Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019, News

CulturMag Highlights 2019, Teil 4 (Cohen – Disher – Feldmann – Friederici)

Ute Cohen –
Claudia Denker –
Garry Disher –
Anita Djafari –
Joachim Feldmann –
Michael Friederici –

Ute Cohen

Irrungen, Wirrungen, Soupçon-Natur – Dieses unbegreifliche Jahr 2019, in dem sich Theodor Fontanes Geburtstag zum 200. Mal jährt, mutet auch für mich fontanisch an. Mit Verve und Mut beschreitet man Wege und sieht sich doch immer wieder mit einem Dickicht an Vorurteilen, Ideologien, Neid und Dummheit konfrontiert. Man möchte sich zurückziehen wie dieser süße kleine Wombat aus einem Kinderbuch, das ich meinem Sohn einmal geschenkt habe: Bei einem Buschbrand in Australien irren die Tiere umher, fliehen in alle Himmelsrichtungen, nur der winzige Wombat gräbt ein Loch. Er gräbt und gräbt und bietet in der Düsternis, im Schatten seinen Kompagnons Schutz. Vielleicht ist es so, dass erst die Dunkelheit Klarheit ermöglicht und das Unbekannte den Versehrten Heim bedeutet. Ich zweifle am ewig Positiven, an diesem sich immer schneller drehenden Glücksrad, das doch nur die Mächtigen und die Rädelsführer zu beherrschen vermögen. Ich zweifle an der großspurig verkündeten Solidarität. Ich zweifle an der Lust, den Dingen auf den Grund zu gehen. Soupçon – Fontanes Selbstbeschreibung seines Wesens ist mir ans Herz gewachsen. Mehr als ein Verdacht, weniger als Misstrauen, eine gesunde Skepsis vielleicht, gefasst in ein schönes Wort, das nach einem Hauch Vanille duftet, nach zartem Gezwitscher und doch auch nach der Ernsthaftigkeit eines dunklen, sehr dunklen Chocolat. Soupçon kann die Rettung sein für alle, die sich leichtgläubig einer Community anschließen oder dem Wort so sehr vertrauen, dass sie die Wirklichkeit dabei vergessen. Das Wort: Peter Trawnys „Philosophie der Liebe“ ist ein Buch, das die Soupçon-Natur zutiefst verzückt. Von der Sprache der Liebe ist da die Rede, von der performativen Macht des Satzes „Ich liebe dich“, von Freiheit, von Eros, von Tod. Unersättlich verleibt man sich ein Kapitelchen nach dem anderen ein, und doch steht am Ende Michel Houellebecqs Verdacht: 

„Der magische Ort des Absoluten und der Transzendenz / Wo das Wort ein Gesang ist, das Gehen ein Tanz / Den gibt es nicht auf Erden.“

Wie schwer mag diese Einsicht wiegen für diejenigen, denen es nicht gelingt, sich wie der Wombat in die Dunkelheit zu flüchten oder für diejenigen, die hineingestürzt werden durch eine Übermacht der Dinge, auch durch Täter, Verstümmler, Seelenmörder? „Wer sich tätowiert, ist ein Faschist“ sagte mir letztes Jahr der Philosoph Bazon Brock. Gültig mag das sein in einem System, das den Körper in seiner Reinheit verehrt und heiligt. In der Wirklichkeit jedoch mit all ihren grausamen Attacken gibt es oft nur eine Lösung: Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Schmerz muss ausradiert und überschrieben werden. Tinte unter die Haut gestochen, ein Vers von Verlaine, eine Zeile von Rimbaud, ein Name in den Sand gezeichnet, ein Herz auf die Scheibe gehaucht, ein Mord ausgedacht, fantasiert, aufgeschrieben und verewigt – es ist diese Katharsis, die einzig durch das Wort erzeugt wird. Par les rafales von Valentine Imhof ist eines dieser Bücher, in dem sich die Heldin selbst erschreibt und überzeichnet mit Liebesversen und Gedichten, tätowiert von Kopf bis Fuß. Wolfgang Franßen hat das revolutionäre und zugleich heilende Potenzial dieses Textes erkannt. Nächstes Jahr erscheint der Roman mit einem Vorwort von mir im Polar Verlag.

