Geschrieben am 1. Juli 2019 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2019

Exklusiv: Max Annas „Morduntersuchungs-Kommission“

«Nazis? Hier?»
«Nazis.»
«Es gibt keine.»

Ein Textauszug aus dem neuen Roman von Max Annas

Am 23. Juli erscheint der neue Roman von Max Annas – CrimeMag-Lesern nicht nur bekannt durch seine Bücher „Die Farm“, „Die Mauer“, „Illegal“ und „Finsterwalde“ sondern auch mit seiner Kolumne „On Dangerous Ground: Film, Verbrechen und andere Mittel„. 

Max Annas © Michele Corleone

In Absprache mit dem Autor und mit freundlicher Genehmigung des Verlags präsentieren wir Ihnen hier exklusiv drei Kapitel aus „Morduntersuchungskommission“.

Kapitel 57 

«Du bist ja total betrunken.» Birgit machte die Tür auf und sah Otto mit dem Schlüssel in der Hand. Er hatte das Schloss nicht gefunden. 
«Was ist denn los?», fragte sie. Sie überprüfte ihre Armbanduhr. «Es ist doch noch früh am Abend. Und ihr habt doch diesen Fall.» 
Otto machte vorsichtig einen Schritt in die Wohnung hinein und stolperte über den Teppich. Viel fehlte nicht, und er hätte sich lang hingestreckt. 
Birgit guckte nur. 
Otto stützte sich an der Wand ab. Dann atmete er langsam ein und aus und wieder ein und aus. An der Klinke der Badezimmertür hielt er sich fest, während er sie öffnete. 
Er stellte sich breitbeinig vor die Toilette und fing an zu strullen. 
«Otto!» Birgits Stimme ging nach unten. «Heb doch wenigstens die Brille an.» 
«Ent. Schul. Di. Gung.»

«Bist du mit dem Auto gekommen?»

«Hmhm.» Otto betätigte die Spülung. «Und ich hab keine Kinder überfahren.» Er drehte den Hahn bis zum Anschlag auf und hielt den Kopf unters Wasser. «Soweit ich mich erinnern kann …» Dann setzte er sich im Flur auf den Boden. 
«Was ist denn los?» Birgit setzte sich neben ihn. «Haben sie dich zur Transportpolizei versetzt?» 
«Kann ich dir nicht sagen.»

«Du sagst mir doch sonst immer …»

Otto rülpste. «Vieles. Nicht alles.»

«Und warum das nicht?»
«Weil …»

«Ich will nicht, dass die Kinder dich so sehen.»

«Kommen die jetzt?» Otto hielt seine Uhr so, dass er draufgucken konnte, erkannte aber weder Zahlen noch Zeiger. 
«Ich hole sie gleich ab.»
«Sie haben den Fall geschlossen.» 
«Wer? Sie?»

«Na …»

«Sie haben ihn euch weggenommen.»

«Nein. Er ist abgeschlossen. Es wird nicht mehr ermittelt. Kann ich einen Weinbrand haben?»

«Auf gar keinen Fall. Du gehst ins Bett. Und ich sage den Kindern, dass der Papa krank ist. Warum wird denn nicht mehr ermittelt?» 
Otto war schlecht. Er unterdrückte den Impuls, sich zu übergeben. «Politik.» 
«Das ist doch nicht das erste Mal.»

Otto schüttelte den Kopf. «Ist es nicht.»

«Und warum ist das so ein Problem?»

«Weil es das eben ist.»

«Ich muss die Kinder abholen. Schaffst du es allein ins Bett?» 
«Geht schon.» Otto stützte die Hände auf den Boden und versuchte, sich zu erheben. In seinem Kopf begann irgendetwas, sich zu drehen. «Muss ja.» 
«Da ist Kartoffelsalat im Kühlschrank.» 
Otto blies schlechte Luft in den Flur. «Danke. Kann ich jetzt nicht.» 
Als Birgit die Wohnung verlassen hatte, drehte er sich um und hatte alle viere am Boden. Ganz langsam stand er auf und achtete dabei darauf, dass der Kopf ganz ruhig auf den Schultern saß. Im Wohnzimmerschrank war eine ungeöffnete Flasche Goldbrand. Mit zitternden Händen drehte er den Verschluss auf und nahm einen Schluck aus der Flasche. Dann holte er ein Wasserglas aus der Küche und füllte es zur Hälfte. Er stellte die Flasche wieder in den Schrank und ging ins Schlafzimmer. 
Angezogen im Bett sitzend, streifte er die Schuhe ab. Der Schwindel war im Kopf und ging nicht weg. Er drückte sich an den Bettrücken und leerte das Glas in kleinen Schlucken. Dann rutschte er hinab und schlief sofort ein. 

