Geschrieben am 1. Juni 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2021, News

Markus Pohlmeyer: Corona 12

„Nun versteh ich den Menschen erst, da ich fern von ihm
und in Einsamkeit lebe!“[1]
Hölderlin

1

Marx – Kierkegaard – Freud: Personae

Der Kierkegaard-Forscher K. Nordentoft habe sich, so eine seiner ehemaligen Schülerinnen, im Himmel eine Begegnung zwischen Freud, Marx und Kierkegaard gewünscht. Letztlich muss das der Liebe Gott arrangieren, aber hier unten wage ich folgenden Versuch – verschiedene Masken also, die ich anziehen werde:

Marx
Warum sind wir so
Überrascht? Es geht doch
Letztlich nur um Unterdrückung
Und Ausbeutung.

Freud
Es variieren
Nur die Legitimationen wechselnder
Ideologien, Religionen, Kasten
Oder Egos. (So denken sich gewisse
Affen immer neue Mythen aus,
Um dann, von ihren Affengöttern
Legitimiert, die anderen zu vernichten;
Es geht da um Territorien, Rohstoffe,
Militärischen und politischen Einfluss,
Um die Wiederwahl usw.)
Vielleicht geht es in der Tiefe aber
Um die Simulation von Bedeutung?
Die gewaltsam mit körperlichen
Oder psychischen Mitteln herbeigeführt
Werden soll. Eros ist ein Haben-Wollen,
Der Tod ein Darf-nicht-Sein. Daraus
Folgt: Verdrängung. Oder
Seitenverkehrte Sehnsucht.

Schaut euch nur die Populisten
Und Diktaturen an, wie das Unheimliche
Sich Bahn bricht, diese Lust an der
Vernichtung.

Kierkegaard
Und dann faken einige,
Die Welt könne gerettet werden, z.B.
Indem man/frau auf einer Wand von Chernobyl
Einen Aufkleber anbringt mit der Inschrift
„Öko“; und das dann auf einer Homepage feiert.
Oder als Touristenzone.
Jetzt haben sich Politik und Religionen über Jahrzehnte,
Jahrhunderte, Jahrtausende so gut eingerichtet, in selbstreferentiellen,
Intangiblen, profitablen Institutionen. Da gibt es sich selbst verwaltende
Verwaltungen sich selbst verwaltender Verwaltungen mit
Garantierter Verantwortungslosigkeit und Entselbstung.
Sogar bei einigen mit integriertem Täterschutz als Programm.
Und dann stört diese Realität in Gestalt des Corona-
Zufalls den Betriebsablauf, ‚unerhört‘,
All das Bestehende und Behagliche zu desillusionieren?

Marx
Ganze Gesellschaftsbereiche und Tausende von
Existenzen werden geopfert, ohne dass sie gefragt
Wurden, ob sie überhaupt geopfert werden wollen.
Soziale Bereiche und Bildung kaputt gespart, die
Jetzt an alle Grenzen gebracht werden – damit es
Auch jenen, die sie gierig zerstörten und
Erbarmungslos zusammensparten, wohlergehe.
Und während die Geopferten keine Hilfe bekommen,
Halten die Opfernden ihr Händchen auf …

Freud
Corona macht uns wieder sterblich, die wir
Gottgleich an digitaler Unsterblichkeit arbeiten.

Dichter
Gestern sah ich einen Film (wie
Aus einem anderen Universum), wo Menschen
Sich die Hände schüttelten, sich umarmten,
Küssten. Das sind nicht mehr wir.
Was haben wir verloren: dich, mich, uns?
Interludium
[Impfen könnte helfen …]

Oh Entschuldigung, nein, bitte
Zuerst Zuständigkeiten klären,
Formulare ausfüllen,
Verantwortlichkeiten abstecken,
Formulare klären, Zuständigkeiten
Ausfüllen, Verantwortlichkeiten
Verstecken; sich wegducken,
Vertuschen; leugnen … ad libitum.

Kierkegaard
Dann sagen sie,
Gott hätte ihnen
Für dieses oder
Jenes keine Vollmacht
Gegeben. Ach so,
Gott habe wieder Schuld, und
Sie wären wie Pilatus
Unschuldig. Unberührbar
Berühren sie alles und alle.
Und hat Gott ihnen
Auch Vollmacht gegeben,
Unermessliches
Leid
Kindern
Anzutun?
Dann müsste
Dieser Gott tot
Sein, er muss es sein –
Sonst wäre ER nicht auszuhalten.

2

So viel
Verzeihung
Zu erbeten,
Zu erflehen,
Von den Toten,
Den Lebenden.

