Geschrieben am 1. September 2019 von für Crimemag, CrimeMag September 2019

Thomas Adcock, interviewt von Thomas Wörtche

Thomas Adcock

„Ein Romancier muss die Wohlhabenden verstören“

Ein Interview von 1994 – als Begrüßung des Ehrengasts von KrimisMachen 4, vom 27. – 29. September 2019 in Köln

CrimeMag-Lesern ist Thomas Adcock mit seinen zuverlässig jeden Monat gelieferten Essays zum Stand der Dinge in den USA wohl vertraut. Aber kennt man ihn auch noch als Autor von Kriminalromanen? Vier von ihnen sind – damals hoch beachtet zwischen 1989 und 1995 in Deutschland erschienen (auf Deutsch bei Spraybooks vorrätig). Das Interview von Thomas Wörtche aus dem Jahr 1994 macht geradezu mustergültig die Haltung des Romanciers Adcock klar. – Nebenan übrigens in dieser Ausgabe eine Überraschung: Thomas Adcock hat gerade in diesen Tagen seinen neuen Roman „Painted Devils“ abgeschlossen und wir präsentieren Ihnen exklusiv einen Auszug. Jetzt aber zurück ins Jahr 1994:

Thomas Wörtche: Mr. Adcock, Sie waren jahrelang Polizeireporter, bevor Sie angefangen haben, Romane zu schreiben. Warum haben Sie die Seite gewechselt?

Thomas Adcock: Ich glaube, daß das ein ganz normaler Fortschritt ist. Ich möchte es mal so beschreiben – eine typische Alltagssituation als Journalist: Ein Redakteur tobt vor meinem Schreibtisch herum und brüllt mich an: Schnell, mach dich vom Acker, Downtown in dem und dem Haus hat ein Kerl seine Frau ermordet. Er hat sie übers ganze Haus verteilt, und sie waren 24 jahre verheiratet. Jetzt hat er sie einfach umgebracht. Also mache ich den Job, gehe zu diesem Haus, mache die Story über den Mann, der seine Frau nach 24 Jahren Ehe umgebracht hat. Und es ist wieder mal dasselbe. Die Nachbarn sind wieder mal völlig überrascht – sie waren so ein nettes, ruhiges Paar, wie hat das nur passieren können? Und so weiter und so fort. Aber das war natürlich nicht die wirkliche Geschichte. Die wirkliche Geschichte war, daß der Mann vor 25 Jahren diese Frau so geliebt hat, daß er sie gebeten hat, ihn zu heiraten. 25 Jahre später haßt er sie so, daß er das Tranchiermesser nimmt, das er ihr zu Weihnachten geschenkt hat, und sie in kleine Würfelchen zerschnitzelt. Wie kann man aber erzählen, was während dieser 25 Jahren passiert ist? Denn das ist die wirkliche Story. Als Romancier kann ich diese 25 Jahre vielleicht erfinden und damit näher an die Wahrheit rankommen, als mit einem Zeitungsartikel für den nächsten Tag. Insofern war dieser Schritt für mich ganz natürlich.

Thomas Wörtche: Gilt auch für politische Themen, daß Sie in einem Roman mehr sagen können als in einem Artikel?

Thomas Adcock: Natürlich. Zum Beispiel: Während des letzten Wahlkampfs waren bekanntlich drei Kandidaten angetreten: Bill Clinton, George Bush und Ross Perot. Als Journalist wäre ich verpflichtet gewesen, sie wahrheitsgemäß zu zitieren. Glauben Sie vielleicht, das wäre die wirkliche Story gewesen? Ich nicht. Aber in einem Roman kann ich eine Figur sagen lassen: Dieser Wahlkampf, das sind doch nur drei reiche Männer, die sich darum balgen, wer der König der Reichen wird. Und das wiederum kommt der Wahrheit bedeutend näher als alle Zitate, die ein Reporter aufschreiben muß. Zitate, die diese drei Männer von sich gegeben haben, die andere Männer für sie aufgeschrieben haben. Ich glaube nicht, daß Tatsachen notwendigerweise für sich selbst sprechen. Manchmal braucht man eine andere Dimension, und Fiktion ist diese Dimension, die möglicherweise näher an die Wahrheit heranführt.

Thomas Wörtche: Verstehen Sie sich selbst als „Kriminalschriftsteller“, oder als Schriftsteller, der nun mal über Kriminalität schreibt.

