Bruch im Biographieren Ein Leseheft über die polnische Auschwitz- und Buchenwald-Überlebende Alina Dąbrowska, erstellt von Studierenden aus Jena und Warschau, wird zum Zeugnis des Verlusts von kommunikativem Gedächtnis. Umso wichtiger ist, dass und wie diese Broschüre gelesen wird. ‚Sto lat, sto lat – niech żyje, żyje nam‘, singt man in Polen zum Geburtstag: Hundert Jahre alt mögest du werden. Alina Dąbrowska, geborene Bartoszek, Widerstandskämpferin aus Pabienice bei Łódż, der nach ihrer Verhaftung und Deportation nach Auschwitz die Häftlingsnummer 44165 eintätowiert wurde und die Birkenau ebenso wie die Todesmärsche in Außenlager der KZs
Read More Die Art, sich zu geben Fritz W. Kramers klammheimliche Erkundung von Kunsthochschüler:innen verzichtet am Ende auf Feldforschung und Hochschullaborstudien. Der Wechsel in andere Textgenres als das ethnografische ist auffällig, unumgänglich – und eine Kunst für sich. – Von Bruno Arich-Gerz. Ort: Die Hochschule für bildende Künste (HfbK) in Hamburg, das ‚Lerchenfeld‘. Zeit: 1989 bis 2007. Handlung: Fritz W. Kramer, ein akademisches Allroundtalent, wechselt seine Wissenschaftsdisziplin und den Wirkungskreis. Er kehrt von ethnologischen Studien bei den Nuba im Sudan heim in die Metropole, wird Professor und unterrichtet Kunsthochschüler:innen. Er begreift, die
Read More Bettenwechsel Zu Amir Hassan Cheheltans „Der Zirkel der Literaturfreunde„. Bettenwechsel im Heinrich Böll-Haus in Langenbroich in der Eifel. Seit 1991 finden hier Künstler:innen und insbesondere Schriftsteller:innen einen Ort zum Schaffen oder Schreiben, die in ihren Heimaten geschnitten, totgeschwiegen, verfolgt oder mit dem Leben bedroht werden. 1974 beherbergte das Haus einen russischen Literaten von Weltrang; Heinrich Böll hatte dafür gesorgt, dass Alexander Solschenyzin nach seiner Ausbürgerung aus der UdSSR hier Unterkunft fand. Wer als nächstes einzieht, wird sich weisen. Bedrängte und gefährdete Künstler:innen gibt es leider immer noch mehr als genug. Ausziehen
Read More Vom Meer ans Land Mit tiefschichtigen Bildern und Gedichten widmet sich René Böll der Evolution von Tieren und Menschen in Zeiten von anthropogenem Klimawandel und der drohenden Unumkehrbarkeit menschlichen Fehlhandelns. – Von Bruno Arich-Gerz. Wenn Geowissenschaftler auf ihren Gegenstand, die Erde und ihr Gewordensein blicken, messen sie ihn gern in der très longue durée von Zeitaltern aus: Oberdevon, Eiszeitalter, Holozän und das Anthropozän als die vom Menschen beeinflusste (und beschädigte) Ära der Gegenwart. Diesen extrem langen Verlauf bildkünstlerisch nachzuempfinden und dabei ein Zeichen gegen den drohenden Verlust der Lebenswertigkeit und, wenn nicht
Read More In der Verlustzone Namibische Perspektiven auf die DDR und die Volksrepublik Polen – von Bruno Arich-Gerz Der DDR und der Volksrepublik Polen trauern heute nur noch verschrobene Ostalgiker, Kommunismus-Apologeten und ehemalige Parteifunktionäre der SED oder der PZPR (der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei) nach. Als Verlust begreift außer ihnen niemand mehr das Ende der beiden von der Sowjetunion am Gängelband gehaltenen Staaten. Könnte man meinen. Und damit irren, denn dem gängigen Narrativ zweier in den 1980er Jahren zunehmend in die Defensive gedrängten, von Oppositionsbewegungen angefochtenen und angesichts einer defizitären Versorgungslage mit Legitimationsproblemen
Read More Posted On September 5, 2015By Bruno Arich-GerzIn Bücher, Litmag
Von Trillaphon und Tralfamadore „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“: David Foster Wallaces Porträt des Künstlers als junger Depressiver erscheint auf Deutsch. In der Übersetzung des kongenialen Ulrich Blumenbach fundiert das Büchlein die hiesige Rezeption des US-Schriftstellers als pathologischer Fall. Ob das angemessen ist oder nicht, sei mal dahingestellt, meint Bruno Arich-Gerz. Helden sterben jung, heißt es. Stars auch, und oft findet sich eine tragische Note hinter dem Verscheiden: siehe Michael Jackson, siehe Elvis und Kurt, Janis, Jimi und Jim. Im Showbusiness wird dann schnell die zweite Stufe