3

Nachschrift: Gebet
Gib mir die Leidenschaft,
Die Gnade und den Mut,
Dass ich mich
Mir nicht entfremde
Oder entfremdet werde
In Masse und Klasse
(Weil ich zu feige oder zu
Bequem bin, ein Selbst
Zu werden, mein Selbst),
Dass ich nicht verzweifle
An Liebe und Tod.
Dass ich schreiben darf
Meine eigene
Biographie
Und dann Dir sagen kann:
Nimm und lies.

4

Dankbarkeit
(Mit der 2. Impfung schwindet
Nicht die Vorsicht, aber die Angst …)

In einer Demokratie,
In einem Jahrhundert leben zu dürfen,
Das schon während einer Pandemie
Wirksame Impfstoffe herstellen kann!

(Auch darum wollte ich mich impfen
Lassen, um nicht andere zu gefährden
Und mit meinem kleinen Beitrag
Die Virusvariationen zu reduzieren.)

Mein Impfpass liest sich wie
Ein Kompendium vieler Krankheiten –
Und weitaus schlimmere als Corona –,
Die verhindert wurden und werden.

Das bleibt: demütige Dankbarkeit.
Und der Wunsch, dass dies für alle
Menschen einst möglich sein kann.
Ja, mein tiefer Dank gilt den

Naturwissenschaften.

5

Geil, die Arktis schmilzt!
Her mit den neuen Passagen
Und Rohstoffen! Geld, Gier.
Geld, Gier, Macht, Gier, Macht.
Die Beute wird verteilt.
Chor: Schlange, mach,
Dass wir wie Gott sind!
Schlange: Und wenn der Planet absäuft?
Der Golfstrom sich ändert?

6

Corona? War vollkommen überflüssig.
Das bekommen wir Menschen auch so hin.

7

Abschied

Ein langjähriger Freund
Bekam Corona.
Mein letzter
Freundschaftsdienst:
Die starre Totenmaske
Aufzulösen in
Ein Meer fließender
Geschichten:
Ich werde über ihn
Erzählen.

8

An Tibull[2]

Liebesträumer,
Sie wird immer dein
Schicksal sein
Sie geht
Windgleich unwirklich
Zart wie ferne
Abendsterne
Zwischen
Sommerähren
Golden und dämmernd
Wie ein Abschied ist das
Buch geschlossen auf
Ihr Haar rieselt leichter
Regen beträufelt
Ihre Lippen mit Honig
Das Werk der Bienen
Sie war Ähre war
Regen Vers und
Träumende Sehnsucht in
Ihr erschien das Unsichtbare:
Die Seele dein

9

Text im Text
(Nach Tibull I, 5)

Liebe und Dichtung?
Kaltes Licht ohne Körper,
Die sonst liebend
Verbrennen würden,
Ohne zu verbrennen
Im Lieben.
Liebtest du je, ohne
Eine Antwort zu erwarten?
Die Seele fingiert sich
Immer wieder ein glückliches
Leben mit ihr, bist auch du
Schon längst Asche.
Liebe, die weiter lebt,
Ohne Körper,
In der Dichtung.

Kaltes Licht,
Das auf Dinge fällt,
Schatten wirft, Schatten,
Die wir als Buchstaben
Entziffern. Denn
Manche versammeln sich –
Lichter kalter Schönheit,
Glänzend durch Jahrtausende –,
Zu Versen,
Mein Fatum
Meine Fee
Mein Wort Dein

10

Dieser Mai

Regen mit schweren
Pinselstrichen
Schwarze Himmel wie
Flatternde Leinwände
Kalter Wind und Grau
Seltsame Harmonien von
Disharmonie: so zeichnet
Der Frühling
Leise und immer mehr
Sein zartes Grün in
Diese Bilder ein …

11

Die Totenglocke
Hallt über
Dorf und Feld:
Wen rief sie?
Hörte denn ich?
Sah die ersten
Pfingstrosen.
Baldiger Duft
Von Regen
In der Luft.

12

Schweigen
Innehalten
Nachdenken

(Schwups, ah, dieses
Kakaoplätzchen.
Krümelmumpf…)

Moment, wo war ich
Gerade? Elektronen,
Neutronensterne,
Singularitäten?

13

Das
Schönste,
Wichtigste,
Zerbrechlichste
Auf dieser Welt:
Kinder und ihre Zukunft!

Auf diesem Bild
Sehen wir
Einen Titanen …
Und Goethe
Und Schiller.

Mit freundlicher Genehmigung der stolzen Eltern

„Und die Vollkommenheit ist ohne Klage.“[3]
(Höderlin)


[1][1] F. Hölderlin: Gesammelte Werke, hg. v. H. J. Balmes, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2014, 268.

[2] Römischer Dichter.

[3] F. Hölderlin: Gesammelte Werke, hg. v. H. J. Balmes, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2014, 259 (aus: „Der Herbst“).

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