Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019, News

CulturMag Highlights 2019, Teil 1 (Adcock – Ani – Annas – Arning)

Thomas Adcock –
Ann Anders –
Friedrich Ani –
Max Annas –
Bruno Arich-Gerz –
Matthias Arning –

Unser USA-Korrespondent Thomas Adcock auf seiner Terrasse in New York

Thomas Adcock

This year, I have but one nomination for the best in cultural offerings: “The Irishman”, a motion picture tour de force from Martin Scorsese, the American director/producer/screenwriter. 

Over his stunningly productive sixty-year career, Mr. Scorsese has gifted the world with twenty-five narrative films, among them what are often cited by cinephiles as the greatest ever made, viz. “Taxi Driver”, “Raging Bull”, and “Goodfellas”.

Martin Scorsese © Wiki-Commons

Now comes his masterpiece. As a gangster epic, “The Irishman” is made all the tastier with its backdrop of sleazy business practices and corrupt politics. It is an elegiac tale of more than three hours running time—currently streaming on Netflix. Its focus is the 1975 (officially) unsolved disappearance of Jimmy Hoffa, the irascible, mob-connected president of the International Teamsters Union. Based on the biography I Heard You Paint Houses by crime novelist and former prosecutor Charles Brandt—the title being Mafia lingo referencing contract murder—the mystery of the missing Hoffa is put to rest, so to speak. 

The subject of Mr. Brandt’s book, and protagonist of Mr. Scorsese’s film, is one Francis J. “Frank the Irishman” Sheeran, confidante of Jimmy Hoffa and a family friend. Sheeran was a hit man for a Philadelphia crime syndicate of yore, run by Russell Bufalino (1903-1994), who was something of a mentor. Eventually, according to federal authorities, Sheeran became part of the “Commission of La Cosa Nostra,” in association with the likes of Anthony “Tony Pro” Provenzano (1917-1988) and Anthony “Fat Tony” Salerno (1911-1992). Shortly before his death in 2003, the Irishman (portrayed by Robert DeNiro) comes clean: at the behest of mob elders fed up with the troublesome Teamsters chief, he confesses to whacking his friend Hoffa (Al Pacino). 

Pesci, De Niro, Pacino

Spanning the decades from 1949 to 2000, when we first behold the Irishman in the humiliation of physical decay and spiritual remorse, Mr. Scorsese’s film is the story of how an even-tempered World War Two veteran and father to three little girls devolves from life as a meat truck driver to bloody murderer, drawn to the mob life by Bufalino (Joe Pesci). When dialogue such as “fuck” and “motherfucker” and “cocksucker” will not serve, exchanges among the central characters consist of nods and grunts and silences and knowing facial expressions. It all works, eloquently. 

The most nuanced silences come from Sheeran’s estranged daughter, Peggy—portrayed as child and adult by Lucy Gallina and Anna Paquin, respectively. It is young Peggy who first witnesses her father’s capacity for violence, as he pulls a neighborhood grocer of his shop, throws him to the sidewalk and gutter, all the while stomping on his face and hands because his daughter was mildly disrespected. 

I cannot recall a thing Peggy says in this movie. No matter. She bears wordless witness through the stages of Francis J. Sheeran’s descent, first into amorality, then into shame, then into crippling regret as the Irishman narrates the events of his life whilst confined to a wheelchair in an old folks’ home. It is Peggy’s silent judgment, the memory of her profoundly disapproving face that the Irishman cannot kill; it is what constrains him for the remainder of his years under medical care. 

—Thomas Adcock is America correspondent for CulturMag. His essays here. His Cologne Spreech from September 2019 here.- Seine Rede bei KrimisMachen 4 hier. Ein Interview mit Thomas Wörtche hier.

Ann Anders

Im Jahr 2019 ist einiges passiert. Ich habe 10 kg ohne bewusstes Zutun abgenommen und bin Großmutter geworden, völlig ohne mein Zutun. Viele Bücher gelesen, den jährlichen Lee Child, und eins, das mir in Erinnerung bleibt: ein Roman von David Constantine, Davies, über einen Kleinkriminellen, genannt der Dartmoor Schäfer, der 1911 sogar vom Innenminister W. Churchill  im Unterhaus diskutiert wurde. Eine karge Existenz, die sich in der kargen Sprache Constantines widerspiegelt.

Aber wen interessiert das eigentlich, vor allem nach dem 14. November.

Denn am 14. November übte ein Maltesischer Zollangehöriger pflichtbewusst seinen Dienst aus. – So fing die Geschichte an, die jetzt Malta in eine Staatskrise stürzt.

Sie ist aber falsch. Denn in Malta stimmen manche Geschichten, und dann doch nicht. Ich nenne dies die Cheshire Cat-Geschichten, mal sind sie real, dann verschwinden sie wieder. Manchmal bleibt nur ein Grinsen. Wie jene Katze in „Alice in Wonderland“.

