Geschrieben am 3. Oktober 2019 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2019

Thomas Adocks Rede, übersetzt

Thomas Adcock auf dem Balkon seiner Wohnung in New York, September 2019

Eine verrückt gewordene Welt – und was Autoren dagegen tun müssen

Eine Rede von Thomas Adcock, New York, für KrimisMachen 4 – ins Deutsche übersetzt von Alf Mayer

„Die Welt ist verrückt geworden!“ In jedem Jahrzehnt meines Lebens habe ich diesen Ausruf immer wieder aufs Neue gehört. Bis vor kurzem hielt ich ihn für eine Übertreibung – von Familienmitgliedern und Freunden, die ich mag und bewundere, weil sie sich für die guten Dinge im Leben einsetzen: Frieden unter den Völkern, Glück, Kunst und Literatur, Erziehung, Menschlichkeit, Umweltschutz. 

Wir alle kennen die Grausamkeiten von Krieg und Gier und Lust, von Dummheit und Ignoranz und den Katastrophen von Mutter Natur, der alten Zerstörerin. All das ist normal. Von Zeit zu Zeit aber dreht auch eine Gesellschaft durch. Sogar die am besten entwickelten Länder können verrückt werden. So wie meines.

Was also ist heute mit diesem Ausdruck? Das, was ich immer als Übertreibung abgetan habe, hat sich bewahrheitet. Ja, die Welt ist verrückt geworden.

In meinen Essays für CulturMag, Deutschlands feinstem Magazin für Kunst und Meinung, habe ich immer wieder über den unwiderstehlichen Aufstieg dessen reflektiert, was ich eine Faschistische Internationale nenne: Ungarn unter Victor Orbán, Polen unter Andrzej Duda, Italien mit Matteo Salvini und seiner Lega, die Goldene Morgenröte in Griechenland, die AfD in Deutschland, die Freiheitliche Partei Österreichs, Nigel Farage und die Brexit Partei, Brasilien unter Jair Bolsonaro oder mein eigenes Land mit dem abscheulichen Regime von Donald John Trump – Enkel des deutschen Auswanderers Friedrich Drumpf, der im 19. Jahrhundert in der Goldrauschzeit am kanadischen Yukon als Bordellbaron ein Vermögen machte, Sohn von Fred Trump, der in den 1920ern mit seinen Ku Klux Klan-Kumpanen verhaftet wurde, als sie New Yorker Polizisten auf der Fifth Avenue angriffen, unweit von dort, wo heute der vergoldete Trump Tower steht.

Wann immer ich an diesem Gebäude voller Glas und falschem Marmor vorbeikomme, muss ich an Philip K. Dicks Roman „Das Orakel vom Berge“ (The Man in the High Castle) denken, eine gruselige Imagination dessen, wie mein Land heute wäre, wenn das Dritte Reich und seine Verbündeten den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten.

Thomas Adcock bei seiner Rede in Köln, die einige Teilnehmer von KrimisMachen 4 zu Tränen rührte – © Reinhard Jahn

Noch kenne ich nicht alle hier in diesem Raum, aber ich gehe davon aus, dass wir alle uns um die guten Dinge auf der Welt kümmern, die ich erwähnt habe. Also frage ich Sie – Sie alle -: Was machen wir mit all dem Wahnsinn, der uns umgibt?

Lassen Sie mich die Frage aufteilen: in die gute und in die schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst.

Ein bösartiges Gebräu aus Wut, Verzweiflung, ökonomischer Ungerechtigkeit, rassistischer und religiöser Borniertheit, Frauenfeindlichkeit und tödlicher Gewalt vergiftet heutzutage große Nationen – damit meine ich Demokratien -, in denen bis vor kurzem Vertrauen in die Institutionen und menschlicher Anstand die Regel war.

Und dann kommt noch jener alte Fluch hinzu, von dem schon Friedrich Schiller sagte: „Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.“

In das Zentrum meiner Anmerkungen zu dem, was ich als klare und akute Bedrohung unserer Welt ansehe – und wozu wir als Autoren, besonders als Kriminalautoren, in der Pflicht stehen, alle Sirenen heulen zu lassen -, will ich jenen Ort rücken, den ich am besten kenne: die Vereinigten Staaten von Amerika. Aus ökonomischen und kulturellen Gründen haben sie eine globale und große Bedeutung,  aber ihre prominentesten Kriminellen sind unser Präsident und seine politischen Unterstützer.

