Geschrieben am 1. November 2023 von für Crimemag, CrimeMag November 2023

Helene Flood: Arve Moen „Der Tod ist eine Liebkosung“

Døden er et kjærtegn, die gleichnamige Adaption des Romans von Arve Moen, 1949 von der Regisseurin Edith Carlmar verfilmt, Norwegens erster weiblicher Filmregisseurin – ein veritabler Film Noir. Englischer Titel: „Death is a Caress“

Septime suspense heißt die neue Reihe des Wiener Verlags, die vom klassischen »crime noir« bis hin zum zeitgenössischen Politthriller Akzente setzt. Zu »crime noir« zählt klar der 2010 im Alter von sechzig Jahren verstorbene Franzosen Pascal Garnier, der bei Septime eine Heimat finden wird. Erster Auftritt mit Der Beifahrer im Herbstprogramm 2023. Weitere Romane sollen folgen.

Mit Der Tod ist eine Liebkosung des Norwegers Arve Moen erscheint ein echter Klassiker erstmals auf Deutsch. Erstmals erschienen 1948, wurde dieser Noir ein literarischer Volltreffer – ein sogenanntes One-Hit-Wonder. Der Autor Arve Moen war unter anderemJournalist und Jurist. Noch im Erscheinungsjahr wurde sein Roman von Edith Carlmar verfilmt, ihr Film gilt als einer der ersten norwegischen Vertreter des Noir-Genres. Das Buch war zu seiner Zeit ein Erfolg und wurde 2009 von der Zeitung Dagbladet zu einem der besten norwegischen Kriminalromane aller Zeiten gekürt.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages präsentieren wir Ihnen daraus das Nachwort. Es stammt von der norwegischen Thrillerautorin Helene Flood.

Arve Moen: Der Tod ist eine Liebkosung (Døden er et kjærtegn, 1948). Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. Septime Verlag, Wien 2023. Hardcover, 156 Seiten, 20 Euro.

Mensch oder Monster?

Von Helene Flood – Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel

In meinen bald zwanzig Jahren hinter dem Steuer habe ich folgende Erfahrung gemacht: Wenn ein Auto vor mir sehr langsam fährt, ist der Fahrzeuglenker ein Schleicher, fahre ich aber selbst langsam, dann deshalb, weil ich eine Adresse suche. Mit dieser Denkweise bin ich nicht allein: Wir tendieren dazu, die Handlungen anderer mit ihrer Persönlichkeit zu erklären, wohingegen wir unser eigenes Handeln der Situation zuschreiben, in der wir uns gerade befinden. In der Psychologie wird dieses Phänomen Fundamentaler Attributionsfehler genannt. Besonders deutlich tritt diese Tendenz zutage, wenn wir dem Ganzen auch noch Schuld, Verantwortung und Moral beimengen. Viele werden einfach sagen, wer einen anderen Menschen umbringt, sei unmoralisch, ein Monster, aber für die Person selbst stellen sich die Dinge oft anders dar. Selbst diejenigen, die ihr Verbrechen gestehen, verwehren sich für gewöhnlich gegen Interpretationen, die ausschließlich eigene Fehler zum Inhalt haben, und werden auch nach anderen Ursachen suchen, die zu dem Vorfall geführt haben, um zu verstehen, wie das passieren konnte.

Der namenlose Erzähler in Arve Moens „Der Tod ist eine Liebkosung“ hat eine schreckliche Untat begangen: Er hat seine Ehefrau ermordet. Jetzt erzählt er ihrer beider Geschichte, von der ersten Begegnung einige Jahre zuvor bis zu seiner Zeit im Gefängnis. Die Geschichte, in all ihrer Schlichtheit und Kürze, umspannt große Themen. Der Erzähler widersetzt sich einfacher Kategorisierungen seiner Person. Er gesteht den Mord, empfindet aber keine Schuld und schreibt, um zu verstehen. War das, was geschehen ist, seine Schuld oder ihre? Waren sie beide gleichermaßen schuld? Oder war es vorherbestimmt, etwas, das unweigerlich geschehen musste und deshalb weder ihm noch ihr angelastet werden kann?