Katharsis ermögliche ich mir selbst, indem ich schreibe über das Absterben der Liebe, die Zerstörung der Unschuld, die Zerfaserung der Körper.  Einen Moment beruhigt die Katharsis die Soupçon-Natur, bis diese wieder die Kontrolle gewinnt. Und das ist gut so, denn was dem Wombat seine Höhle ist, ist dem Versehrten der dunkle Zweifel. In diesen hülle ich mich ein, wenn ich sehe, spüre, fühle, dass die Wahrnehmung der Gesunden vor dem Höhleneingang zurückweicht. Sie haben Angst vor dem Schmerz, vor dem Unbekannten und fliehen, getrieben von den versengenden Flammen der Furcht. Soupçon! Zurecht! Schutz geben sich die Zerstörten, die Verletzten, die Erniedrigten. Ich habe in diesem Jahr eine junge Frau getroffen, die all das ist: Gepeinigt bis aufs Blut, und doch, und doch richtet sie sich auf und glaubt an diesen Silberstreifen am Horizont. Ich habe mit ihr ein Gespräch geführt und bin ihr zutiefst dankbar für ihr Vertrauen. Soupçon! Ja, an Gerechtigkeit, an Wiedergutmachung für sexuelle Ausbeutung, Vergewaltigung und seelische Schmach mag sie, die sich in dem Text „Charlotte“ nennt, nicht mehr zu glauben, wohl aber an ihr eigenes Trommelfeuer, an die Herzensbande mit anderen Schmerzensreichen, an das Wort, sofern ihm Taten folgen. Auch sie hat ihren Schmerz verewigt unter der Haut: Das Jahr ihrer Geburt, der Beginn ihrer Pein. Sie wird es überschreiben, denn sie zweifelt an all denen, die lauthals Solidarität verkünden.

Soupçon – Zweifelt am Wort, glaubt nicht eine Silbe! Die astrale Kraft des Buchstabens ist Lug und Trug! Dem Wort aber wohnt wie auch der Liebe am Anfang dieser Zauber inne, den sich unsere versehrten Körper einverleiben sollten, bis er einen Platz findet hier auf Erden.

Peter Trawny: Philosophie der Liebe, Fischer Verlag 2019. – Valentine Imhof: Par les rafales, Editions du Rouergue 2018, 2020 erscheint die deutsche Ausgabe im Polar Verlag. – Interview mit „Charlotte“, Séparée Magazin, Dezember 2019.

Ute Cohens feine Texte bei CrimeMag hier. Im Sommer 2017 kuratierte sie das CulturMag Sex Special. Danach das Special Tabu. Im Februar 2020 erscheint ihr Roman Poor Dogs bei Septime. Die Hörbuchfassung von Satans Spielfeld ist gerade im Hörkultur Verlag erschienen.

Claudia Denker

Für mich war 2019 ein riesengroßes Arschloch.

Zu viele Menschen aus meinem Umfeld sind dieses Jahr gestorben, dass es für mich unmöglich ist, am Ende des Jahres über »Highlights« nachzudenken.

Ein mir ganz besonders nahestehender Freund ging im September. Er ist mir vor ein paar Tagen im Traum erschienen. Wir saßen gemeinsam in einem Café, ich erzählte ihm, wie traurig ich bin, dass er nicht mehr da ist. Seine Antwort war: »Es ist doch nicht so schlimm, am wichtigsten ist, dass wir jetzt alle zusammenhalten.«

Ich finde, das kann man in diesen Zeiten wunderbar so stehen lassen.

… und in Erinnerung an die wunderbare Astrid North:

Garry Disher

While too many crime and other dramas on Australian TV continue to be cliched, cheaply made and badly acted, it’s great that we now have access to edgier films and series programs (produced by HBO, Netflix and other companies) that are sophisticated, unsentimental, well-written and well-acted.  The stand-out shows for me this year were based on actual crimes and screened by Netflix: „Mindhunter“ (I watched both series), which traces the early years and cases of the FBI’s serial-killer profiling department, and „Unbelievable“, about two female detectives growing aware that a serial rapist was at work in the states of Washington and Colorado. 

                  Part of the appeal of each show was the fact that because the stories are true, the main characters have social and family contexts: a spouse, children, parents, siblings, friends, workmates. And they depend on teamwork to solve the crimes.  Part of the appeal of crime fiction, on the other hand, is that although main characters are no longer 1930s super-reasoning machines like Miss Marple or 1950s tough-guy LA private eyes like Philip Marlowe, who have no apparent friends or family, we still want our heroes to be loners to some degree—or at least we don’t want the cavalry riding to their rescue in the last chapter, we want the ending to be in their hands.