Es bereitet mir kein Vergnügen, in diesem dunklen Moment der Geschichte zu sagen, dass, was gerade in meinem Land geschieht, die Blaupause für eine post-demokratische Welt der Grausamkeit zu sein scheint. Es verstört mich, das Ende der geopolitischen Führerschaft Amerikas mitzuerleben und erkennen zu müssen, dass mein Land weder fähig noch würdig ist, solch eine Rolle einzunehmen – jetzt nicht, und vielleicht nie wieder.

Nicht, wenn man sich die Fakten unserer Heuchelei beschaut: 63 Millionen meiner US-amerikanischen Mitmenschen, darunter 52 Prozent der weißen Frauen, haben ihre Stimme einem Mann gegeben, von dem wir alle schon 2016 wussten, dass er ein notorischer Betrüger ist, ein weißer Herrenmensch und Anti-Semit, ein Leugner wissenschaftlicher Erkenntnisse, ein pathologischer Lügner, ein Anti-Einwanderer-Rassist … ein Mann, der während der Schwangerschaft seiner Frau mit einer Pornodarstellerin fremdging … ein Mann, der Frauen, die er nicht mag, als „fettes Schwein“, als „Schlampe“ oder „Hund“ bezeichnet, ein grobschlächtiger Fernsehstar, der sich seiner sexuellen Übergriffe auf Frauen rühmt.

Ein Land verliert an Größe, wenn seine Mängel uneingestanden bleiben, wenn die Groteskereien seiner Führung von einem politischen Establishment mitgetragen wird, das eine Kultur der Gewalt befördert – wenn eine ungesunde Anzahl seiner schlimmsten Bürger die Idee des Anstands begräbt. Mein Land ist nicht nur am Straucheln, es ist weit abgekommen von dem Pfad, den uns unsere Gründer in der Unabhängigkeitserklärung auf den Weg gegeben haben, nämlich „eine noch perfektere Union zu formen“.  

Dieser Impuls muss wiederbelebt werden. Wenn nicht von unseren Politikern, dann von unseren Schriftstellern – von jenen Männern und Frauen, deren Kunst das Unsichtbare sichtbar macht, deren Fiktion die Camouflage der Mächtigen zerreißt und die Wahrheit hinter den bloßen Tatsachen enthüllt. Literatinnen und Literaten, die mein Volk und die ganze Welt ermutigen und inspirieren, sich für das Bessere zu engagieren, egal, wie hoch sich gerade die Hindernisse türmen.

„Noch perfekter“ ist dabei eine Zielangabe, ein Streben. Jene, die Perfektion anstreben, sind Revolutionäre.

Hören Sie die Worte einiger exzellenter amerikanischer Revolutionäre:

„Ich liebe Amerika mehr als jedes andere Land auf der Welt, und eben aus genau diesem Grund beharre ich auf dem Recht, es beständig zu kritisieren.“ (James Baldwin, 1924 – 1987)

„Das ist jetzt genau die Zeit für Künstler, um zu arbeiten. Wir haben keine Zeit für Verzweiflung oder Selbstmitleid. Oder für Schweigen. Oder Angst. Wir reden, wir schreiben, wir arbeiten mit der Sprache. Das ist die Art, wie Zivilisationen wieder heilen.“ (Toni Morrison, 1931 – 2019) 

„Ein Patriot muss immer dazu bereit sein, sein Land gegen seine Regierung zu verteidigen.“ (Edward Abbey, 1927 – 1989)

„Ich weigere mich, in einem Land wie diesem zu leben, und ich gehe nicht weg.“ (Michael Moore)

Bis zu einer „noch perfekteren Union“ ist es noch weit. Und auf diesem fast unmöglichen Weg – wir Amerikaner aber sind ja auch ein unmöglicher Haufen – müssen wir zwei schwierige Dinge bewerkstelligen: Wir müssen der Wahrheit unserer Geschichte ins Gesicht sehen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart, und dann das Schamvolle mit dem Noblen zusammenbringen. Anderen Nationen ist solch eine schwierige Abrechnung gelungen, uns Amerikanern sollte das auch möglich sein.

Um das zu bewerkstelligen, muss ich abscheuliche Wahrheiten aussprechen, und wenn ich davon erschöpft bin, werde ich mich auf Optimismus verlegen. Wir Amerikaner sind schließlich unverbesserlich optimistisch.