Schuld entsteht gewöhnlich zusammen mit der Empfindung, dass wir jemandem wehgetan haben, sei es durch einen Unfall oder durch eine willentliche Handlung. Wer Schuld empfindet, befürchtet, seiner oder ihrer Beziehung zu anderen Menschen geschadet zu haben. Wenn ich einen von dir geliebten Gegenstand kaputtmache, fühle ich mich schuldig, weil du durch mich einen Verlust erleiden musstest und ich die Befürchtung habe, unsere Beziehung könnte dadurch Schaden genommen haben. Wer Schuld empfindet, wird sich normalerweise um Wiedergutmachung bemühen, zum Beispiel durch ein aufrichtiges Bitten um Verzeihung, durch Anbieten einer Entschädigung oder Buße. In der Art und Weise ist Schuld nützlich für die Gesellschaft: Wer anderen schadet, macht es wieder gut.

Schuld, so könnte man behaupten, erfordert ein Gefühl für die eigene Verantwortung. Wenn ich der Meinung bin, ich hätte mich nicht anders verhalten können und der von mir verursachte Schaden sei unvermeidlich gewesen, kann ich dann Schuld empfinden? Kann man von mir erwarten, dass ich einem Schaden vorbeuge, der auf unglückliche Umstände zurückzuführen ist, die sich meiner Kontrolle entziehen? Der namenlose Erzähler in Moens Roman begründet sein fehlendes Schuldempfinden mit der Unabwendbarkeit des Geschehenen. Seiner Ansicht nach war das Liebesverhältnis so destruktiv, die Unterschiede zwischen ihnen so groß und der Zusammenbruch ihrer Kommunikation (zeitweise) so total, dass die Katastrophe am Ende unausweichlich war. Er kann schlicht und ergreifend keine alternativen Handlungsmuster erkennen – oder zumindest keine, die zu einem anderen Ausgang geführt hätten. Er leugnet nicht die tatsächlichen Umstände, er gibt zu, die Tat begangen zu haben, und nimmt die Strafe auf sich, fühlt sich jedoch nicht dafür verantwortlich.

Es wäre verlockend, unsere Hauptfigur der Beschönigung seiner Tat zu verdächtigen. Das Buch ist in der ersten Person geschrieben; der Mörder selbst ist der Erzähler. Wir dürfen vermuten, dass seine Darstellung ein wenig großzügiger in eigener Sache ausfällt: Der Mord sei unvermeidbar gewesen, weil sie so verschieden waren, und zudem sei seine Ehefrau eifersüchtig, herablassend und störrisch gewesen. Der Erzähler sieht nur die Situation rund um die Tat und betrachtet sein Handeln als eine Reaktion auf die Umstände und das Handeln der Frau. Zwar zeigt er sich nicht unreflektiert und reuelos, und er entzieht sich auch nicht jeder Verantwortung, jedoch wird die Frau durchgehend als diejenige dargestellt, die den Konflikt befeuert. Trotzdem zögert er, alle Schuld einzig und allein ihr zuzuschreiben. Sowie er zu einer Schlussfolgerung kommt, neigt er zu der Meinung, keinen von ihnen beiden träfe eine Schuld – es habe so kommen müssen.

Besteht die Möglichkeit, dass er recht hat? Kann die Geschichte als eine vorherbestimmte Tragödie gelesen werden, bei der keiner von beiden sich anders hätte verhalten können? Stand ihre Liebe »unter einem schlechten Stern«, wie es bei Shakespeare heißt, waren sie dazu bestimmt, einander zu begegnen und dann zugrunde zu gehen? Erzählungen über Liebende, die aufgrund ihrer unmöglichen Liebe sterben müssen, werden gern als romantisch betrachtet. Während bei Shakespeare die Liebe von Romeo und Julia von einer Familienfehde herausgefordert wird, kommen die Liebenden bei Moen schlichtweg als Personen nicht überein. Aus Sicht unseres Erzählers ist eine Erklärung dafür im Klassenunterschied zu suchen. Seine Frau gehört einer weit wohlhabenderen Schicht an als er, und was Einkommen und Finanzen betrifft, hegen sie unterschiedliche Erwartungen. Die Geschlechternormen in Hinblick auf die Frage, wer in einer Ehe für den Lebensunterhalt zu sorgen habe, lassen die Streitigkeiten noch erbitterter ausfallen. Die Liebespartner reagieren unterschiedlich auf den Konflikt und werden in dessen Voranschreiten in einem destruktiven Muster aus Provokation und der jeweiligen Resonanz darauf auseinandergetrieben. Kann diese Geschichte deshalb als eine Tragödie über eine unmögliche Liebe gelesen werden? Und will der Erzähler sie so verstanden wissen?