Garry Disher has won the German „Krimi Preis“ as often as James Lee Burke. Like in 2017, with Bitter Wash Road, and in 2018 with Whispering Death, he is again among our „CrimeMag Top Ten 2019“, had two books out in Germany this year.  His Website. His Jahresrückblick 2017 bei CrimeMag. Alf Mayers Besuch bei ihm auf der Mornington Peninsula: „Der Schauplatz als Charakter.“  Bloody Questions von Marcus Münterfering. Reading ahead: Bitter Wash Road. Textauszug aus Leiser Tod.

Anita Djafari

Für mich war 2019 ein Jahr der Begegnungen und zwar überwiegend schönen. 

Begegnung Nr. 1 fing an mit den Litprom-Literaturtagen im Januar zum Thema Kriminalliteratur. Natürlich hatten wir nur spannende Autor*innen und kundige Moderator*innen am Start, es war ein Fest mit inhaltlichem Tiefgang. Persönlich hat mich gefreut, dass Oliver Bottini spontan für die erkrankte Merle Kröger eingesprungen ist und seine Freude mit uns hatte. Oliver habe ich kennengelernt, als ich vor vielen Jahren als Freiberuflerin eine Lesung in Hamburg mit seinem allerersten Buch organisiert habe. 

Begegnung Nr. 2 war auf der Buchmesse in Leipzig, wo wir rein zufällig ein witziges Gespräch mit dem israelischen Autor Tomer Gardi und einem überforderten Moderator aus Österreich über sein Buch „Dann kriegen Sie Ihr Geld zurück“ mitbekommen haben. Anlass ihn auf der Stelle für die Literaturtage im Januar 2020 zu gewinnen.

Begegnung Nr. 3 fand auf der Buchmesse in Abu Dhabi statt. Zum zweiten Mal habe ich den geschätzten Kollegen Jan Carsten von CulturBooks im Ausland getroffen mit viel Zeit zum ausgiebigen Austausch. Dieser kleine Verlag macht so gute Bücher wie Was es bedeutet, wenn ein Mann aus dem Himmel fällt von Lesley Nneka Arimah (Ü: Zoe Beck) oder Amanda Lee Koe. Lesley N. Armah kommt zu den Literaturtagen im Januar, von Amanda erscheint bald ein neuer Roman. Tolle junge lebenskluge Frauen. 

Begegnung Nr. 4 war eher eine Wiederbegegnung anlässlich meiner Lieblings-Veranstaltung, dem öffentlichen Kick-off für das Publikums-Onlinevoting für den LiBeraturpreis. Die Juroren des Weltempfängers halten jeweils ein flammendes Plädoyer für ihre Favoritin. Spaß pur. Ich habe Lina Meruane vorgestellt: Rot vor Augen (Luchterhand, Ü: Peter Kultzen). Meine Empfehlung. (Sie ist es aber nicht geworden)

Begegnung Nr. 5 spielte sich in Bolschwiel im Schwarzwald ab auf einem von der VHS Bremen organisierten Seminar zur biografischen Spurensuche von Autor*innen: Die Wiederentdeckung einer großen Schriftstellerin, Marie Luise Kaschnitz. Zwar sind ihre Gedichte, Kurzgeschichten und Romane aus den Schulbüchern bekannt, ansonsten ist sie völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten (auch bei mir), im Gegensatz zu ihrer Zeitgenossin Ingeborg Bachmann.  Feministisch, ohne es auf Teufel komm raus sein zu wollen. Fünf Tage zweckfreie Beschäftigung mit wunderschönen Texten, herrlich. Danach die vergilbten Bändchen aus der Studienzeit wieder rauskramen und rumschmökern.