Kapitel 90 | SO4.12.1983 

«Warte.» Bodo war ein paar Schritte voraus und hatte fast schon seinen roten Lada erreicht, als Otto ihn aufhielt. 
«Ich muss eigentlich …», sagte er, den Schlüssel hatte er gerade ins Schloss gesteckt.. 
«Warte trotzdem.» Otto blickte zurück und sah Mutter im Fenster. Er winkte, sie winkte auch. «Lass uns reden», sagte er. «Im Wagen.»
Als sie saßen, suchte Otto nach Worten. Bodo starrte aus dem Fenster und wartete. 
«Was machst du eigentlich gerade?», fragte Otto.

«Du weißt, was ich mache.»

«Ja. Grundsätzlich. Ich frage trotzdem. Du bist mein Bruder, und ich bin nicht der Klassenfeind.»

«Hast du Ärger in der MUK?»

«Wenn ich Ärger hätte, wärst du doch der Erste, der es mitkriegt.»

«Wie meinst du das? Willst du sagen, dass ich jemanden … Du bist verrückt.»

«Ist da wer?»

«Ach …» Bodo drehte sich ab und blickte aus dem Fenster. 
«Jetzt sag schon, was du willst.»

«Wie gehen wir eigentlich mit Nazis um?» 
«Nazis? Hier?» 
«Nazis.»

«Es gibt keine.»

Otto sagte nichts.
Bodo schwieg ebenfalls.
Otto legte seine Hände auf die Knie, dann hob er sie kurz an und rieb sie aneinander. Er ballte sie zu Fäusten, bevor er weiterredete. 
«Du weißt so gut wie ich, dass das nicht stimmt.»

«Du hängst immer noch an dem Fall mit dem Afrikaner.» 
Als Otto nicht antwortete, setzte Bodo nach. «Wie viele Leute haben dir gesagt, dass du die Finger davon lassen sollst?» 
«Du auf jeden Fall.»

«Und Vater. Und Thiel. Und vielleicht auch noch einer aus der Spezialkommission, wenn es denen besonders wichtig gewesen ist. Aber der Befehl war doch klar. Die Ermittlung ist abgeschlossen.» 
«Danke. Ich mag es, wenn mich mein eigener Bruder belehrt. Jetzt kannst du mir ja die Frage endlich beantworten.» 
«Welche Frage?»

«Wie wir hier mit denen umgehen.»