Diese unglückliche Liebesgeschichte mag ein wenig Kontext vertragen. Wie eine 2013 unter anderem von Forschenden der London School of Hygiene and Tropical Medicine durchgeführte Studie herausfand, bei der wissenschaftliche Erkenntnisse aus vielen Ländern zusammengefasst wurden, wird etwa ein Drittel aller ermordeten Frauen von ihrem Partner getötet. Oft geht dem Mord Gewalt in der Beziehung voraus, und laut einer Schätzung der WHO aus dem Jahr 2002 erfahren zwischen 15 und 71 Prozent aller Frauen zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben Gewalt von einem Lebenspartner. Gewalt gegen Frauen ist so verbreitet und zieht so große Folgen in Form gesundheitlicher Probleme und verlorener Lebensjahre nach sich, dass sie als Gefahr für die öffentliche Gesundheit angesehen wird. Ohne unterschlagen zu wollen, dass auch Frauen gewalttätig gegen männliche Partner handeln können und Gewalt in der Beziehung auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften vorkommt, besteht wenig Zweifel daran, dass Frauen hier die größte Last tragen; gemäß einer 2014 am Norwegischen Forschungszentrum für Gewalt und traumatischen Stress durchgeführten Untersuchung ist jene Art der Gewalt in Beziehungen, die wenig ernste Folgen nach sich zieht, zwischen den Geschlechtern ziemlich gleich verteilt, wohingegen Frauen weit häufiger Opfer von Gewalt mit ernsthaften Folgen werden.

Der norwegische Psychologe Per Isdal arbeitet mit Männern, die sich gewalttätig gegen ihre Partnerinnen verhalten. Er beschäftigt sich mit der Frage nach der Bedeutung von Gewalt. Gewalt entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern wird durch eine Situation ausgelöst. Zugleich hat der Gewaltausübende die volle Verantwortung – es gibt immer Alternativen zu Schlägen oder einem Mord. Isdal beschreibt, wie seine Klienten externalisieren, indem sie ihre Handlungen durch äußere Umstände erklären. Das ist eine effektive Strategie, um Schuld von sich zu weisen. Überträgt der Ausübende die Schuld auf das Opfer, ist sein Selbstbild geschützt – er ist kein Monster, sondern nur ein Mensch, der über seine Belastungsgrenze hinausgedrängt wurde. Mit einem solchen Selbstbild kann man leben. Wenn man jedoch keine Verantwortung für das eigene Tun übernimmt, wenn keinerlei Aufgeschlossenheit gegenüber alternativen Handlungsweisen vorhanden ist, besteht dann auch nur der geringste Ansatz für eine Veränderung?

In der Regel werden sowohl Geschichten über Monster als auch solche über Situationen, die zu Gewalt führen mussten, als Erklärungsmodelle unzureichend sein. In der Hoffnung auf Veränderung, sowohl in Hinblick auf Einzelpersonen als auch auf die Fähigkeit der Gesellschaft zur Gewaltprävention, werden wir zur Erklärung von Gewalt vermutlich beide Faktoren heranziehen müssen, persönliche ebenso wie situative, zugleich aber die Verantwortung eindeutig bei der Gewalt ausübenden Person verorten. Das wirklich Erschreckende in Moens Text ist die Verantwortungslosigkeit: Wenn unser Ich-Erzähler keine Verantwortung übernimmt, wird er dann wieder töten?

Doch der vielleicht unangenehmste Aspekt des Buches besteht darin, dass der junge Mann, der Erzähler, in vielerlei Hinsicht sympathisch ist. Er ist zwar temperamentvoll und nicht frei von schlechten Charaktereigenschaften, aber er ist auch kein Monster. Moen nimmt uns mit in die Gedankenwelt eines Mörders und lässt ihn uns als einen komplexen Menschen sehen: Er spielt seine Verantwortung herunter und weicht ihr aus, kämpft aber auch zeitweise  mit Schuldgefühlen. Und es tut ihm auch aufrichtig leid. Er vermisst die von ihm Getötete. Er ist kompliziert und er ist menschlich. Es kann unangenehm sein, das Menschliche in denen zu sehen, die schreckliche Taten begangen haben. Sie Monster zu nennen, fällt uns oft leichter. Der Tod ist eine Liebkosung reißt uns heraus aus dieser Komfortzone, indem er uns in den Kopf des Mörders blicken lässt. Wenn wir wiedererkennen, was wir darin vorfinden, was sagt das über uns selbst?

Nachwort © Helene Flood – Mit freundlicher Genehmigung des Septime Verlags, Wien


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