Thomas Adcock: Beides. Beinahe wäre ich sogar Polizist geworden, als ich noch jung war. Dummerweise wurde ich dann doch Zeitungsreporter. Ich habe über eine ganze Menge Verbrechen berichtet, aber auch über Politik. Mein Spezialgebiet über lange Jahre war die Extreme Rechte in den USA. Ich schreibe gern über Cops und Detectives, aber genauso gerne schreibe ich über die Conditio Humana. Weil aber Polizisten an den Rändern leben, an den Extremen der Conditio Humana, sind sie gute Vehikel, Geschichten über Menschen zu erzählen. Besonders in meiner Gesellschaft, besonders in meiner Stadt, New York City, wo es bekanntlich sehr viel Verbrechen gibt und sehr viel Gewalt. Damit hat die Polizei zu tun, das ist das Leben in dieser Stadt. Viel Verbrechen, viel Gewalt – und deswegen muß ich darüber schreiben.

Thomas Wörtche: Heißt das, daß Ihre Romane nicht den Formeln für Kriminalromane folgen, sondern den „Formeln“ des richtigen Lebens da draußen?

Thomas Adcock: Ja, ich glaube schon. Es gibt viele Figuren in meinen Romanen, die keine Polizisten sind. Mein Serienheld, der Polizist Neil Hockaday hat viele Freunde, die nirgendwo dazu gehören, die buchstäblich auf der Straße leben. Seine Freunde tendieren gerade nicht dazu, auch Polizisten zu sein.

Thomas Wörtche: New York ist eine sehr gewalttätige Stadt, aber Sie malen die Gewalt nicht sehr breit aus. Haben Sie denn keinen Spaß an sorgfältig ausgepinselten Massakern?

Thomas Adcock: Nö, mich interessiert, warum Leute gewalttätig werden. Ich mache mir ernsthafte Sorgen über meine amerikanische Gesellschaft. Wir, die ganz normalen Leute, benutzen Gewalt, um Probleme zu lösen. Das impliziert auch, daß wir im ganz normalen Umgang untereinander sehr schnell bereit sind, Gewalt einzusetzen. Weltweit sind wir sehr schnell bereit, Gewalt einzusetzen. Ich persönlich finde das sehr verstörend, und als Amerikaner, dem etwas an seiner Regierung und seiner Kultur liegt, erst recht. Wir müssen dringend wissen, wie wir auf dieses Level von Gewalt gekommen sind. Und mit meinen bescheidenen Möglichkeiten möchte ich genau das herausfinden. Warum bringt diese Figur jemanden um? Und ich muß feststellen, daß eines der verbreitesten Verbrechen, das wir in unserer Kultur haben, nämlich die Armut, das größte Verbrechen überhaupt ist. Und deswegen beschäftige ich mich immer wieder damit.

Thomas Wörtche: Ein einzelnes Verbrechen ist also nicht das große Skandalon für Sie?

Thomas Adcock: Jedes einzelne Verbrechen ist ein Symptom. Ich lebe in einer Gegend von New York City, die von Kriminellen nur so wimmelt. Wenn ich aus meiner Haustür trete, da sind sie: Mörder, Gangster, Diebe, Räuber. An jeder Ecke sehe ich sie. Und diese Leute könnten sofort die Plätze mit denen tauschen, die uns in Washington regieren, und niemand würde einen Unterschied bemerken. Und deswegen beschreibe ich das Verbrechen, das nach unten durchgesickert ist. Die größten Verbrechen werden ganz oben begangen, und dann tropft es sozusagen nach unten, Schritt für Schritt, bis es auf der Straße angekommen ist. Das Verbrechen auf der Straße können wir alle leicht bemerken, aber als Schriftsteller möchte ich die Beziehung zwischen einem Straßenverbrechen und einem weit größeren Verbrechen herstellen. Und das ist immer politisch oder ökonomisch, und wird von den wichtigen Leuten oben begangen.

Thomas Wörtche: Sie sind ein Spaziergänger, ein Flaneur auf den Straßen von New York City. Sind Sie auch ein Chronist dieser Stadt?

Thomas Adcock: Meinen Sie, daß New York City meine Hauptfigur ist?

Thomas Wörtche: Warum nicht? Geschichte ist schließlich wichtig in Ihren Romanen.