Die Medien halten uns ja getreulich auf dem Laufenden über die jedes Gefühl abtötende Anzahl der Massenmorde in den USA. Als ich mit dieser Rede begann, am 217. Tag des Jahres 2019, hatte mein Land schon 255 Schusswaffen-Massaker zu verzeichnen, vom FBI definiert als vier oder mehr erschossene Personen, den Täter nicht mitgerechnet. Die Zahlen sagen es: Wir haben mehr Massaker im Jahr als es Tage hat.

In den USA gibt es mehr Waffen als Menschen: 393 Millionen private Schusswaffen für 329 Millionen Bürger, bei der letzten Erhebung. Die meisten Massaker der letzten Dekade – an die 60 Prozent – wurden von jungen weißen Männern verübt, deren Mordlust von einem rechtsradikalen Mediennetzwerk angestachelt wird…

… und von der gewalttätigen Rhetorik Donald J. Trumps. Seine endlosen Wahlkampfkundgebungen seit 2016 sind der Sauerstoff für einen Politkult, der bereit ist, seine Kriminalität, seinen Rassismus, seine tausende Lügen, seinen sexuellen Schweinestall, seine Hörigkeit gegenüber Kreml-Oligarchen und seine Bewunderung von Diktatoren zu ignorieren. Seine hasserfüllte Geringschätzung von Migranten, Juden, Muslimen, Afroamerikanern, Hispanics, Homosexuellen und Behinderten erinnert an die Nürnberger Auftritte von Adolf Hitler …

… Und glauben Sie nicht, dass ich übertreibe. Einer meiner Bekannten, ein deutscher Jude, ist kürzlich im Alter von 99 Jahren gestorben. Er fürchtete den Sinngehalt der Nürnberger Parteitagsreden, das, was er als gefährliche Freude am Hass empfand. Kurz nach der Reichskristallnacht gab er all seinen Besitz auf und floh mit seiner jungen Familie aus Berlin, erst nach England, dann nach Kanada. Von dort aus folgte er den Nachrichten aus den USA so, wie er es damals beim Aufstieg Hitlers in Deutschland getan hatte. Auf seinem Sterbebett in Montreal sprach er über Amerika mit seinen letzten, traurigen Worte so: „Es geschieht wieder.“

Der Sohn des alten Mannes ist New Yorker, er ist Autor und Broadway-Schauspieler, ein enger Freund von mir. Es ist ihm ein Anliegen, dass Sie von seinem Vater wissen. Von seiner Warnung.

Donald Trump hat sich längst auf ein besonderes Ziel seines Hasses eingeschossen: auf Flüchtlinge aus den spanischsprechenden Ländern Honduras, Guatemala und El Salvador – Länder, die nicht zuletzt durch Jahrzehnte von US-Militärintervention und Gewinnmaximierung von US-Firmen verarmt sind, wo Gewalt gegen Frauen herrscht und Bandenkriege Chaos stiften. Flüchtlinge aus diesen  instabilen Ländern wollen nun Asyl in den USA – wie es ihr Recht ist, unter amerikanischem wie auch unter Völkerrecht.

Viele von ihnen sind Frauen, die mit ihren Kindern dreitausend Meilen über zerklüftetes Terrain flüchten, vor ihren Ehemännern oder Partnern, die sie nach einer Vergewaltigung fast totgeschlagen haben. Mr. Trump hat im April bei einem Treffen mit Reportern von diesen Frauen so gesprochen: „Sie kommen, als ob es zum Picknick ginge, als ob es heißt: ‚Komm, lasst uns nach Disneyland gehen’.“

Und dann werden diese Kinder von ihren Eltern getrennt und in Käfige gesteckt. Die ganze Welt hat diese Aufnahmen gesehen. Per offiziellem Dekret hat der Präsident der Vereinigten Staaten erklärt, dass Duschen und Zahnbürsten unnötig seien für traumatisierte Kinder, die seine Regierung in Gewahrsam hält … 

Laut der Rechtsanwälte der American Civil Liberties Union sind derzeit die Aufenthalte von über 1400 Kindern nicht bekannt. Immer wieder gibt es Presseberichte, dass Kinder von den Gefängniswärtern missbraucht werden – verbal, physisch und sexuell.

Grausamkeit ist nicht die Auswirkung von Trumps Politik. Grausamkeit ist ihr Ziel.