Begegnung Nr. 6 schließt sich an mit einer weiteren Vorreiterin der so genannten Frauenliteratur. Ich weiß, keine Ahnung, wie man das sonst politisch korrekt benennen soll. Aber es ist nun mal so, dass es noch nicht sooo lange ist, dass so viele Frauen schreiben. Im Urlaub am Bodensee habe ich endlich Karen Duves Fräulein Nettes kurzer Sommer gelesen und mich dann sogleich in das Gartenhäuschen, das Annette von Droste-Hülshoff in Meersburg spät in ihrem Leben erworben hat, begeben. Chapeau für beide Frauen. Karen Duve hat schier Unglaubliches geleistet, uns diese vielseitig begabte ungewöhnliche Frau, die ihrer Zeit weit voraus war, mitsamt ihrem Umfeld inklusive einer verunglückten Liebe nahezubringen. Autorin schöner Gedichte und der immer noch zu Recht gültigen Die Judenbuche, die wir fast alle in der Schule gelesen haben. Ein Erlebnis! 

Begegnung Nr. 7 war ein Geschenk des Literaturhauses Wiesbaden. Ich durfte unsere Anthologie mit Texten von Frauen aus aller Welt (schon wieder Frauen, ja) Vollmond hinter fahlgelben Wolken (Unionsverlag) vorstellen, und die tolle Schauspielerin Leslie Malton hat vorgelesen. Aber nicht nur handwerklich superprofessionell, wie zu erwarten, sondern mit Herzblut, Lust und Neugier Texte von Jamaica Kincaid, Fariba Vafi und Clarice Lispector. Alle waren happy. 

Begegnung Nr. 8 bei uns im Weltempfänger-Salon mit dem Übersetzer Luis Ruby. Seinen Namen kannte ich schon aus diversen Büchern. Er übersetzt immerhin aus vier Sprachen: Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch. Ihn persönlich kennenzulernen war wunderbar. Wir sprachen intensiv über seine Übersetzungen von Eduardo Halfon und teilten unsere Begeisterung für diesen Autor und außerdem über – schon wieder eine wichtige Frau, Ikone der Frauenbewegung in den 70ern – Clarice Lispector

Begegnung Nr. 9 war  im Kino (um mal von was anderem als Literatur zu reden) Ich will nur einen Film nennen, der einfach herausragt: „Parasite“, ausgezeichnet mit der Goldenen Palme in Cannes aus Südkorea. Dieses Land hat, das in kurzer Zeit eine so rasante Entwicklung durchgemacht hat, hat es mir ja sowieso angetan. Die Künstler, Schriftsteller, Filmemacher bringen es einfach fertig, die extremen Spannungen in einer von großer Ungleichheit geprägten Gesellschaft in große Kunst umzusetzen. 

Begegnung Nr. 10 ist zu guter Letzt eine Mail von einem afritkanischen Professor, Germanist, der Kontakt zu Litprom sucht und meine Kontakdaten von einem ehemaligen Klassenkameraden aus der Mittelschule bekommt, den ich seitdem (also über 50 Jahre) nicht gesehen und nicht gesprochen habe. Woher der von uns weiß, keine Ahnung. Er ist jedenfalls als Professor für Theologie unter anderem in China zugange, mit interkulturellen Themen beschäftigt. Passt und ist lustig. 

So spielt das Leben. Viel Buch und viel Litprom, aber alles in allem nicht schlecht gelaufen.

Anita Djafari ist Geschäftsführerin Litprom. Die aktuelle Litprom-Bestenliste „Weltempfänger“ hier. Im Januar 2019 gab die große Tagung „Global Crime. Kriminalliteratur als globaler Code“ im Literaturhaus Frankfurt, Programm hier. Thema der Litertaturtage 2020: Migration – Literaturen ohne festen Wohnsitz, 24.-25. Januar, Programm.

Joachim Feldmann © Literaturzeitschrift „Am Erker“

Joachim Feldmann

Der Dezember begann mit einem kleinen Schock. Einer meiner liebsten Literaturpreise war einem meiner liebsten Autoren verliehen worden. Allein, der seit 1993 jährlich von der wunderbaren englischen Zeitschrift „Literary Review“ verliehene „Bad Sex in Fiction Award“ ist eine eher peinliche Auszeichnung, würdigt sie doch besonders schlechte oder einfach überflüssige Darstellungen geschlechtlicher Handlungen in ansonsten akzeptablen Romanen. Immerhin finden sich unter den Preisgekrönten literarische Schwergewichte wie Tom Wolfe, David Guterson und John Updike (für sein Lebenswerk). Allerdings scheint schlecht über Sex zu schreiben eine männliche Domäne zu sein, auf der Liste stehen nicht einmal eine Handvoll Schriftstellerinnen.