Thomas Adcock: Hier ist auch eine ganze Menge passiert…

Thomas Wörtche: Und Sie erzählen die Geschichte einzelner Straßen, einzelner Häuser. Ihre Figuren haben Geschichten bis zurück in die 40er, 50er Jahre…

Thomas Adcock: Geschichte ist nie vorbei. Geschichte werden wir nie los. Wenn wir das nicht kapieren und wenn wir nicht aufpassen, daß wir nicht die gleichen Fehler wieder machen, und wenn wir versäumen, Erfolge zu wiederholen, dann kriegen wir eine Menge Ärger. Deswegen muß und will ich immer wieder zurückschauen. Eine ganze Menge Dinge waren mal viel, viel besser in dieser Stadt, als ich noch klein war. Und vieles war damals natürlich viel, viel schlechter. Diese Stadt verändert sich blitzschnell und andauernd, man muß sie als Figur benutzen, man muß wissen, wie sie einmal war. In der Subway habe ich ein riesiges Plakat gesehen, wo draufstand, daß die New Yorker Polizei die Kriminalität um 40% heruntergedrückt hat…

New York, 1932

Thomas Wörtche: Ist das Propaganda?

Thomas Adcock: Ich glaube, ja. Irgendwie haben sie es wohl geschafft, eine bestimmte Sorte Kriminalität herunterzubekommen, dafür begeht die Polizei selbst mehr Verbrechen als je zuvor. Das ist eine Tatsache. Gerade gibt es wieder einen Ausschuß zur Bekämpfung der Polizei-Kriminalität. Kriminalität und Korruption bei der Polizei sind auf einem gigantischen Niveau. Wenn die Straßenkriminalität sinkt, dann können Sie sicher sein, daß die Cop-Kriminalität steigt. Das binden sie einem natürlich nicht auf die Nase.

Thomas Wörtche: Hat der „Prince-of-the-City“-Skandal nichts verändert?

Thomas Adcock: Das war damals die NAP-Kommision. So alle zwanzig Jahre in der Geschichte des New York Police Department – wir reden immerhin über ungefähr 350 Jahre – erreicht das Ausmaß der Korruption einen solchen kritischen Wert, daß man mal einen Untersuchungsausschuß einsetzt. Man beschließt, daß man jetzt aber mal was unternehmen muß. Dann wird’s für ein paar Jahre ein bißchen besser, und dann geht’s ganz langsam wieder von vorne los und wird schlimmer und schlimmer bis zum nächsten kritischen Punkt. Und da sind wir jetzt gerade wieder.

Thomas Wörtche: Ihre Hauptfigur, Neil Hockaday, ist ein Detective, der grundsätzlich alleine arbeitet. Ist das so wirklich möglich?

Thomas Adcock: Ich habe ihn erstmal erfunden, und später habe ich herausgefunden, daß es tatsächlich ein paar Detectives hier gibt, die alleine arbeiten. Ich habe eine kleine Einheit erfunden, zu der Hockaday gehört. In der Realität hat man so eine ähnliche Einheit gerade gegründet. Sie nennt sich „Major Cases“, und die Detectives dort kümmern sich um Fälle, die zu bearbeiten viel Zeit erfordert. Und die arbeiten meistens ganz alleine. So gesehen könnte es Neil Hockaday wirklich geben.

Thomas Wörtche: Die Gegend, wo er arbeitet, heißt Hell’s Kitchen, und wir sitzen gerade mitten drin…

Thomas Adcock: Schauen wir aus meinem Fenster nach Westen. Da steht ein Hotel, das vor ungefähr zehn Jahren von Prostituierten benutzt wurde, und ein netter Freier tauchte dort auf, dessen Spezialität es war, den Prostituierten die Köpfe abzuhacken. Die hat er in den Betten zurückgelassen, oder hat sie in anderen Hotels in den Betten dort deponiert. Das Fenster nach Süden: Da ist Ödland, was bei den Grundstückspreisen in Manhattan erstaunlich ist. Auf dieser Straße residierte einst Rosy Rosenberg, der Kredithai des Viertels. Für ihn wurde eine Geburtstagsparty ausgerichtet und – Überraschung, Überraschung – die Westies, das war die irische Gang, die das Viertel damals beherrschte, schnitten ihm den Kopf ab. Darüber war Rosenbergs Witwe ziemlich sauer, so daß sie Mickey Featherstone anheuerte, der zwar auch zu den Westies gehörte, aber nichts dagegen hatte, die umzulegen, die Rosenbergs Kopf abgehackt hatten. Mickey Featherstone saß gerade in seiner Stammkneipe, die war da, wo jetzt das leere Grundstück ist, als ein unglaublich dummer Kerl hereinkam, der keine Ahnung hatte, wer Mickey Featherstone war. Mickey Featherstone sah ganz friedlich und gemütlich aus, ein kleiner Mann mit einer dünnen hohen Stimme, überhaupt nicht gefährlich. Der Dummkopf hat ein paar Drinks genommen und dann Mickey Featherstone dumm angequatscht. Mickey hat eine Pistole rausgezogen und den Typ sofort totgeschossen. Das hat der Witwe von Rosenberg gar nicht gefallen und sie hat die Bar, die das Hauptquartier des Westies war, höchstpersönlich hochgesprengt, daß sie bis nach New Jersey geflogen ist und acht Leute umgekommen sind. Und dann wollte da niemand mehr bauen. So ist das hier in der Gegend. Jeder Quadratmeter hat solche Stories zu bieten. Das ist der geschichtliche Untergrund hier.

