Geschrieben am 31. Dezember 2021 von für Highlights, Highlights 2021, News

Markus Pohlmeyer: Variatio

Nach dem Hören von Beethovens Diabelli-Variationen, interpretiert von Igor Levit

1
„Hänschen klein
Ging allein
In die weite Welt hinein“

2
Seltsam,
Wie dies schier
Unendliche All
Sich so klein macht …
Was?
Ich bin nur ein
Stadtmäuschen
In irgendeinem Hinterhof
Der Galaxis.
Träume mich zu den
Sternen, meine
Seele wird weit,
Bricht auf.
Neugierig, mutig,
Ein wenig versöhnt.
Stolz darauf,
Nicht den Speer
Aufgehoben zu haben,
Sondern den Vers.
Der mich fand,
Als ich alleine war,
All-eins.

3
Oh weite, weite Welt:
So wünschenswert?
Wild, wüst und
Wahnsinnig du,
Aber durchaus
Nicht uninteressant.

4
Alleine geh’n
Durch
Diese Corona-Zeit
Die Nacht mit
Ihren kalten
Sternen und
Verstummten Fernen
Die weite Welt da unten
Sie ist
Eng geworden

5
Angst
Kriecht durch den Alltag
Hinter die Masken:
Kenne ich noch
Dein Gesicht?

6
Zu viele meinen
Und reimen
Sich etwas zurecht,
Meinen,
Es klopfe ein Specht.
Und schon fällt
Dieses Gedicht
Über die Welt
Auseinander,
Zerbricht.
Tock tock tock?
Da da da
DA!
Was wissen
Wir wirklich
Von einander?
Nicht im Netz
Der Illusionen,
Sondern Hier
Und Jetzt?
Ohne Traumfäden:
Nur schwerfälliger Geist,
Nur federleichte Körper.
Und glaubst du,
Sei ehrlich, meine
Reime
Würden zusammen
Etwas halten?

7
Gegen politische Inkompetenz
Und Dummheit der Menschen
Ist jedes noch so raffinierte Virus
Einfach machtlos, einfach 
Machtlos … los, macht weiter so.

8
Hinein, in mich, wie oft ich
Blicke, gehe, rufe ich
In dieser Zeit. Das Innen
Wird immer größer,
Der Rest da draußen?
Die Verwüstungen?
Die Ruinen?
Die Welt?

9
Ich schaue durch ein
Gefrorenes Fenster
Auf vereiste Bäume,
Die im sterbenden Licht
Zu brennen scheinen.

10
Diesen Advent hatte ich
Keine Kerzen angezündet.
Doch da war in diesem
Nicht-Angezündet-Sein
Ruß, war Erinnerung.

11
Odysseus

Im listigen Holzpferd hatte er
Ein kleines Pferdchen aus Holz
Bei sich: Als Glücksbringer
In seiner vergessenen Vaterhand.
Dieses Spielzeug
Wollte er seinem Sohn einst
Schenken. Der, gepflanzt
In einer Furche, inzwischen zum
Baume entsprungen und in die
Weite Welt gegangen,
Um die Geschichte seines
Anfangs zu fingieren.
(Aus Odysseus Hand
Wurde allmählich ein
Speer. Und wieder
Brannte im brennenden
Scheine eine Stadt.)

12
Ein neues Teleskop
(Dezember 2021)

Im Weltall soll bis
Zum Anbeginn
Zurückschauen:
13 Milliarden Jahre
Tief.

Zum Anbeginn
Des Feuers.

[Was ist dagegen schon
Ein Atomendmülllager?
Nur 1 Million Jahre
Lang … Ein Aufflackern
In der Dämmerung?
Hybris von Primaten,
Die selbst nur:
Sternenstaub, vom Regal
Der kosmischen Bibliothek
Gepustet, ein Hauch …]

13
Unserer Wanderer
Ging durch romantische
Wälder und verträumte
Parks, herbstgoldene
Alleen, sang
im Frühling: „Alle Vögel
Sind schon da …“
So wunderbar und
Seltsam, in einer Welt
Singender und bunter
Dinosaurier zu leben.