«Es gibt keine, ich hab dir das doch gerade gesagt. Nazis sind eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die gibt es folglich in der Bundesrepublik Deutschland. Nicht bei uns in der DDR.» 
Es fing an zu regnen. Otto fiel ein, dass er vergessen hatte zu rauchen. Er holte die Packung hervor, zündete sich eine an und hielt Bodo das Feuerzeug hin. Der holte seine eigene Packung schon aus der Jacke. 
«Und wer waren die beiden Arschlöcher, die ich Freitag dabei beobachtet habe, wie sie beinah einen Vertragsarbeiter unter den Bus gestoßen hätten?» 
Bodo hustete. «Du hast was?» 
«Ich hätte es verhindert.» 
«Du bist …» Bodo lächelte. «Du hast dich tatsächlich über die Anweisungen hinweggesetzt, die du vom Leiter der MUK bekommen hast? Ich dachte, du wärst klüger.» 
«Du hast gesagt, ich wäre naiv.» 
«Naiv ja, aber doch nicht so blöd. Was, wenn das herauskommt?» 
«Was dann?» 
«Wenn du Glück hast, lassen sie dich den Verkehr regeln. Was waren das für Leute, denen du da gefolgt bist?» 
Otto erzählte seinem Bruder von den Sonntagen, an denen er im Zug gesessen hatte. Von Frau Krahmer. Von dem Großen und seinen Freunden. Und von der Geschichte mit dem Bus. 
Bodo nahm sich Zeit, bevor er antwortete. «Was hättest du denen erzählt, wenn du die daran gehindert hättest? Dass du ganz zufällig da vorbeigekommen bist? Und dann hättest du sie zugeführt, ja? Und das ganz allein?» 
«Willst du immer noch sagen, dass es keine Nazis bei uns gibt?» 
«Einzelfälle. Unpolitische und Asoziale. Nichts, was auch nur im Ansatz organisiert ist. Guck dir die doch an. Wenn du das richtig gesehen hast, streifen die den ganzen Abend durch die Stadt, um sich ein Opfer zu suchen.» Er schüttelte den Kopf. «Hilflos. Gefährlich natürlich, aber hilflos.» 
«Immerhin hat der Silber eine Neubauwohnung in Winzerla gekriegt. Da haben sie den doch überprüft.» 
«Ja, formal. Wenn er Parteimitglied ist und pünktlich zur Arbeit erscheint und seine Zeugungskraft bereits nachgewiesen hat oder wenigstens zwei dieser drei Kriterien erfüllt, dann kriegt er halt eine Neubauwohnung. Wo ist das Problem?» 
«Und wie passt das zusammen? Asozial und pünktlich auf der Arbeit?» 
«Es gibt immer Grenzfälle und immer wieder Fehleinschätzungen. Asozial ist ein weiter Begriff.» 
«Und deine Arbeit? Wofür ist die gut?» 
«Dafür, diese Fehleinschätzungen so gering wie möglich zu halten. Und jetzt lass mich fahren.» 