Die Chesire Cat – von John Tenniel

Peter the Sniffer Dog, so diese Geschichte, erschnüffelte im Flughafen in einem Gepäck 210.000 Euro Bargeld. Und es wurde der Taxifahrer Melvin Theuma verhaftet. Aber, wie sich einige Tage später herausstellte, hatte Peter the Sniffer Dog, ein Spaniel, bei einem anderen Passagier angeschlagen. Der Taxifahrer wurde wegen Verdacht auf illegales Glücksspiel und Geldwäsche verhaftet. Er war der langgesuchte Mittelsmann zwischen den drei Kleinkriminellen, welche die Bombe in Daphne Cuarana Galizias Wagen am 16. Oktober 2017 gezündet hatten, und ihrem Auftraggeber. Premierminister Joseph Muscat, allein und ohne Rücksprache mit Parlament oder Präsidenten verfügte ein „Pardon“ für alle und vorherige Straftaten, wie verlangt. Und dann sang Thelma. Er nannte mehrere Drahtzieher hinter dem Mordkomplott. Vor allem Keith Schembri und Jorgen Fenech. – Ersterer ist der best buddy, spin doctor und Büroleiter des Premiers. 

Keith Schembri (links), Joseph Muscat

Ihn hatte Daphne als erste überführt, ein Panama-Konto zu haben. Ebenso wie den damaligen Energie-Minister Konrad Mizzi, jetzt für Tourismus zuständig, und beide traten nicht von ihren Ämtern zurück, obwohl das alle anderen Regierungsmitglieder weltweit tun müssten. Muscat schützte sie. Und alle fragten, warum er sie deckt. Am lautesten Daphne (so nenne ich sie jetzt wie alle in Malta), die auch noch Geldflüsse eines gemeinsam zusammen mit Muscat verhandelten Energie-Deals mit Aserbaidschan aufdeckte und nach einer Firma Black 17 fragte, die auf die Panama-Konten viel Geld (man nennt 5000 € am TAG) eingezahlt hatte. Eine dritte Panama-Firma, Decknamen Egrant, war am gleichen Tag von der selben Anwaltsfirma wie die anderen beiden eingerichtet worden (kurz nach dem Wahlsieg der Labour Partei 2013). Allerdings geschah es hier nicht per Telefax, sondern aus Sicherheitsgründen am Telefon. Daphne vermutete, dass Muscat hinter dieser Firma steckt, aber das ist eine andere, lange Cheshire Cat-Geschichte.

Der zweite, Jorgen Fenech, ein Geschäftsmann, einer der reichsten Bürger Maltas, und wie kurz zuvor durch  Journalisten (und nicht den Ermittlungsbehörden) recherchiert wurde, der Eigentümer von Black 17. Außerdem war er an dem Energie-Deal mitbeteiligt. Er wollte kurz nach der Festnahme Thelmas nachts mit seiner Luxusyacht fliehen, wurde gefasst, mehrfach freigelassen und wieder verhaftet, bis die Anklage stand. Auch er wollte eine Begnadigung, diese wurde aber durch das Parlament abgelehnt.

Schembri und Mizzi traten beide sofort zurück. Nicht wegen der Panama-Papers, so klar ist das nicht. Auch der Wirtschaftsminister Chris Cardona beurlaubte sich selbst (was legal gar nicht geht), wurde aber wenige Wochen danach wieder ent-urlaubt. Er ist jener, den Daphne vor Jahren während seiner Dienstzeit und auf Dienstreise in einem Puff in Velberts, Aachener Land, namens Acapulco FKK aufgespürt hatte. Seine Klage gegen Daphne läuft auch noch nach ihrem Tod.  Seine Telefondaten, mit denen man ihn in der fraglichen Zeit orten kann, wurden jetzt erneut weiter gesichert. Allerdings wurde er jetzt wegen eines korrupten Krankenhaus-Deals (Daphne schrieb auch darüber) zusammen mit Mizzi und einem anderen Minister unter Anklage gestellt. Überall Cheshire Cats.

Schembri und Mizzi aber wurden, obwohl Theuma und Fenech auspackten, bisher nicht von der Staatsanwaltschaft befragt. Sie laufen frei herum.

Theuma, der Taxifahrer, sagte aus, dass er den drei Bombenlegern Geld von Fenech weitergeleitet habe und dass Schembri ihm auch einen Job gegeben habe, den er gar nicht wollte. Als Bote und Fahrer in einer staatlichen Wohnungsfirma, hohes Gehalt über mehrere Monate. Dafür arbeiten musste er nicht. „Ich hätte gar nicht gewusst, wohin ich hinzugehen gehabt hätte.“ – Es laufen jetzt Ermittlungen über diese Jobvergabe,  aber das ist eine andere Cheshire Cat.

Inzwischen ist berichtet worden, dass Schembri wohl Fenech und auch die drei Bombenleger gewarnt hat und noch im Gefängnis-Krankenhaus, wo Fenech wegen Brustschmerzen eingeliefert wurde, ließ er über den gemeinsamen Familienarzt Nachrichten schmuggeln. Der Arzt wird jetzt auch von der Staatsanwaltschaft und Ärztekammer vorgeladen, aber auch dies ist eher eine Cheshire Cat.

