Seiten, 29,95 Euro. Verlagsinformationen.

cover heuchert 9783550081781_coverBrav abgearbeitet

(TW) Eher brav und bieder kommt Sven Heucherts Dunkels Gesetz  daher. Ist schon klar, was das sein soll: Ein deutscher Country Noir, also ein Modell, das es seit zig Jahrzehnten mehr oder weniger sinnvollerweise gibt. Auf jeden Fall retro und so eine Art Malen nach Zahlen. Die dumpfe Provinz von Andrea Maria Schenkels „Tannöd“, der Sumpf und der Dreck und die ekligen Figuren von Jim Thompson bis Donald Pollock, dazu, man glaubt es kaum: Legionärsromantik, die von bösen Schwarzen weggeschossene Liebe, die Hure mit Herz, die fiesen Gauner aus Osteuropa, Markenkunde in Waffen und Alkoholika und auch noch junge Frauen und Pferde. Meine Güte. Außerdem jede Menge steif stilisierte Dialoge („Die Schnecke, die bei dir eingezogen ist, hat dir wohl die Hirnwindungen mächtig verdreht. Bist´n Liebeskasper geworden“, die vermutlich authentisch sein sollen, ein Wert, der eh ziemlich naiv ist), aber noch nicht mal skaz sind. Natürlich ist alles ganz furchtbar und noirnoirnoir, im Zwischenmenschlichen keimt Hoffnung, wie sich´s für Kitsch Noir gehört. Und das ganze ohne jegliche Überraschung, ohne Drehs und Wendungen, ohne Komik, ein bisschen wie der Kohlsuppennaturalismus früherer Zeiten. Das ist keine vergiftete Provinz wie manchmal bei Manchette, sondern ein 1:1-Katalog der Klischees, die aber mit großer Pose penibel abgearbeitet und abgehakt.

Sven Heuchert: Dunkles Gesetz. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 192 Seiten, 14,99 Euro.

steve_mccurry_afghanistan-cover_05326Ortstermin (3): Bildmächtiger Erzähler

(AM) „Dänemark könnte in einer Falte zwischen zwei Bergketten liegen“, heißt es in Carsten Jenssens großem Kriegs- und Kriminalroman „Der erste Stein“ in einer ersten Annäherung über Afghanistan (ausführliche CM-Kritik hier). Der amerikanische Fotograf Steve McCurry ist seit 1979 immer wieder in das Land am Hindukusch gereist. Wie kaum ein anderer Wahrnehmungs-Produzent, zu denen man getrost auch die politisch wachen Autoren von Kriminalliteratur zählen kann, hat er sich mit diesem Land und seinen Menschen beschäftigt und uns über die Jahre immer wieder mit Bildern dazu versorgt, hat unsere Sicht auf das Land und seine Menschen mitgeprägt. Er selbst versteht sich nicht als Fotojournalist, sondern als „visueller Storyteller“. Wenn er auf ein bestimmtes Licht warte, sagt er von sich, „dann bin ich ein sehr, sehr geduldiger Mensch“.

In die Fotos dieses bildmächtigen Erzählers kann man sich lange versenken, oft haben sie ikonografische Qualität. Steve McCurry hat (noch in schwarz-weiß) die Mudschahedin im Kampf gegen die sowjetischen Besatzungstruppen fotografiert, hat das Land während des grausamen Bürgerkrieges in den 1990 Jahren bereist, hat die Menschen unter der Herrschaft der Taliban porträtiert. Jetzt konnte der Verlag Benedikt Taschen ihn überzeugen, eine Auswahl seiner Arbeit aus vier Jahrzehnten zu treffen. Bis auf einige Schwarzweißfotos aus den 1970er und 1980er Jahren präsentiert uns der solide ausgestatte Band mehr als 230 Bilder, ein Bildregister hilft bei der Zuordnung. Die ersten 14 Fotografien zeigen bewaffnete Männer und Kinder, ein Volk unter Waffen. Dann öffnet sich der Blick: auf Landschaften und Städte, Ruinen und Kriegsspuren, auf Häuser, Händler, Alltagsszenen, auf Frauen und Mädchen, und immer wieder auf Kinder. Die Porträts transportieren viel Stolz – „ein Land, wo vierzig verschiedene Traubensorten wachsen“, zitiert der schottische Reiseschriftsteller William Dalrymple in seinem Nachwort einen Text aus dem 19. Jahrhundert. „Die Gene hundert verschiedener Ethnien“, sieht er in den eindrucksvollen Gesichtern gespiegelt, in manchen blauen afghanischen Augen blitzen ihm „Alexanders verlorene Legionen auf“.

Das Foto, das Steve McCurry Weltruhm brachte und 1985 auf dem Cover von „National Geographic“ erschien, die unfassbar grünen Augen von Sharbat Gula, die er in einem Flüchtlingscamp fand, findet sich auf Seite 103. Die Bildlegende, wie bei ihm üblich, sagt nur knapp: „Peshawar, Pakistan 1984“. Stärke und Furcht zugleich spiegeln sich in diesem Gesicht. Gleichdarauf folgen vier weitere Kinderporträts, in all diese Augen kann man sich verlieren. Selbst vollverschleierte Frauen „sprechen“ bei Steve McCurry. Da reiten Jungs fröhlich auf einem Kanonenrohr, da hat ein Junge Apfelsinen auf dem Kofferraumdeckel eines Autowracks ausgebreitet, da spielen und jonglieren fröhliche Mädchen mit Tennisbällen („Kabul, 2016“), da lernen Schulkinder das Anschleichen an den Feind, da fliegt ein Schwarm weißer Tauben am Marktplatz von Mazar-e Sharf auf, da wird 1992 ein misshandelter Spion durch die Straßen Kabuls getrieben, da spiegelt sich immer wieder das Licht im Metall und polierten Holz vieler stolz getragener Kalaschnikows. Eines der stärksten und befremdlichsten Bilder: Wie drei erschöpfte Kämpfer in einem Schützenloch zu schlafen versuchen, während um sie herum im Dämmerlicht einige ausgemergelte Kühe grasen.

Steve McCurry: Afghanistan. Mit einem Nachwort von William Dalrymple. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2017. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Hardcover, Format 26,7 x 37 cm. Mehr als 230 Fotografien, 256 Seiten, 59,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch hier.
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