Kapitel 99 | MO12.12.1983 

Den Krümel auf dem Kragen seines Jacketts sah Otto noch, aber er traute sich nicht, ihn kurz wegzuwischen. Er stand stramm und wartete darauf, dass der Oberstleutnant einen Ton sagte. Aber der starrte demonstrativ auf ein Blatt in der Akte vor sich. Sie war aus Pappe und nicht besonders dick, das Blatt vor den Augen des Vorgesetzten war mit kleinen Buchstaben voll- getippt. Und an drei Stellen stachen farbige Unterstreichungen heraus. Das war es, was Otto sah. Er stand zu weit weg, um mehr zu erkennen. Und er hatte einen Krümel auf dem Kragen. 
«Rühren», sagte der Oberstleutnant schließlich, ohne aufzusehen. Der stellvertretende Leiter der Kriminalpolizei im Bezirk war nicht als harter Hund bekannt. Aber man erzählte sich, dass es gut war, sich seine Sympathie nicht zu verscherzen. Wenn er sie einmal entzog, war es schwer, sie wieder zurück- zugewinnen. 
Otto stellte einen Fuß versetzt vor den anderen und atmete durch, ohne sich freier zu fühlen. Gleich bei der Ankunft in Gera hatte ihn Heinz zu sich gerufen. «Da sind Dinge», hatte er gesagt, «die werfen ein Licht auf die ganze MUK.» Dann hatte er ihn eine Etage höher geschickt. «Wenn wir dir das nicht vermitteln können …», hatte Heinz noch leise gesagt. 
Der Oberstleutnant betrachtete das Papier vor sich, dann legte er einen Finger auf einen Absatz und folgte langsam einer Zeile. Es war eine Demonstration. Otto war immer noch nicht klar, worum es hier ging. Heinz’ Geheimniskrämerei hatte ihn in erster Linie nervös gemacht. Endlich sah der Oberstleutnant auf. 
«Oberleutnant Castorp.» Sein Blick war nicht freundlich. «Kennen Sie die Kompetenzen der Spezialkommission IX des MfS?» 
Otto musste nachdenken. Natürlich wusste er, wofür die Genossen verantwortlich waren. Sie übernahmen im Zweifelsfall eine Untersuchung der MUK, wenn diese politisch brisant war. Oder erschien. Aber was wollte der Oberstleutnant von ihm hören? 
«Natürlich, Genosse Oberstleutnant», sagte er und hoffte, dass das die richtige Antwort war. 
«Dann werden Sie mir auch zustimmen, dass die Genossen von der Untersuchungsabteilung ganz genau wissen, was sie tun, wenn sie einen Fall in ihre Obhut nehmen.» 
«Gewiss, Genosse Oberstleutnant», sagte Otto, ohne die Silben besonders zu betonen. Er hätte nur zu gern gewusst, was für eine Akte der Genosse da vor sich liegen hatte. Allerdings hatte er natürlich eine Ahnung. 
«Erklären Sie mir also, Genosse Oberleutnant, welchen politischen Sinn das Ganze macht. Reden Sie frei, und verzichten Sie meinethalben auf das Geschwafel aus dem Studium.» Der Oberstleutnant lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme. 
Ein Muskel in seinem glattrasierten Gesicht zuckte ein wenig, genau unter seinem linken Auge. Es machte Otto Angst. «Die … Also wenn …», stammelte er. 
Der Muskel unter dem Auge des Oberstleutnants zuckte heftiger. «Nun machen Sie schon.» 
Otto sammelte sich und versuchte frei zu reden. «Es ist eine Frage der politischen Kompetenz und gesellschaftlichen Verantwortung. Wenn die Genossen von der Untersuchungsabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit erkennen, dass ein Fall die Dimension …» 
Der Oberstleutnant hob eine Hand, um Otto zu stoppen. «Ja, ja, ja. Ersparen Sie mir das. Und sich selbst auch. Sie wissen ja so gut wie ich, wie es läuft. Eins, Genosse Oberleutnant: Wie kann es sein, dass Sie, wo sich doch der Fall mit diesem mosambikanischen Vertragsarbeiter längst nicht mehr in den Händen Ihrer Morduntersuchungskommission befindet, wie kann es also sein, dass Sie dann», er zeigte mit dem Finger auf Otto, «dass Sie dann ganz allein immer noch und auf eigene Initiative und somit ganz ohne Absprache sowie Wissen Ihrer Kollegen und des Leiters Ihrer Morduntersuchungskommission immer noch dabei sind, in diesem Fall zu ermitteln?» Der Oberstleutnant holte Luft und nahm den Finger runter. «Erklären Sie mir das.» 
Den letzten Buchstaben zog er ins Endlose. Otto meinte, ein paar Tropfen des Speichels auf seiner Seite des Schreibtischs landen zu sehen. Gut, das wusste er also jetzt. Dass das MfS den Fall übernommen hatte, war dem Beschluss, den Heinz weitergetragen hatte, nicht zu entnehmen gewesen. Was immer das auch bedeutete. Den Fall zu übernehmen und in ihm zu ermitteln, waren natürlich zwei Paar Schuhe. Den Eindruck, dass irgendwer an Silber und seinen Kumpanen dran war, hatte er in der letzten Zeit nicht gewonnen. Er war bei seinen geheimen Ermittlungen sicher niemandem auf die Füße getreten. Also … physisch. Und im Umkehrschluss hatte ihn niemand ermitteln gesehen. 
Oder? 
«Nun?» Der Oberstleutnant saß aufrecht. Die Unterarme lagen auf dem Schreibtisch. 
Otto wusste, dass er eine Antwort liefern musste. «Es war unverantwortlich von mir», sagte er. «Ich habe mich treiben lassen von persönlichen Interessen.» 
Der Oberstleutnant nickte. Gut. 
Jetzt noch etwas mit einem persönlichen Anstrich. Formuliere eine nachvollziehbare Schwäche. «Der Mord an diesem Teo Macamo hat mich mitgenommen.» Sollte er noch weiter gehen? «Darf ich ganz ehrlich sein, Genosse Oberstleutnant?» 
Ein Nicken. Schwer einzuschätzen. 
«Es gibt diese Momente, die gehen einfach über das hinaus, was wir in der Ausbildung und im Studium lernen.» 
Der Oberstleutnant rührte sich nicht. Das Zucken war kurz zu sehen. War er zu weit gegangen? War seine letzte Einlassung zu persönlich gewesen? 
Der Blick des Oberstleutnants senkte sich zur Akte. Er holte tief Luft. «Das haben wir alle einmal erlebt.» Ausatmen. Einatmen. Der Blick wieder auf Otto. «Lernen Sie daraus.» 
Auf dem Weg hinaus durch das Vorzimmer des Oberstleutnants hätte Otto beinah angefangen zu lachen, so erleichtert war er. 

Auszug aus:
Max Annas, Morduntersuchungskommission
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

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