Read More Von Germanisten und Gebeinen – Bernhard Jaumann wird akademisch nobilitiert und legt mit „Der lange Schatten“ seinen dritten Roman mit Schauplatz Namibia vor. Genauer hat sich das Treiben der Germanistik und den neuen Roman von Jaumann Bruno Arich-Gerz angeschaut, der sich als Literaturwissenschaftlicher auch in diesen Gegenden herumtreibt. Bernhard Jaumann, Krimipreisträger 2011 mit einem Faible für namibische Schauplätze und einem besonderen Gespür für deutsch-südwestafrikanische Problemlagen, hat es geschafft. Gleich zweimal widmete sich im noch jungen Jahr 2015 die Germanistik dem Prosawerk des eher leise daherkommenden Vertreters der Sparte Spannungsliteratur. In
Read More Posted On Februar 4, 2015By Bruno Arich-GerzIn Bücher, Litmag
„Gut, dass Deutschland nach 10 Uhr abends bis zum Morgen schläft“. Die Erinnerungen des ukrainischen Zwangsarbeiters Iwan Tkatsch liegen jetzt in deutscher Übersetzung vor. Sie sind damit mehr als nur intergenerationaler Samisdat. Von Bruno Arich-Gerz. Ungleich verteilt ist zwischen dem Westen und dem Osten Europas Vieles. Das Maß und der Grad an Demokratie zum Beispiel, das an herrschendem Turbokapitalismus oder das an authentisch empfundener Zugehörigkeit oder Fremdeln mit Kerneuropa, vulgo der EU. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der in Osteuropa Großer Vaterländischer Krieg hieß und bisweilen noch heißt, gibt
Read More Posted On November 26, 2014By Bruno Arich-GerzIn Bücher, Litmag
Der Geruch des Rheines. Eine Sammlung aus Texten, replizierten Originaldokumenten und Bildzeugnissen über das komplizierte Verhältnis von Heinrich Böll zu Köln animiert dazu, die Ansichten eines Literaturnobelpreisträgers mal wieder aus dem Bücherregal zu ziehen. Vor allem die Domstädter selbst könnten sich verwundert die Augen reiben. Von Bruno Arich-Gerz Bei „Böll und Köln“, mutmaßte Werner Koch 1979 in einem Gespräch mit dem Literaturnobelpreisträger, das sich wiederabgedruckt in dem soeben erschienenen Text- und Bildband „Köln gibt‘s schon, aber es ist ein Traum“ findet, liegen die Dinge anders als bei „Grass und Danzig“
Read More The Bitches and Pitches of Bochum – Lucie Flebbes Ruhrpott-Fußball-Krimi „Tödlicher Kick“ überzeugt mit zeitgemäßem Plot und den posttraumatischen Macken einer Jungdetektivin. Eine Rezension von Bruno Arich-Gerz. Es gibt wahrlich kleinere Herausforderungen als die eines Regiokrimis, der wie Lucie Flebbes „Tödlicher Kick“ mit einem Fußballspiel des VfL Bochum aufmacht. Den etwas anderen Ruhrpott-Verein und seine treue Anhängerschaft kennzeichnen schließlich seit Jahren seine einzigartige Folklorisierung und Verkulturindustrialisierung. Man denke an Frank Goosen, an das wunderbare Internet-TV-Serienformat „So ist Fußball“ oder die akribisch zusammengetragenen Dönekens des noch viel wunderbareren Ben Redelings. Da kommt
Read More Von Bürokraten in Uniform und Fernkompetenz In „Sociologus“, der Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie, werden die staatlichen Gewaltspezialisten Westafrikas befeldforscht. Bruno Arich-Gerz hat sich durch Hardcore-Wissenschaft zum Thema „Gewalt“ gefräst – Erkenntnis gibt es nicht für lau. Wenn sich ein deutsches Fachjournal nach zwölf Jahren der wissenschaftsbetrieblichen Gleichschaltung 1951 als Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie neugründet und dabei programmatisch anknüpft an die Zeit vor 1933, dann darf man schon mal stutzen. Was trieb die Zeitschrift mit dem Hausnamen Sociologus bitteschön in den Nazijahren? Die Antwort fällt unspektakulär aus:
Read More „Das kriegt der blödeste Rumäne hin“ Wolfgang Schorlaus Banditen tummeln sich diesmal in der Fleischbranche: „Am zwöften Tag“ heißt der Roman, den Bruno Arich-Gerz für Sie gelesen hat … Den Familienbetrieb im Oldenburgischen gibt es seit drei Generationen, die Probleme erst seit ein paar Jahren. Die Schweine- und Putenmästerei läuft trotz all der Futterzusätze der pharmazeutischen Art nicht rund. Die Kapitulation vor den ganz großen Ausbeinern der Branche – denen, die nicht nur ihr Schlachtvieh ausnehmen, sondern auch am Markt verdrängungswettbewerblich zulangen – liegt nahe. Also nimmt man eine Auszeit,
Read More Großnarrative Reinigungsarbeiten – Der dreizehnte Band der Zeitschrift für Kulturwissenschaften wischt mit Bruno Latour den etablierten Modernebegriff durch. Bruno Arich-Gerz stellt die Publikation in unserer neuen Rubrik „journaille. der zeitschriftencheck“ vor. Seit 2007 gibt es die ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften, die sich guten Gewissens bezeichnen lässt als ein fachzeitschriftgewordener Cultural Turn in den deutschsprachigen Geistes- und Sozialwissenschaften. Dabei ermöglichte die namensgebende Wende („turn“) den Debatten in den genannten Disziplinen und der ZfK selbst zweierlei. Erstens sorgte sie dafür, dass die starren und oftmals blickverengenden Perspektivierungen des Gegenstands, dem man
Read More The boring fifties? The roaring fifties! In „treibhaus“, dem Jahrbuch zur deutschsprachigen Literatur der fünfziger Jahre, knöpfen sich akribische Autorenphilologen eine Dekade vor. Bruno Arich-Gerz stellt die Publikation in unserer neuen Rubrik „journaille. der zeitschriftencheck“ vor. Mit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts assoziiert man vielerorts Mief und Muff, Langeweile und Stillstand, dazu Adenaueranästhesie und Restauration in der BRD und grimmige Selbstlegitimation durch fragwürdige Verfahren wie das Niederknüppeln von Volksaufständen in der DDR. Auch auf literarischem Gebiet, so die landläufige Ansicht, ging es eher verschnarcht zu. Dass dem nicht so
Read More Spargelstechen auf der Wellness-Finca ‒ Andreas Schnabels fünfter Mallorcakrimi leidet an Seitenstrangangina, überzeugt aber mit Wortwitz und der Lust am fantasievoll-perversen Verbrechen. Eine Besprechung von Bruno Arich-Gerz. Er war der schmächtigste und jüngste der acht Söhne des LPG-Vorsitzenden und Schweinewirtes und hatte selbst als Kind niemals gelächelt. Mit dreizehn durfte er zum ersten Mal selbst schlachten. Das war natürlich inoffiziell. Die LPG produzierte ja fast ausschließlich für West-Devisen. „Wilhelms Quieker werden nicht geschlachtet, sondern gesprengt“, hieß es überall. „Das Fleisch fliegt in den Westen, die Knochen nach Polen, und die Scheiße
Read More Longlisted – Sharon Kasandas „Dante International“ zwischen „Pamela“ reloaded und solidem Krimidebüt. „Dante International“, der Debütoman von Sharon Kasanda, hatte es Ende 2012 zur Freude der jungen namibischen Autorin und ihres Verlags Wordweaver Publishing auf die Longlist für den Commonwealth Book Prize geschafft. Das mit der Freude war nachvollziehbar, denn englischsprachige Literatur aus dem entkolonialisierten Namibia hat es nicht eben einfach auf dem internationalen Markt. Bis auf Neshani Andreas’ mit vielen postkolonialtheoretischen Versatzstücken angereichertem Subalternen-Roman „Purple Violet of Oshaantu“, der vom renommierten Heinemann Verlag herausgegeben wird, gibt es weit und
Read More Reviewing the Reviews – Wissenschaftliche Zeitschriften leben von und streben nach Renommee. Sie kosten pro Abonnement nicht eben wenig und adressieren die verschiedensten Scientific Communities. journaille. der zeitschriftencheck schaut sich solche Publikationen mal genauer an. Und erklärt kurz, warum: Die in „Journals“, „Reviews“, Vierteljahresschriften oder Jahrbuchreihen veröffentlichten Impulse und losgetretenen Debatten müssen Qualitätsstandards entsprechen, für die idealerweise zwei Institutionen zugleich bürgen (und sonst keine): die Herausgeber/innen und das Fachpublikum. Die Editors entscheiden darüber, was publiziert werden soll – und was nicht. Das Publikum ist Indikator von Relevanz und Wichtigkeit. Es