Und nun sollte John Harvey den Preis bekommen, der 1938 geborene Jazz-Aficionado und Verfasser der großartigen Kriminalromane. Lange hatte ich nichts Neues mehr von ihm gelesen, deshalb informierte ich mich schnell, welches Werk ihm die zweifelhafte Ehrung eingebracht hatte. Pax lautete der Titel des im Künstlermilieu spielenden Roman, dessen Inhalt ich nur schwerlich mit dem Schöpfer Charlie Resnicks und Frank Elders in Verbindung bringen konnte. Zudem hatte der Bad Sex Award- Harvey mal gerade fünf Romane geschrieben, während die Bibliographie des mir bekannten Autors einige Seiten umfassen dürfte. Er war es also nicht. Ich konnte aufatmen, fragte mich aber sofort, ob der „echte“ John Harvey, immerhin inzwischen über 80, noch aktiv war. Darkness Darkness (dt. Unter Tage. 2016) war schließlich bereits 2014 erschienen und als Resnick’s letzter Fall angekündigt worden. Aber ich wurde fündig. Im Dezember 2018 bekam Frank Elder ebenfalls seinen finalen Auftritt – Body and Soul heißt der Roman und ist schon bestellt. Alles gut, wie man heute gerne sagt, auch wenn es nicht stimmt.

Noch immer ist nämlich möglich, dass ein  Kriminalromans von einer  Literaturkritikerin, die sich gewöhnlich im sogenannten E-Segment tummelt, mit dem Kompliment  „verdammt spannend und trotzdem intelligent“  bedacht wird. Ein Satz, über den man lange nachdenken könnte, wollte man sich die Laune verderben. Doch dazu besteht jetzt, im Dezember 2019, überhaupt kein Anlass. Schließlich war es wieder einmal ein gutes Jahr für die Kriminalliteratur, ich nenne nur ein paar Namen: Andreas PflügerLisa McInerney, Hazel Frost, Adam Brookes, Anthony Horowitz, Heinrich Steinfest,  Mick Herron. Und würde ich länger nachdenken, fielen mir garantiert noch einige mehr ein. Aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Die Lektüre ruft.

Die Texte von Joachim Feldmann bei CrimeMag hier. Seit 1977 macht er zusammen mit Michael Kofort und anderen die Literaturzeitschrift Am Erker. Zudem ist er bei so gut wie jeder Lieferung der Bloody Chops dabei.

Michael Friederici: Andacht mit Chastity

Mein Bauch gehört mir: Wenn das neue Jahr so endet wie das alte, dann, dies gleich vorweg, dann kann es mir gestohlen bleiben! Ich bin nämlich zutiefst beleidigt: Bei der traditionellen Winterweihnachtslesung für Baugenossen linste die vorlesende, mitsingende, nebenmirsitzende Janette Rauch ins Liedtextkonzept. Rechts „Gloria“, links ein in „Erwin, der dicke Schneemann“ verdummdeutschtes „Rudolph the red-nosed reindeer“. Ich arbeitete noch an der Frage, ob ein Mitsingen nicht zur Perpetuierung der versteinerten Verhältnisse beiträgt und der Sucht des Volkes nach Opium Vorschub leistet, da fragte sie mich wirklich, wahrhaftig und lauthals – coram publico, coram musicis: „Ist ‚Erwin‘ eigentlich ein Text über Dich?“ – Selbst die Musikanten gerieten aus dem Takt. – Übrigens haben Wissenschaftler herausgefunden, dass die Konzentration an roten Blutgefäßen in Rentiernasen 25 % dichter als in der menschlichen Nase sein soll… – Chastity Riley hätte keine 1100 Zeichen dafür gebraucht und gesagt: „…ich mag die Melodie, aber den Text finde ich zum Kotzen…“ (Simone Buchholz, Hotel Cartagena