Es tut mir leid, aber in Einzelheiten lassen sich viele Geschichte nicht erzählen, diese sind zum Teil sehr komisch oder auch ziemlich ernst. Die Ereignisse des letzten Monats haben sich täglich überschlagen, ich will nicht verwirren. Ich bin es selbst schon. Aber ich bin mir sicher, dass es einige in Malta gibt, die sich bereits Notizen für ein späteres Buch machen. Der investigative Journalismus hat zwar durch den Tod Daphnes die mächtigste Stimme verloren, aber jetzt gibt es einige, die sich ihrem Vermächtnis verpflichtet fühlen.  Und auch die werden jetzt von der Labour-Seite angegriffen und geschmäht.

Wegen der Nähe zu Schembri aber auch zu Mizzi, seinem Lieblingsminister und gewünschten Nachfolger,  fordern alle den sofortigen Rücktritt Muscats, unter anderem die EU, die Anwalts-Kammer, Professoren und Studenten der Universität und vor allem die täglichen Kundgebungen. Aber Muscat will, angeblich (er hat ja einen Vize) um einen geregelten Übergang zu schaffen, erst am 12. Januar 2020 seinen Partei-Vorsitz aufgeben, um dann am 20. Januar, wenn sein Nachfolger von der Labour-Partei gewählt wurde (automatisch wird dieser dann Premierminister), an diesen die Geschäfte zu übergeben. 

Natürlich erweckt dies den Verdacht der Säuberung aller Unterlagen und der Absicherung der Netzwerke. Beide potentielle Nachfolger Fearne und Abela (über die Daphne schon Jahre zuvor vorausschauend und kritisch geschrieben hatte) machen bereits Wahlkampf. 

Vor allem aber sind seit Mitte November fast jeden Abend viele Menschen auf den Straßen. Malta ist kein Land, das große Kundgebungen kennt , außer jene, die von beiden Parteien als Jubelfeiern  veranstaltet werden. Diesmal kommen aber immer wieder im regennassen und windigen Valletta sehr viele zusammen, um den sofortigen Rücktritt und die Aufklärung des Mordkomplotts zu fordern.  

Das war die erste Demonstration am 16. 11. , der Strom war gerade ausgefallen

So selten sind solch große Demonstrationen, dass vielerorts an den „Sette Giugno“ erinnert wird. Damals, am 7. Juni 1919 demonstrierte die maltesische Bevölkerung gegen die britische Kolonialmacht, weil durch die Kriegswirren auf der von Versorgungswegen abgeschnittenen Insel Hungersnot herrschte und gerade durch Spekulanten (wahrscheinlich maltesische) der Getreidepreis erhöht wurde. Dieses Ereignis ist im maltesischen Gedächtnis verankert, nicht nur weil einige Demonstranten erschossen und verletzt wurden, sondern weil Malta zum ersten Mal gegen die bestehende Regierung rebellierte. – Und genau das passiert jetzt wieder. 

Mit Trillerpfeifen und Topfdeckeln sowie jede Menge Plakate, vor dem Parlament oder auf der Hauptstraße, wird jeden Abend alles blockiert. Und zum Schluß (oder währenddessen) wird ein Lied des italienischen Schlagersängers Marco Masini gespielt, dessen Reim alle, ob feine Damen oder vor allem junge Leute, inbrünstig mitsingen : „Vaffanculo“ – die korrekte Übersetzung: Leck mich am Arsch. Oder wie der Malteser interpretiert: Fuck you. (Mit erhobenem Mittelfinger.) Es ist das Motto geworden. 

Jetzt fordern auch die Geschäftsleute in Valletta (und anderswo), dass Muscat zurücktreten möge, das Weihnachtsgeschäft lahmt.

Bei jeder Demonstration ganz vorne: Daphnes Eltern

Es scheint, dass allen klar geworden ist, dass Malta inzwischen an einem Wendepunkt steht. In seiner Rede am Republic Day, den 13. Dezember,  sagte der neue Präsident sehr deutlich und überraschend: „Malta is far bigger than the gang of people who brought shame on our country.“

Die Jahre der Labour-Regierung waren wirtschaftlich erfolgreich, aber erkauft durch  Korruption und Kriminalität. Malta mit seinen zwei Parteien, Labour und Nationalist, ist schon lange systemisch korrupt. Allerdings hat diese Labour-Regierung es auf ein anderes Niveau gehoben. War es früher eher eine Gesellschaft, die sich gegenseitig mit billigen Bauland versorgte, Jobs für den Neffen oder ein Pöstchen in einer Banda (wichtig: die Kultur der Blasmusik-Bandas gibt es in jedem Dorf, nach Parteien getrennt, sie stellen einen großen Teil der kulturellen und örtlichen Identität dar), so hat die neue, seit 2013 regierende Labour-Partei sich mit Geldwäsche, Gaming-Industrie, Verkauf des maltesischen Passes an sehr reiche Ausländer, die damit EU-Bürger ohne Hintergrunds-Checks wurden, oder durch Bodenspekulation reich gemacht. Der einzelne Bürger hatte manchmal auch etwas davon, etwa wenn er neuerdings sein Häuschen aufstocken konnte, was Miete brachte. Vor allem  haben die großen Bau-Investoren geschütztes Land oft für kleines Geld von der Regierung bekommen, um Hochhäuser oder Hotelanlagen in bisherigen Wohngebieten zu pflastern. Der Bauboom verursachte nicht nur Staub und Schmutz, sondern es fielen auch Nachbarhäuser zusammen, auch gab es viele Arbeitsunfälle. Regelungen gab es keine, auf keiner Ebene. Es war noch nicht einmal klar, wer der Verantwortliche am Bau war. 