Read More Schimmelreiter und Entwicklungspolitik – Die „Acta Germanica“ aus dem südlichen Afrika wagt den Spagat zwischen Anspruchsgermanistik und deutschphilologischen Area Studies. Bruno Arich-Gerz stellt das Jahrbuch in unserer neuen Rubrik „journaille. der zeitschriftencheck“ vor. Seit 1966 gibt es die „Acta Germanica“, das Jahrbuch des Germanistenverbandes im Südlichen Afrika (SAGV). Nach ein paar Doppeljahrgängen zwischendrin erschienen inzwischen vierzig Ausgaben der von Karl Tober begründeten und aktuell von Carlotta von Maltzan (Stellenbosch) in Zusammenarbeit mit südafrikanischen Kolleginnen und unterstützt von einem (inter)nationalen Beirat herausgegebenen Zeitschrift. Ein Journal mit vorzeigbarem Ranking und entsprechendem Impact-
Read More Posted On November 24, 2012By Bruno Arich-GerzIn Mitarbeiter
Bruno Arich-Gerz, ist 1966 geboren, hat in Köln Anglistik, Spanisch und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert. Promotion in Konstanz über Thomas Pynchon, danach u.a. Juniorprofessor an der TU Darmstadt. Er arbeitet hin und wieder über Literatur zu, aus und über Namibia, hat Spaß am Fußballspiel und schreibt Kolumnen u.a. für Fussifreunde, Der Tödliche Pass und CulturMag. Primärliterarisches: Alle Böcke beißen … (2010), Abigag (Frühjahr 2013). Zu den CULTurMAG-Beiträgen von Bruno Arich-Gerz. Bruno Arich-Gerz bei Facebook.
Read More Wittgenstein und die Stubentiger – Paul-Hermann Gruners fulminanter Roman über alles, was in Darmstadt und der sonstigen Welt der Fall ist. Von Bruno Arich-Gerz Katzen und Kriminaldelikte, da kommt’s einem eigentlich hoch. Nicht nur, weil so ziemlich jeder Stubentiger seinen Hang zum serial killer an Mäusen auslebt. Auch das Rollenfach Opfer und sogar den Rang der Ko-Ermittler hat sich das Katzenvolk in der U- und E-Literatur längst erobert: Man denke nur an Akif Pirinçci und Rita Mae Brown, oder, Stichwort Opfer, an die sadistischen Katzenquälereien des gestörten Randy Lenz in
Read More Kölscher Petrocelli – Werner Geismars Bruno Böllmann-Roman „Kölner Blues“ zwischen Regio-Krimi und hinreißender Anwalts-Sitcom. Ein Plädoyer für intelligente Unterhaltung, durchaus auch mit regionalem Bezug von Bruno Arich-Gerz. Was bleibt vom Münsteraner Tatort noch übrig, subtrahiert man die Kabbeleien zwischen Thiel, dem Bullen und Boerne, dem kongenialen Gerichtsmediziner mit den vielen Ticks? Antwort: kaum was. Und nichts, was noch sonderlich erwähnenswert wäre. Kein besonders perfider Serienmörder, nur Spurenelemente von Münsterland, sonst nix. Was bleibt im Gedächtnis kleben von der Fall für Zwei-Serie aus der TV-Anstalt, die von sich selbst behauptet, dass
Read More Neues aus dem Minutiösitätenkabinett – Bruno Arich-Gerz über Ralf Friedrichs‘ „The Lesson Today“ und das zeitdeckende Erzählen über besondere Tage. „Es ist 19:41 Uhr deutscher Zeit, als Freddie Mercury sich an ein bereitstehendes Klavier setzt und ein, zwei Töne anspielt, ein wenig am Verstärker einstellt und dann die ersten erkennbaren Laute erklingen lässt. Das Publikum in Wembley jubelt, hinter mir raunt man nur ‚Bohemian Rhapsody‘ … ‘Mama, life had just begun, but now I’ve gone and thrown it all away’. Das folgende ‚Mamaaaa, uhuhuhuhuuuu‘ wird nicht nur von den Zuschauern
Read More Lobhudeln ist wahrlich nicht das Redaktionsprogramm von CrimeMag. Begeisterung über gute Bücher und gute Autoren zu featuren, allerdings schon. Und wenn dabei ein feiner analytischer Text herauskommt, der die Begeisterung begründet, dann ist von Lobhudeln nur noch ironisch die Rede. Bruno Arich-Gerz zeigt anhand der Namibia-Romane von Bernhard Jaumann, wie das geht … Literatur & Lobhudeln Im ausstoßintensiven Geschäft der Kriminalschriftstellerei, lautet ein Klischee, unternehmen Autoren selten Ausflüge in literarische Höhenkammlagen. Psychologisch überzeugende Figurenzeichnungen oder die multifunktional angelegte Nebenfigur, die in einem raffiniert als impliziter Informant für handlungsrelevante Milieuzusammenhänge dient,
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