Rom: Mein erster Besuch des Petersplatzes verlief enttäuschend. Durch die Besetzung mit tausenden grauer Plastikstühle wirkte er – im Regen – wie eine vom Wie, wo, was weiß Obi! -Baumarkt gesponserte Black-Friday-Installation zur Verramschung von leicht angestoßenem 3rd-Hand Mobiliar. Dass Berninis 284 Säulen Kolonnaden, die „ausgebreiteten Arme der Mutter Kirche“, jetzt bürokratenfarbene Plaste und wundertätige Großbildschirme umarmen, scheint ein passendes Gegenwartsmemento der Kirche. Auch die allgegenwärtige Werbung gemahnt daran, dass der Vatikanstaat noch lange nicht state of the art ist. Die Entwicklung von Einkaufsbahnhöfen, Shopping-Schulen und Kauf-Dich-glücklich-Klos weist den Weg. Ziel muß also die ökumenische Optimierung in Einkaufs- und Eventgotteshäuser sein, mit Standard- (HartzIV-Empfänger), Klassik- (Gläubige) und Premiumbeichte (Mafia) – und mindestens einem Anleger für Seelen-Fisherman’s-Kreuzfahrtschiffe. – Über den Palazzo Barberini, den alten Wilden Caravaggio … sollen andere schwärmen: Chastity hätte mir wohl auch sonst wahrscheinlich angedroht, mich schußwaffentechnisch unter der Gürtellinie zu verletzen… 

„The Irishman“: In der ersten Woche streamten um 26,4 Millionen Scorseses Mafia-opus magnum.Trotz aller Fliegen: Es gibt ein höchst objektives Kriterium für die Qualität dieses Films! Ich hätte noch Stunden im Kino sitzen können, um diesen alten weisen Männern bei der Arbeit zuzusehen. 

Japan: Die heilige Insel Miyajima mit dem Itsukushima Schrein als spirituellem Zentrum – und dem augen(ge)fälligen O-torii (Großes Tor) – mitten im Meer, zinnoberrot… – ist mindestens ebenso andachtsgebietend; der überall präsente Jazz in Tokio (Inspektor Takeda läßt grüßen), zum Hinknien; die Architektur (Osaka, Tokio) ist alles andere als ein Hamburger-HafenCity-Investorenwürfelhusten; hervorragend kuratierte Manga-Museen gibt es; pünktliche Züge; sich verbeugende Schaffner; Straßenbahnfahrer, die aussteigen, um den Langnasen den Weg zu weisen; hastende Menschen, die sich glücklich schätzen, für den Westler Zeit verlieren zu dürfen; Eilige, die sich seit Jahren von einem Meister in die Teezeremonie einweisen lassen und noch lange nicht perfekt sind…. – Und tief im japanischen Binnenmeer von Setouchi liegen 12 Inseln, die heute als „offene Kunstmuseen“ funktionieren. Tadao Ando hat Naoshima strukturverändert, ein Ex-Schwerindustrieeiland. Allein die dort realisierten Bauten dieses Baukunstmeisters lassen wieder an das Wahre, Gute und Schöne glauben. Aber in der Installation Matrix (2010/ Rei Naito) auf Teshima, die das ganze Teshima Art Museum (Architekt: Ryue Nishizawa) für sich hat, geschieht etwas mit dem Besucher, was unsereiner im Vatikan erwartet hätte – und auch bei James Turrell spürbar ist. Selbst Handy-Junkies hören auf zu quatschen. Ein ovales Loch gibt den Blick frei auf den Himmel, die Tageszeit, mit der sich das Licht, die Sicht auf die Dinge verändert. Wie im Himmel, also auch auf Erden: Überall aus dem Boden erscheinen Wassertropfen, die erst zögerlich, dann schneller mit anderen Tropfen zusammen kleine Seen bilden, um dann wieder zu verschwinden: Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? – Aber was sind schon Bloch und Naito gegenüber den Roboterhunden, Badehosentrocknern, Klobrillenheizungen, Handventilatoren.., die die brodelnde Anarchie hinter den scheinbar unabänderlichen Regeln und Verboten einer formierten japanischen Gesellschaft ahnen lassen? – „Mein Herz macht ein ungesundes Geräusch“, hätte Chastity wohl geknödelt – und sich dann eine angesteckt.

Hier und dort: Dieser Tage erst fiel mir das Memento Mori der Hamburger Verkehrsbetriebe auf. Vor den Endstationen von S-und U-Bahnen warnt eine professionelle Stimme: „Unsere Bahnfahrt endet dort.“ – Diese endet hier! gez. Rudolph, aka Erwin

Michael Friederici organisiert in Hamburg „Schwarze Nächte“, Autorenlesungen und Veranstaltungen der besonderen Art. Seine Texte bei uns hier.

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