Vor dem Parlament – am Tage.

Langsam wurde es so schlimm, dass die NGOs und die Bürgergruppen (nicht die Parteien) sich dagegen wehrten, auf Änderung des Planungsrechts und der Verfahren pochten und auf die Begleichung von Schäden. Und überhaupt scheint sich jetzt ein kritischeres Bewusstsein langsam durchzusetzen. Vielen ist deutlich geworden, dass durch die sektenhafte Parteinahme für die jeweilige Partei (und den Hass auf die andere) eine Veränderung zu einer demokratischeren Gesellschaft nicht möglich ist. 

Nicht nur durch den Schock, den viele durch die Ermordung Daphnes erlebten, auch durch die Auseinandersetzungen über die Machtfülle des Premierministers (er kann Richter und Staatsanwälte ernennen und entlassen, Polizei und Militär befördern, was auch die EU beanstandete). Die EU, deren Mitglied Malta seit 2004 ist, hat zwar mehrere Arbeitsgruppen und Beobachter geschickt, ihren Presseraum nach Daphne benannt, Papiere geschrieben und Druck auf den Premier ausgeübt, aber man hofft jetzt auf die neue EU-Kommissionspräsidentin, der alte hat offensichtlich das alles locker genommen. (Muscat hoffte noch vor kurzem auf einen EU-Posten. Jetzt stand er beim Gruppenphoto in der letzten Reihe, wegen seiner geringen Größe auch kaum sichtbar.)

Durch die ständige Berichterstattung, die auch Daphnes Familie aufrecht erhielt, blieb das Thema aktuell. Zwei ihrer drei Söhne sind Journalisten und auch im Ausland gut vernetzt. Beide – wie auch ihre Mutter posthum – haben zahlreiche Preise, Ehrungen etc. bekommen. Ein Journalisten-Preis mit ihrem Namen wird nun jährlich vergeben. Und ihre Erinnerung bleibt vor allem auch durch das Mahnmal wach, dass am Fuß des Denkmals für die Große Belagerung  (1565) täglich mit Blumen, Bildern und Kerzen geschmückt wird.

Dieses Gedenken wurde am Republic Day aufgebaut und über Nacht geschützt. Daher blieb es bisher das einzige Mal, dass nicht nachts abgeräumt wurde. 

Denn immer noch täglich – auch jetzt, wo langsam klar wird, dass Daphne wegen ihrer gefährlichen Nähe zur Wahrheit  getötet wurde – wird nachts regelmäßig alles wieder abgeräumt. Am 16. Dezember trafen sich wieder wie jeden Monat an ihrem Todestag viele Bürgerinnen und Bürger, inzwischen 26 Monate nach ihrem Tod. Diesmal war es wieder zu einer Demonstration über die ganze Republic Street. Und wieder werden die Blumen und Kerzen abgeräumt werden. Ihr Bild aber ist in der ganzen Stadt verteilt.

Und auch ihr letzter Satz, eine halbe Stunde vor ihrem Tod geposted, ist präsent.

Am 29.12. 2019 schrieb in The Independent (in der auch Daphne schrieb) der Kolumnist Mark A.Sammut: „The main connotation of his unnerving, slightly malevolent Cheshire-cat grin was that he had knowledge that you, the beholder, were not aware of. I think that knowledge was that morality is unnecessary ballast that keeps the hot-air balloon from rising to reach the heights it’s meant to reach.

But now that the hot air has gone, something Alice-in-Wonderland-like has happened. Whereas in that children’s novel, the Cheshire cat disappears leaving the unnerving grin behind, in Malta, the unnerving grin has disappeared leaving an enervated Cheshire-cat politico behind.“

Ann Anders‘ CrimeMag-Text Mord auf Malta – Über die Bloggerin und Aktivistin Daphne Caruana Galizia vom Dezember 2017 hier. Ihre Fortschreibung von 2018 hier in unserem Jahresrückblick 2018.