14
Globalisierte Monster:
Mensch und Viren.
(… also, nicht nur die
Im Internet).
Götterdämmerung für
Pflanzen und Tiere,
Für einen Planeten.
(Aggressive Varianten
Bedrohen wieder einmal
Demokratie und
Pressefreiheit.)

15
Siehe da, eine
Schimpansenhorde jagt
Fleisch. Und Weibchen,
Die nicht untertänig sind,
Werden gezüchtigt. Kommt
Bekannt vor. Oder? Unsere
Idole haben uns weit gebracht.
(Und wie viele hungernde Kinder
Würden in diesem Winter
In jenem Land welchen Götzen geopfert?)

16
Corona ist fürchterlich,
Aber da kam dieses Wesen
Mit einem Speer in der Hand,
Das kann den Ruf seiner Beute
Imitieren und Gefühle und Gesichter,
Das spaltet Atome und Städte.
Und lächelnd in die Kamera
Lächelt es. Hauptsache,
Mit aller Gewalt
Nicht bedeutungslos sein, und
Wenn der Zufall wegegelogen
Werden muss. In seinen Träumen,
Eine Totenmaske aus Wachs und Bienen,
Träumt es von Atom und Speer.

17
Dezember

So spät noch
Eine letzte Rose
Errötend, vergehend, vergessen
Im kalten Winterherz
Klimawandel?
„Es ist ein Ros entsprungen“? 
Was nun?

18
Warum sollte sich ein Wesen,
Das Galaxien schafft oder Universen,
Sich um uns kümmern?
Wir alle sterben alle,
Und wenn wir Glück haben eines
Natürlichen Todes – sonst führt
Der Weg über Katastrophen,
Krankheit oder Massenmörder.
Warum sollte sich ein Universum
Das Götter baut, …?

19
Gott, zu einem Moralisten reduziert,
Zu einem Beamten da oben, der Formalia
Kontrolliert, zu einem Dämon, der um unsere
Seelen und verschlossenen Türen schleicht? Den wir
Mit Weihrauch und Kirchensteuer und
Zwangsneurotischen Wiederholungen besänftigen?
Den wir um jeden Dreck anbetteln und der
Nichts tut – soweit das zu beurteilen wäre?
Das höchste Unterdrückende als
Legitimation für alle Unterdrücker?
Ohne die Evangelien
Müsste ich
Verzweifeln.

20
Apokalypse nach …

Können wir diesem Buch
Ins Gesicht sehen? Die
Dämonen, übersetzt in 0
Und 1, sind freigelassen.
Das Buch, es spiegelt
Unendlich-labyrinthisch
Unsere Schatten, verdrängte,
Sich nach vorne drängelnd,
(Wie bei einer Ladekasse;
Man/frau könnte ja zu kurz
Kommen …) … Syntax-Irrtum:
Hinter unseren Gesichtern.

21
Wunderschön
Venus

Romantische
Abenddämmerung

Funkelnde Lichter
An dunklen Häusern.

22a
Der Mond strahlt
Kälte und Größe
In die schwarze Nacht
Glitzernden Schnees.
Etwas funkelt in mir.

22b
Mit
Meinem Herzen
All-ein
In
Diesem Kosmos
Zu
Hause
In
Meiner wortlosen
Welt
Dichtend

23
Meine kleine Märklin Z
Auf dem Küchentisch
Arrangiert, vor dem
Big Ben aus Lego,
Umrundend einen
Schoko-Nikolaus, dahinter
Elegien und Borges.
Und eine Tasse
Heißen Kaffees.
Tägliche Notfallrationen.

24
Schnee fällt. Stand vor einer
Treppe, die zu einer Schule
Führt. Keine Fußspuren darauf.

25
Beim Arzt.
Sprechstundenhilfe: 
„Herr Dallmeyer!“
Noch einmal, darauf ich: 
„Hier sitzt nur ein
Herr Pohlmeyer.
Denken Sie gerade 
An Kaffee?“

26
Alphabetagamma,
Fuck, ist das griechische
Alphabet lang. Und
Fuck! riefen bestimmt
Die Dinos, als sie
Den Kometen sahen.

