Geschrieben am 15. Juni 2017 von für Bücher, Crimemag

Roman: Carsten Jensen: Der erste Stein

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Carsten Jensens Roman „Der erste Stein“ reagiert auf den absurden Krieg in Afghanistan. Er verweigert radikal alle Sinnstiftungen und seziert das Gemetzel Schicht für Schicht. So entsteht eine Art salzsäureklarer Polit-Thriller der Kontingenz.  Ein großer Roman, besprochen von Thomas Wörtche.

„Der erste Stein“ von Carsten Jensen beginnt wie ein Kriegsroman aus Afghanistan. Erzählt wird vom Schicksal eines dänischen Nato-Kontingents, irgendwo in der Wüstenei der Provinz Kandahar. Der 3. Zug ist in einem vorgeschobenen Camp basiert, von dort aus werden Patrouillen gefahren, es herrscht die übliche Langeweile, punktiert von Momenten der Lebensgefahr, Gewalt und Tod, in einer unsicheren und undurchsichtigen Gesamtlage. Wer ist Freund, wer ist Feind? Wer gehört zu den Taliban? Wer ist Warlord? Wer ist einfach nur Bauer oder Händler? Wie sehen die jeweiligen Konstellationen und fragilen Bündnisse aus, die noch vor Tagen anders aufgestellt waren? Was treiben die Spezialeinheiten der USA? Was die Söldner-Firmen? Wer hat welche Interessen? Was zählt die überlegene Waffentechnologie und die pure Feuerkraft?

Der 3. Zug hat seine internen gruppendynamischen Probleme, der Kommandeur denkt, er sei clever und verstehe, wie Land und Leute ticken. Als er denkt, er habe alles im Griff, provoziert er erst recht tödliche Katastrophen. Und dann bricht die Welt dieses 3. Zuges radikal zusammen. Der Zugführer, der charismatische Oberleutnant Rasmus Schrøder, verrät seine Leute, die Hälfte von ihnen wird von Afghanen ermordet, die andere Hälfte verschleppt. Nachdem sie wieder freikommen, dürsten die Soldaten nach Rache und gehen eine prekäre Kooperation ein. Ein Höllentrip beginnt, keine einzige Gewissheit wird ihn überleben. Gleichzeitig beginnt ein dänischer Geheimagent paschtunischer Herkunft, nach den verschwunden Soldaten zu suchen und eine us-amerikanische Drohne gerät außer Kontrolle.

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Polit-Thriller

Ist Schrøder, in einem früheren Leben Game-Designer und existentieller Zyniker, nur ein ideologisch motivierter Verräter? In wessen Interessen handelt er? Welche Strippen werden wo und von wem in welcher Absicht gezogen? Und so wird aus dem Kriegsroman nach und nach ein böser Polit-Thriller, dessen Ränkezüge so ziemlich alles übertreffen, was man in diesem Genre je gelesen hat. Im Clash der politisch aufgerufenen  „Werte“ – die „des Westens“ und die der Taliban -, zerreiben sich gegenseitig. Übrig bleibt eine Art Kasuistik des Überlebens, deren Zweckrationalität monströs erscheint, deren Pragmatismus aber vielleicht die einzig sinnvolle Kategorie ist – aber das ist auch schon wieder eine deprimierende Option.

Der Roman entwickelt einen Sog ins Ungeheure, an dessen Realitätstüchtigkeit man allerdings keine Sekunde Zweifel hat, und wenn das Buch noch so surreal wirken kann.

Und es gibt noch eine Dimension: Es geht um Menschheitsfragen. Um Loyalität und Verrat oder um Identität, um Virtualität und Wirklichkeit, um Bestimmung und Kontingenz, um Tradition und Moderne, um Zivilisation und Barbarei. Vor allem Barbarei, denn die Schilderungen der Kriegsrealitäten sind gnadenlos. Vor allem Barbarei – denn Jensens Schilderungen der Kriegsrealitäten sind gnadenlos, wie überhaupt der ganze Roman auch alle körperlichen Implikationen – von der Verdauung bis zur Menstruation der Soldatinnen – der jeweiligen Situationen mitbedenkt und akzentuiert.

Schock

Dass Krieg toxisch ist, wissen wir. Wie toxisch er sein kann, was er für Menschen bedeutet, was leben, sterben und überleben bedeutet, dafür findet Jensen eindringliche Bilder und Szenen. Radikal auch die Schicksale, die er seinen Figuren angedeihen lässt, die physischen, psychischen und  auch metaphysischen Qualen, denen er sie aussetzt. Besonders krass ablesbar an einem Militärpfarrer, dessen Glauben zum puren, geifernden Irrsinn diffundiert. Auch kierkegaard´sche Rationalität zerplatzt am Horror der Umstände.

Auch family values sind ins Groteske verdreht – ein tragischer Handlungsstrang des Romans erzählt von einer afghanischen Frau aus Kabul, die aufs Land zwangsverheiratet wird und ihren Sohn nach landestypischer Manier erziehen muss. Und die besteht darin, das Kind bei „Fehlverhalten“ in einen Eimer mit kochendem Wasser zu stellen und ihm die Beine zu verbrühen. Dass das Kind dann plötzlich, out of the blue, seine Mutter erschießt, ist einer der typischen Schock-Momente des Buches, in denen ästhetische und epistemologische Konzepte deutlich sichtbar aufscheinen.

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Terror

638 Seiten sich allmählich steigerndem Terror, der alle und alles verändert. „Apocalypse Now“ – was Jensen mit einem deutlichen Filmzitat unterstreicht. Um die übriggebliebenen Soldaten und eine Gruppe Zivilisten, die sich ihnen angeschlossen haben, an der Flucht nach Pakistan zu hindern, fliegen US-Bomber einen Napalm-Angriff, in dessen Feuerwand nicht nur Menschen, sondern auch Lebensentwürfe verkohlen.

Auch unser Blick auf Afghanistan verändert sich, unsere Einschätzungen werden brüchig, weil Jensen die konkreten Folgen einer zynischen Politik mit deren Konsequenzen für Menschen konfrontiert. Ohne Versöhnlichkeit, ohne Hoffnung, ohne Ausweg. Der erste Stein ist längst geworfen, Transzendenz bietet keinen Trost, die Archaik des Landes scheint unüberwindbar.

Der Roman ist auch deswegen ein großes Stück Literatur, weil Jensen seine genauen Recherchen zum organischen Teil der Handlung macht und nicht etwa um Fakten herum eine dürre Handlung baut, die uns „über Afghanistan“ belehren will. Der Roman erzählt in klarer Prosa, ruppigen Dialogen, extrem grausamen und rührenden Szenen in ultrazynischen und empathischen Passagen sowie grandiosen Landschafts- und Himmelsbildern von Menschen und ihren Lebensumständen. Ein Polit-Thriller ohne Genre-Klischees und sicher eine neue Qualität von Polit-Thriller, die Maßstäbe setzen sollte. Ein Meisterwerk.

Thomas Wörtche

Carsten Jensen: Der erste Stein (Den første sten, 2015). Roman. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. München: Knaus 2017. 638 Seiten, € 26,00.

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