© Tibor Bozi

Friedrich Ani: Gesänge

Unverhofft, wie durch Zauberhand, tauchen manchmal Bücher auf, wie Menschen, denen wir nie zuvor begegnet sind, die wir aber augenblicklich wiedererkennen. Sogleich beginnen wir ein Zwiegespräch – vernehmbar oder nicht -, und staunen über so viel Neues, Unerhörtes, womöglich Beflügelndes. In Vorbereitung eines Bandes mit Balladen – eine Kunstform, die mich seit jeher faszinierte, in gedruckter Form genauso wie als Song – stieß ich in diesem Jahr auf ein Werk mit dem Titel Ach, hört mit Furcht und Grauen, verfasst von dem Sänger Thomas Quasthoff, unter Mitarbeit seines Bruders Michael Quasthoff. Der titelgebende Vers stammt aus einer Bänkelballade aus dem 18. Jahrhundert, die Sammlung enthält allerdings keineswegs nur klassische oder altbekannte Texte, sondern schlägt vielmehr Brücken von den frühen Gesängen bis heute, von Schillers „Glocke“ bis Bob Dylans „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, von Michael Bellheim im 15. Jahrhundert („Mein Begehr und Willen ist in der Schänke sterben/wo mir Wein die Lippen netzt, eh sie sich entfärben“) bis Abel Meeropol im 20. Jahrhundert mit seinem Lied „Strange Fruit“, das durch Billie Holidays Interpretation zu einem bewegenden Fanal gegen Lynchjustiz wurde.

Erscheint im Juni 2020

Die große Schönheit dieses Buches entsteht aus dem persönlichen, sehr entspannten und spielerischen Umgang des Autors mit dem Material. Thomas Quasthoff räumt jedem Gedicht, das er in sein Brevier aufnahm, den ihm angemessenen Raum ein, er bewertet nicht, er lässt die Zeilen schwingen und klingen und erlaubt sich zwischendurch ironische Anmerkungen zur zeitgenössischen Rezeption. Die Lektüre lässt uns beschwingt und womöglich ein wenig klüger zurück – wie das Gespräch mit einem Menschen, der es ernst mit uns meinte. 

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimi Preis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Seine Romane um den Vermisstenfahnder Tabor Süden machten ihn zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kriminalschriftsteller. Sein nächstes Buch Die Raben von Ninive, ein Gedichtband mit Balladen, erscheint im Juni 2020. Ein Willkommen für die Neuauflage von Jörg Fausers Schlangenmaul hier, eine Hommage an Cornel Woolrich bei CrimeMag: „Kriminalschriftsteller sind die letzten Romantiker, wussten Sie das nicht?

Max Annas: Sprechen ohne Publikum, Hören ohne Verständnis

Machen Sie eine nicht repräsentative Umfragen in Ihrem sozialen Umfeld. Lassen Sie sich die Namen der deutschen Kolonien nennen. Das Ergebnis ist auch bei Leuten, die schon ein paar Bücher gelesen haben, oft ernüchternd. Für die Kolonialgeschichte des Deutschen Reiches mit seinen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent, in der Südsee und im Osten Chinas, zu Ende gegangen vor ziemlich genau einem Jahrhundert, gibt es ein dürftiges Bewusstsein und kaum ein echtes Interesse. Ob die Weigerung, den Völkermord an Nama und Herero im heutigen Namibia angemessen zu kommentieren und daraus politische und natürlich finanzielle Konsequenzen zu ziehen, Ursache dafür oder Folge davon ist, lässt sich sicher debattieren.

Was unter anderem fehlt, ist ein kompletterer Blick auf die Geschichte vor Weimar, der den Rassismus und ebenso den enormen Vernichtungswillen der Hohenzollerngesellschaft näher betrachtet. Hier setzt die Afrikanistin und Kulturwissenschaftlerin Anette Hofmann mit Ihrer Ausstellung „Der Krieg und die Grammatik“ an, die noch bis Mitte Januar im Hamburger Museum MARKK zu sehen ist. Afrikanische Kriegsgefangene und Internierte des Ersten Weltkriegs haben der Königlich Preußischen Phonografischen Kommission in einer Labor- und Forschungssituation Sprachaufnahmen überlassen. In ihren Erstsprachen erzählen sie… irgendetwas.

Ziel der Aktion war es, so hieß es, zum Beispiel grammatikalische Strukturen zu erforschen und dafür Aufnahmen zur Verfügung zu stellen. Dabei war das gegenseitige Verstehen selten gegeben. Die Sprechenden wussten kaum, warum sie zur Aufnahme genötigt wurden, und die Aufnehmenden konnten die Sprechakte nicht einordnen, weil sie die Sprachen der Probanden nicht kannten – und natürlich nicht die Fähigkeit der Sprechenden, jene Sprache, die als ihre eigene galt, zu beherrschen – hier zum Beispiel Wolof, die Mehrheitssprache im heutigen Senegal, IsiXhosa, eine der beiden am meisten gesprochenen Sprachen in Südafrika oder Somali. Es ging nie darum, die Sprechenden als Individuen zu hören, es ging lediglich darum, eine fremde Sprache zu archivieren, um sie zugänglich zu machen. Die archivierte Bitte des Wolof-Sprechers Abdoulaye Niang, er möchte nicht deportiert werden, konnte also niemand derer, die die Aufnahme betreuten, verstehen.