Thomas Wörtche: In Ihrem Roman „Hell’s Kitchen“ spielen die Obdachlosen eine große Rolle. Ich habe das so verstanden, daß Sie ihnen eine Stimme geben wollten.

Thomas Adcock: Das wollte ich auch. Ich kapiere schon gut, warum niemand die Obdachlosen hören und warum niemand an sie als menschliche Wesen denken will. Weil jeder von uns durch ein paar zufällige Zuckungen des Schicksals genau da sein könnte, wo sie sind. Und deswegen haben wir Angst vor ihnen. Und wenn man vor etwas Angst hat, dann ignoriert man es. Man will, daß es überhaupt nicht da ist. Es muß etwas sehr Fremdartiges sein, denn sonst muß man sich über sich selbst Sorgen machen.

Thomas Wörtche: Wieviel Obdachlose gibt es in New York City? Weiß man das überhaupt genau?

Thomas Adcock: Es gibt Schätzungen von 70.000 bis 150.000 Menschen, die dauernd obdachlos sind.

Thomas Wörtche: Das ist politische Macht….

Thomas Adcock: Es gibt Tendenzen, sie als Wähler zu organisieren. Es gab Prozesse, in denen sich Obdachlose das Stimmrecht erstritten haben. Und das ergibt schon politische Macht. Obdachlose setzen sich ja sehr unterschiedlich zusammen. Natürlich ein paar sind einfach Verrückte, ein paar sind Drogenabhängige, andere arbeiten jeden Tag wie jedermann, alle, glaube ich wenigstens, hätten gerne eine Wohnung.

Thomas Wörtche: Haben Sie unter ihnen Leser?

Thomas Adcock: Ich weiß, daß das so ist. 

Thomas Wörtche: Kriegen Sie auch Reaktionen?

Thomas Adcock: Klar. Die interessantesten. Das zeigt wieder die Ignoranz gegenüber den Obdachlosen. Ich habe versucht, ihnen sehr intelligente Stimmen zu geben, weil es sehr viele sehr intelligente Obdachlose gibt. Das ist natürlich ein hartes Leben, das einen um den Verstand bringen kann, aber sehr viele sind und bleiben sehr intelligent und eloquent. Teile des Feuilletons sind über mich hergefallen und haben hämisch angemerkt: Was wissen Obdachlose schon über das Immobiliengeschäft? Die Antwort ist ganz einfach: Sie sind Experten, sie wissen alles darüber. Aber selbst das will man einfach nicht verstehen. Leute, die sehr auskömmlich leben, wollen oder können Leute nicht verstehen, denen es materiell nicht gut geht.

Thomas Wörtche: Wahrscheinlich empfinden sie sie als böse und gefährlich.

Thomas Adcock: Die Presse könnte viel mehr bewirken. Das tut sie aber nicht. Als Romancier kann ich da eher eingreifen. Und das ist der Punkt: Ich denke, es ist mein Job als Romancier, die Wohlhabenden zu verstören.

© Thomas Wörtche, 1994 (Freitag) – mit Dank an die archivarischen und editorischen Qualitäten von Jan Christian Schmidt und seinem kaliber .38.

Thomas Adcock, geb. 1947 in Detroit, läßt seinen Serien-Helden, den Detective Neil Hockaday meistens zu Fuß durch die West Side von New York streifen, vornehmlich durch Hell’s Kitchen. Nach nur drei Romanen hat er sich bei Kritik und Lesern eine beachtliche Reputation als kunstvoller Chronist des alltäglichen Elends von New York City erworben.

Thomas Adock bei CulturBooks.
Seine Romane auf Deutsch bei Spraybooks, Köln.

Tags : ,