Aber nun zu den guten Nachrichten, die ich angekündigt habe:

Amerika ist fähig zur Selbstrettung, unserem beschämenden Präsidenten und seinen Anhängern zum Trotz. Ironischerweise hat die Wahl dieses furchtbaren Mannes die meisten von uns Amerikanern dazu gebracht, auf die besseren Engel unserer Natur zu hören – so wie Präsident Abraham Lincoln uns in früheren Jahren der Gewalt und des Wahns aufgefordert hat. Ich spreche von Amerikas brutalstem Verbrechen: der Besitzsklaverei, die 244 Jahre angedauert hat, von 1619 bis 1863, als Mr. Lincoln die Sklaverei für beendet erklärte und vier Millionen Menschen in Freiheit setzte, mehr als die Einwohner von Berlin und Frankfurt zusammengenommen.

Ich will Sie an einige Schritte vorwärts erinnern. Denn es gibt eine Unterströmung von Hoffnung und Licht, von unmöglichem Optimismus, in unserem Land.

Da ist Wilmot Collins, ein Flüchtling aus Liberia, der im November 2017 in der konservativen Stadt Helena/ Montana, zu 97 Prozent weiß und mit einem Trump-Gefolgsmann als favorisiertem Kandidaten, zum Bürgermeister gewählt wurde.

Ein Jahr später fegte bei den Kommunalwahlen im November 2018 ein virtueller Tsunami progressiver Kandidaten durch das Land, mehr Frauen dabei als je zuvor, mehr ethnische und sexuelle Minderheiten als je zuvor, viele das erste Mal angetreten. (Meine eigene Tochter inklusive, wenn ich das als stolzer Vater erwähnen darf.)

In meinem Heimatstaat New York gibt es die erste Frau und die erste Afroamerikanerin als Generalbundesanwalt. Ihr Name ist Letitia „Tish“ Jones. Und während man einen amtierenden US-Präsidenten nicht vor ein Strafgericht stellen kann, steht sie bereit, Donald Trump wegen vieler Verbrechen anzuklagen, sobald er Washington verlassen hat.

Jetzt am 18. August widmete die New York Times das ganze Sonntagsmagazin dem „1619 Projekt: Die ganze ungeschminkte Wahrheit“, einer Essay-Sammlung schwarzer Autorinnen und Autoren, die alle je einen Moment amerikanischer Geschichte beleuchteten. Die Journalistin Nikole Hannah-Jones schrieb dabei in ihrer Einführung: „Die Vereinigten Staaten sind eine Nation, die auf einem Ideal und auf einer Lüge gegründet ist.“

In dem jetzt beginnenden Kapitel amerikanischer Geschichte, von dem ich hoffe, dass es eines der Aussöhnung wird, „ist es notwendig, dass wir uns  den Poeten, den Schriftstellern und den anderen Künstlern zuwenden“, schrieb neulich der Journalist Chris Hedges. „Sie sind unsere Propheten.“

Liebe Freunde und Kollegen, Ihr seid es, von denen die Romane dieser Gegenwart erwartet  werden – und die Poesie: Beides sind sie literarische Formen, um die Verbrechen unserer Zeit zu benennen, und beide auch ihre Moralität.

William Carlos Williams, der amerikanische Poet, der uns 1963 verlassen hat, sagte: „Es ist schwierig, die Nachrichten aus einem Gedicht zu beziehen, trotzdem aber sterben Menschen jeden Tag erbärmlich aus Mangel an dem, was in ihnen zu finden ist.“

Bitte schreiben Sie von der Wahrheit, die die Tatsachen erleuchtet. Bitte schreiben Sie im Geiste von Anna Andrejewna Achmatowa, die 1966 von uns ging. Sie schrieb in der Zeit der größten Verbrechen Stalins, ihre Worte boten der Tyrannei die Stirn.

Weichen Sie Ihrer Verantwortung nicht aus. Seien Sie wahre Chronisten unserer Zeit, seien Sie Künstler, die Hoffnung machen können in einer Welt, die verrückt geworden ist. 

Kultur in Zeiten der Bedrängnis ist kein Luxus. Sie ist ein Rettungsboot.

Thomas Adcock,
für KrimisMachen 4 übersetzt von Alf Mayer. Die Langfassung dieser Rede gibt es nebenan in dieser CrimeMag-Ausgabe im amerikanischen Original.

Thomas Adcocks Essays bei CulturMag hier.

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