Der Philologe Wilhelm Doegen, der das Projekt initiiert hatte, stellte das Projekt so vor: „Sprachen, die Musik und die Laute von über 250 Völkern der Erde“. Diese sollten von einer Gruppe von circa 30 Forschern aufgenommen werden, die die Kriegsgefangenenlager im ganzen Land aufsuchten – in denen natürlich auch Menschen aus europäischen und asiatischen Ländern einsaßen. Diese Aufnahmen sind, ohne je übersetzt worden zu sein, lange in Berliner Archiven begraben gewesen, wo Hoffmann sich ihnen gewidmet hat hat. Die Ausstellung in Hamburg ist nun ein erstes Ergebnis ihrer jahrelangen Forschung. 

Hoffmann betrachtet diese Tonaufnahmen als ein alternatives Archiv zur Kolonialgeschichte. Wobei die Alternative natürlich in der Art der Nutzung und Präsentation entsteht, in der jene, deren Sprachen und Sprechen bislang im Regal verborgen war, als individuelle und repräsentative Äußerungen zu hören sind. Siehe Niangs Bitte, nicht deportiert zu werden.

Die Ausstellung findet Platz in drei kleinen Räumen, die im sogenannten Zwischenraum des Museums geschaffen wurden. Texte zum Lesen und zum Hören, im Original und übersetzt. Fotos dazu, und Filmausschnitte zweier Völkerschauen in Berlin und Paris, um einen Hinweis darauf zu geben, wie von Deutschland und Europa aus die Welt betrachtet wurde. Herausgehoben in der Ausstellung ist Mohamed Nur, der vor dem Krieg von Aden nach Deutschland kam, um in Völkerschauen sein Geld zu verdienen und mit dem Ausbruch des Kriegs als Angehöriger einer sogenannt feindlichen Nation interniert wurde. Der Linguist Carl Meinhof war für seine Sprachaufnahme verantwortlich, Max Slevogt mit seinem Interesse am vermeintlich Exotischen malte ihn, mit der Afrikanistin Maria von Tiling erarbeitete er eine Grammatik des Somali, die unter ihrem Namen veröffentlich wurde. Er war in Ruhleben interniert und lebte bis 1921 in Hamburg als Sprachassistent. Dann verliert sich seine Spur.

Der Krieg und die Grammatik. Mohamed Nur: Ton- und Bildspuren aus dem Kolonialarchiv: Ausstellung bis 15. Februar 2020, Hamburg, Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt.

Von Max Annas ist 2019 erschienen: Morduntersuchungskommission, mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und auch auf unserer CrimeMag Top Ten zu finden. Ein Textauszug bei CrimeMag hier. Im Juli 2020 erscheint Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit.
Max Annas bei CulturMag – mit unter anderem seiner großen Filmkolumne „Film, Verbrechen und andere Mittel“
hier.

Bruno Arich-Gerz

2019 war mein Frank Witzel-Jahr. Seine Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 gehörte vorher schon zu den Büchern, aus denen ich eines Tages von einem ghanaischen Sargmacher mit viel Leim das Erdmöbel für meine Bestattung kleben lassen werde. Ein Schlager von einem Roman, der mit seinen literatur- und kulturtheoretischen Versatzstücken, die auf den Rillen von bundesrepublikdeutscher Zeitgeschichte (1970er und 80er Jahre) liefen, einen anspruchsvollen, aber nie monotonen Lese-Sound bot. Vollkommen zurecht, wenngleich nicht LitCrit-weit delektiert (Dennis Scheck wäre ein Mainstreamer lieber gewesen, Ilja Trojanow) erhielt die „Erfindung“ 2015 den Deutschen Buchpreis.

Ich traf mich mit Frank Witzel, zwei-, dreimal übers Jahr verteilt. In Darmstadt war das, und wir beredeten Poetologisches, das ich nochmal nachlas in der Druckversion seiner Heidelberger Vorlesungen Über den Roman – hinaus. Eine zu lückenlos durchgeplottete Erzählung ersticke etwas, das Witzel Stimmungskontext nennt: das blieb bei mir hängen als sozusagen atmosphärisches Surplus, das im Sinn einer rezeptionsästhetischen Leerstelle aufbricht und sich breit macht, ohne restlos auslegbar zu sein. „Dieser Stimmungskontext ist nicht gänzlich zu interpretieren, entzieht und verweigert sich einem Erklärungsversuch sogar, eröffnet aber weitere assoziative Möglichkeiten, wodurch sich die von ihm ausgehende Stimmung umso stärker entfalten kann“. Romanestricken mit der großen Nadel für die luftigen Maschen, die auf Englisch vielleicht vibrations heißen, und auf Französisch air.