27
Film

Der ist aber alt
Die küssen sich
Ohne Masken

28
Hänschen klein
Alle Vögel waren da
Waren da
Starben aus
Ausgerottet
Klein Hänschen
Und die weite Welt
‚Werden bald auch nur
Geschichten sein.‘
Unkt ‘ne Eule.

29
Wunderschön
Jener Abendstern
In romantischer
Dämmerung
Bei funkelnden Lichtern
An dunklen Häusern
Der Mond strahlt
Kälte und Größe
In die weiße Nacht
Schwarzen Schnees
Auf den Dächern mit
Meinem Herzen alleine
In diesem Kosmos
Zu Hause
In einer wortlosen
Welt dichtend

30
Ich denke an die Güte
Vieler Menschen,
Ihre Größe und Liebe,
Ihr Herz und Großmut.
An die Begeisterung
Meiner Lehrer und
Lehrerinnen. Und
Täglich spreche ich
Mit vielen Toten
(Wie würde ich
Dies missen!):
Platon, Hölderlin,
Erinnerte Freunde,
Goethe und Melville;
Sie trösten
Mich: Bach und
Beethoven.
Dann lacht der
Freche Archilochos:
Wirf deine Ängste weg,
Du findest irgendwo
Bessere!
Ein verstorbener Freund:
Mach die Einsamkeit
Zu deiner Geliebten!
Die sehnsüchtige
Sappho klagt durch
Die Äonen,
Ja, auch ich
Durfte lieben – und nichts
Kann das je ändern.

31
In der Krippe ein Kind,
Ein Mann am Kreuz,
Ein Philosoph
In Athens Straßen
Ein Philosoph,
Der, zu Unrecht vergiftet,
Dialog wurde, Gespräch
Unter Suchenden.
Ich hörte von neuen
Schwangerschaften
Und nahm Abschied
Von alten Freunden.
Wer ist es, der mich
Da ansieht?
Laß uns gehen,
Wir wollen uns
Darüber unterhalten.
Gedenke: Lerne
Den Auferstandenen
Kennen und begreife,
Dass Gott mehr ist
Als ein Mensch oder das
Kind in der Krippe.

32
Corona ist wie
Eine Maschine
Die das Beste
Und Schlechteste
Von uns sichtbar
Macht. Respekt
Umso mehr für
Jene, die nicht
Aufgeben, die nicht
Dämonen hinterher
Rennen, welche eine
Weite Welt Herbeilügen,
Oder Schuld vertuschen.
Oder schnell noch
Profit eingefahren.
Sondern die stehen
Und wachen
Am Krankenbett,
In der Verzweiflung,
In Gesprächen,
Zu trösten
Durch Güte und
Wissenschaft
Und Mut.

(Mit zum Besten in den
Letzten Monaten: wir konnten
An der Universität wieder in
Präsenz sein, das gesamte
Semester: Dank an alle,
Die das möglich gemacht haben!
Darum mein Appell: Bitte,
Liebe Politik, denk an die
Jungen Menschen!)

33
Es blüht eine Rose
Im kalten Winter

Die Nacht in ihrer Mitte

Sie wendet neigt sich
Der Hoffnung zu

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Essays – inzwischen an die einhundertvierzig – bei uns hier.

Während der Corona-Pandemie schrieb Markus Pohlmeyer (nicht nur) für uns Gedichte – seine Corona-Zyklen. Sein Poetischer Werkstattbericht zu den „Corona“-Zyklen

Die einzelnen Lieferungen: Teil 1Teil 2Teil 3Teil 4Teil 5Teil 6Teil 7Teil 8Teil 9Teil 10Teil 11Folge 12 hier.
Seine Shut Down Haikus hier.

Rückkehr nach Corona (1) hier. Teil 2 hier.

Im Frühjahr 2021 erschienen: Markus Pohlmeyer: Als ich zu den Sternen ging. Dritter Teil. Die Corona-Zyklen I-VI. Gedichte. Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 22, 1. Aufl., Hamburg 2021.

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