Vondenloh, ein Roman von 2008, den Witzels Verlag nach Abebben des Buchpreis-Hypes als Softcover neu aufgelegt hat und den ich geschenkt bekam, zeigte einen anderen Frank Witzel: einen, der sich einen unendlichen Spaß daraus macht, seine Leserschaft über den Themenkanten des Literaturbetrieb-Wahnsinns in das Labyrinth des immer noch versehrten, unfertigen Deutschlands zu locken – und dabei enorm humorig bleibt. Auch Blue Moon Baby (2001) war eine Kichererbse mit augenzwinkernder Gegenwartsdiagnose, die kulturindustrielle Sumpfblüten und Verblendungs- und Verblödungszusammenhänge nicht streng sezierte, sondern locker auftischte und dabei trotzdem viel akademische Theorie schmuggelte. Nun höre und lese ich von Witzels neuem Titel, einer Art Tagebuch eines Depressiven, voller Aphorismen und mit dünnem Handlungsfaden, das sich über stille Tage im Herbst 2018 erstreckt. Ich frage mich bei der Ankündigung eines zweiten Teils, der Tage aus dem nun ablaufenden Jahr zählen und verzeichnen dürfte, ob das mit der Niedergeschlagenheit besser geworden ist. Und denke mal zuversichtlich, dass ich selbst nicht groß vorkommen werde in Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch II.

Was war sonst noch? Dass Jörg Fauser im Sommer zu seinem unerlebten 75. Geburtstag bei Diogenes (teil-)neuaufgelegt wurde, waren mir eine Freude und ein innerer Rosenmontagszug. Rohstoff von 1984 etwa vorgängert meine eigenen Fußballromänchen, deswegen.

Bei Kein & Aber fand ich Monster des israelischen Juristen und Erzählers Yishai Sarid. Die Studie einer Entfremdung auf ganz schwierigem Parkett, nämlich der eines Besucherführers mit umfänglicher Nazi-Mordstätten-Expertise, war jede der einhundertachtzig Minuten Erzähl- und Lesezeit wert. Sarid schafft es, das allmähliche Abheben des icherzählenden Yad Vashem-Historikers von seinem Sujet zu schildern, die déformation professionelle des Zweiterhand-Kenners, der Unwissenden und Ignoranten die Konzentrationslager und Vernichtungsorte erfahrbar zu machen hat (und der daran scheitert, besser: der deswegen irgendwann austickt). Genauer, Sarid schafft es, dies als das zu zeichnen, was es ist: ein unspektakulärer subkutaner Prozess mit großer Sprengkraft. Monster ist damit ein notwendiges Korrektiv und ein nötiger Blick auf den zu oft schlagzeilenlärmenden internationalen Gedenkzirkus, dem mal einer das böse, aber nicht unpassende Label Shoa‘ Business draufgeklebt hat.

Bruno Arich-Gerz beschäftigt sich seit einem Dutzend Jahren unter anderem mit den Kulturen, Literaturen und Sprachen Namibias. Er war DAAD-Kurzzeitdozent an der University of Zimbabwe in Harare und sitzt im Advisory Board des Journal of Namibian Studies. History – Politics – Culture (JNS). Seit 2012 schreibt er für CulturMag.

Matthias Arning: Europas Mauern

Alle reden über Ivan Krastev. Spätestens seit den Römerberggesprächen in Frankfurt am Main als es darum ging, was von 1989 wohl bleiben werde. Alle reden über Ivan Krastev, diesen Denker aus Sofia, aber hat er wirklich Erhellendes für die Gegenwart zu sagen? Und sagt er mehr über Europa, als dass dem Osten der Ausverkauf seiner Arbeitskräfte drohe?

Ivan Krastev weist darauf eindringlich hin. Auch darauf. Aber in dem neuen Buch geht es um mehr, um viel mehr. Man kann den Eindruck haben: Das Ende der Geschichte ist der Anfang neuer Perspektiven. Eigentlich hatten aber doch nach 1989 alle gedacht, es werde alles besser und man könne sich überall auf den Fortschritt verlassen. An dieser Wegmarke schien der Sieg der Demokratie vollendet, der Kapitalismus in Gestalt des Neoliberalismus das die Welt einnehmende Modell zu sein. Mittlerweile spricht man über den Absturz des Westens und darüber, dass der Einsturz der Mauern nicht die Vollendung der Freiheit brachte. Vielmehr werden allenthalben neue Mauern aufgebaut und die Euphorie ist längst der Verbitterung gewichen.

Irgendwas ist seit 1989 gründlich schiefgelaufen. Aus diesem Grund machen sich der bulgarische Politologe Ivan Krastev und der New Yorker Rechtswissenschaftler Stephen Holmes daran, geübte Betrachtungen über den Verlauf der Geschichte in Frage zu stellen: Das Licht, das erlosch, haben sie ihr Buch betitelt. „Eine Abrechnung“, wie es im Untertitel heißt, mit der Illusion, mit dem Fall der Mauern in Osteuropa, dem Ende des Kalten Krieges und dem Zeitalter des Liberalismus verbinde sich allein ein Aufbruch zur Freiheit. Es ist auch eine Abrechnung mit einer Sicht auf die Historie, die im Gefühl des Triumphes damals mit Francis Fukuyama das Ende der Geschichte euphorisch gefeiert hatte.

1989 stand für Ivan Krastev und Stephen Holmes am Anfang eines „dreißigjährigen Zeitalters der Nachahmung“. Damit markieren sie ihren Ausgangspunkt. Um zügig zu Reformen zu kommen, sei es für Politiker im Osten der rasch erweiterten Europäischen Union darum gegangen, den Westen nachzuahmen. Sie drängten darauf, „die Lebensweisen und moralischen Haltungen zu kopieren, die sie im Westen beobachteten“, um den Wandel ihrer Gesellschaften zu betreiben. Inzwischen aber gebe es, etwa in Polen und Ungarn, „ein Unbehagen an der Nachahmung“. Mittlerweile sehe man sich einer „weltweit stattfindenden Revolte“ gegenüber. An unterschiedlichen Orten der Welt, aber verursacht von „drei parallel verlaufenden, miteinander verbundenen und durch Verbitterung befeuerten Reaktionen auf den vermeintlich kanonischen Status westlicher Politikmodelle nach 1989“. In Osteuropa, wo Polen und Ungarn etwa die gleichgeschlechtliche Eheschließung als falsche Vorstellung von Liberalität im Westen geißeln. In Russland, das sich in den Präsidentschaftswahlkampf des früheren Konkurrenten aus der Zeit des Kalten Krieges, die USA, einmischt. In China, das zwar die wirtschaftliche Dynamik des Westens zu schätzen weiß, gleichzeitig aber auf kultureller Eigenständigkeit beharrt und von Nachahmung nichts wissen will. Diese Reaktionen legen die Autoren als Ablauf ihrer aktuellen Studie zugrunde.

Verbitterungen und Irritationen beschäftigten Ivan Krastev bereits 2017 in seinem bei suhrkamp erschienenen Essay Europadämmerung. Er beschrieb zwischen Ost und West „zwei Welten, die ein tiefes wechselseitiges Misstrauen hegen“. Bis dahin hatte Brüssel die Demokratie als das Verbindende aller beteiligten Mitglieder herausgestellt. Mit der Flüchtlingskrise jedoch räumen Polen und Ungarn etwa den Schutz von Minderheiten beiseite und verlangen „den Schutz der eigenen politischen Gemeinschaft“. Anstelle von Inklusion, unterstrich Krastev, gebe es in diesem Augenblick also eher das Verlangen nach Ausschluss. In dieser Sicht lasse sich „das europäische Projekt nicht länger als Ausdruck eines liberalen Universalismus“ verstehen, „sondern als mürrischer Ausdruck eines defensiven Provinzialismus“. Krastev berichtet in Europadämmerung über den massiven Rückgang der Bevölkerung seit 1989, was sich als Problem erweise: 2,5 Millionen Polen kehrten ihrem Land den Rücken, 3,5 Millionen Bulgaren verließen ihre Heimat und in Litauen sank die Bevölkerungszahl von 3,5 auf 2,9 Millionen, Tendenz: weiter sinkend. Gemeinsam mit Stephen Holmes liefert Krastev nun eine Analyse antiliberaler Bestrebungen in der Gegenwart. In ihrem Buch Das Licht, das erlosch, beschreiben sie, wie sich der Kreml nach der Niederlage im Kalten Krieg in Stellung bringt, um selbst Stärke zu demonstrieren – etwa in der Ukraine. Schließlich markieren Krastev und Holmes mit ihrer Betrachtung Chinas das „Ende des Nachahmungszeitalter“. Das Land wisse, mit „gezieltem ,Entleihen´ technischer Mittel“ Wohlstand zu schaffen, „betrachte sich selbst aber nicht als ein Land, sondern als eine Kultur“. Das führe dazu, dass „eine Welt, in der China aufsteigt und Amerika ein normales Land geworden ist“, die Rivalität konkurrierender Systeme nicht mehr kenne. China erhebe nicht den Anspruch, Vorbild zu sein, das der Rest der Welt nachahmen möge.

Nach 1989, an diesem Schluss lassen Krastev und Holmes niemanden vorbei, entpuppte sich Europas „demokratischer Schwung“ als „enttäuschend kurzlebig“. 

  • Ivan Krastev, Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung. (The Light that Failed, 2019). Aus dem Englischen von Karin Schuler. Ullstein, Berlin 2019. 368 Seiten, 26 Euro.

Matthias Arning hat Politische Wissenschaft in Frankfurt und Berlin bei Herfried Münkler und Iring Fetscher studiert. Er war politischer Redakteur bei der „Frankfurter Rundschau“, dann Lokalchef. Danach beriet er die Frankfurter Oberbürgermeisterin. Zu seinen Büchern gehören Späte Abrechnung über die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter (Fischer-Verlag) und Aufstand der Städte (Westend), gemeinsam mit Petra Roth. Heute ist er Verleger der „Frankfurter Ansichten“, sein schönes Buch Frankfurt für Anfänger (das es auch in einer vorzüglich übersetzten englischen Ausgabe gibt) stand auf der Shortlist für das „Schönste Regionalbuch“.

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