Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Friedemann Hahn: Kleines Requiem für Alain Delon

Friedemann Hahn © Courtesy Galerie Michael Oess Neue Kunst, Karlsruhe

Alles hängt mit allem zusammen. Oder: Alain Delon stirbt am 18. August 2024.

Nachdenken über Delons Schatten und seine Folgen – mit Auszügen aus dem Gedichtband Hey Käpt’n und dem Manuskript zu Sang et Merde. – Von Friedemann Hahn.

   Es gibt keinen Zufall. Auch im Leben nicht. Douchy-Montcorbon im Loiret in der Région Centre-Val de Loire. Alain Delon stirbt um 08.15 Uhr. Ein Malinois an seiner Seite. „Was ich weiß, ist, dass ich meinen Hund nicht allein lassen werde.“ Loubo soll, wenn er vor ihm sterbe, vom Tierarzt erlöst werden, teilte er dem Magazin „Paris Match“ mit. Er liebe den Belgischen Schäferhund wie ein Kind, sagte er 2018. „Ich vermisse ihn, wenn ich nicht bei ihm bin. Wenn er vor mir sterben sollte, was ich hoffe, werde ich mir keinen anderen Hund anschaffen. Ich hatte in meinem Leben schon 50 Hunde, aber zu diesem habe ich eine besondere Beziehung. Er soll eingeschläfert werden, dass er in meinen Armen sterben kann. Das ist mir lieber, als zu wissen, dass der Hund an meinem Grab trauert und qualvoll stirbt.“ Nun ist der Pharao vor seinem Hund gestorben, der Mongolen Fürst vor seinem Hengst. Auch Loubos Tage wären nun gezählt. Doch Loubo darf weiterleben, er wird nicht eingeschläfert, die Familie wird sich um ihn kümmern, auch die Fondation Brigitte Bardot hat sich gemeldet. In der Nacht des 19. August steht der Super-Moon am Himmel.

   „A FILM IS FIRST AND FOREMOST A DREAM.“ (Jean-Pierre Melville). Ich versuche Gemeinsamkeiten zu erkennen, Verbindungen herzustellen. Versuche ihn zu verstehen. Ich muss seine Haltung respektieren. Künstler müssen große Egoisten sein. Ich kann dies nachvollziehen. Auch wenn ich kein Pharao bin. Doris und ich hatten nur sechs Hunde. Der letzte war Käpt’n. Er starb in der Nacht zum 20. April 2021. Ihm galt unsere ganze Liebe. Ich habe ihm einen Noir geschrieben: MATADERO. Ich habe mit Hans Dieter Huber eine Performance zelebriert, wir haben den Roman an die Wand geschraubt. Der Roman wurde zum Bild. In der Nacht des 19. August 2024 fotografiere ich den Super-Moon. Ich knipse einen ganzen Film runter. KENTMERE PAN 400, FILM NOIR & BLANC. Das Blitzlicht irritiert Doris im Schlaf. Sie träumt einen tiefen Traum. Am Morgen stelle ich fest, dass der Film nicht in der Kamera war.

Eigentlich kennt das wohl jeder: dreaming along … Was geht im Traum schon zu Ende? Es kann doch immer weitergehen, da du die Zeit doch auf deiner Seite hast, Konzentration und Ruhe … (`Fortsetzung folgt´ nicht unbedingt in der nächsten Nacht) … Seiner Zeit hatte irgendein surrealistischer Dichter an seiner Schlafzimmertür das vielversprechende Schild mit der Aufschrift er `arbeite´; – dazu reichte ihm ein Bett. Seitdem gibt es ganz andere Hilfsmittel für Tagträumer. Verkehrsmittel (öffentliche und private), Straßenecken, Schaufenster, Imbissbuden, Fernsehen und Telefon, Zeitungsfotos und -sätze, alles ist gewöhnlich derart gegenwärtig, dass man sich ganz schön anstrengen muss – Schnitte und Ausrisse machen – um den Schein träumerischer Dimension davon zu empfangen. Unendliche Telefongespräche: Mara erzählte, dass sie früher manchmal im Bett noch eine Freundin anrief; wenn ihre Mutter am nächsten Morgen kam, um sie zu wecken, lag neben ihr noch der Hörer, als sie ihn ans Ohr hielt, hörte sie regelmäßige Atemzüge („Don’t hang up!“ — warum auch? Ortsgespräche sind doch frei in NY.) Diese wunderbaren Augenblicke, wenn es unerwartet im richtigen Moment passiert. „Mitten am Tag klingelt auf einmal das Telefon.“

   „The telephon rang it would not stop, it was President Kennedy callin‘ me up —“ berichtete Robert Zimmermann von einem seiner Träume, indem er ihm ein paar Ratschläge gab (– als der andere President ihn dann anscheinend wirklich angerufen hat, wurden seine Songs leider auch schlechter). – Der Winter steht vor der Tür. – Dann gehen wir eben durchs Fenster.“ (Martin Langbein, Stills. Eine Frage der Einstellung)

   Umarme die Nacht. Lass uns die Sterne treiben/ Weit übern Horizont/ Und sehn wer wiederkommt/ Wenn nur die Kälte klirrend herrscht/ Bist du allein/ Allein mit dir/// Und fragen wer du bist/ Hilft nicht hilft nie/ Was hilft dir fragen/ Wenn dir die Antwort fehlt/ Das Leben ist so bitterkalt/ So kurz wie eine Jahreszeit/// Wenn du nicht weißt/ Wer wann und wo/ Wenn du zum Himmel schaust/ Doch keine Engel siehst /Dann ist die Sonne in der Hölle tief/ Dein Herz zersplittert wie ein dürres Blatt/// Umarmen musst du jetzt den Morgen/ Bewahren deine Seele rein/ Dann kehrst du heim/ Zu deiner Scholle deinem Hof/ Wo du zuhause bist/ Wo deine Freunde auf dich warten///

Der tiefe Schlaf

Dein schwarzer Kopf
Auf dem Schaffell
Eingegraben in die Indianerdecke

Das türkisfarbene Halsband
Zusammengerollt der Leib
Entspannt dein Atem

Es glänzt das Fell
Wie Tränen
Aus Glas

Freiburg im Breisgau ist eine Cineasten-Stadt. Hier leben mehr Moviegoer als anderswo. In Freiburg konnte man Filme sehen, nahezu exklusiv in der Bunderepublik, als Testlauf sozusagen, wenn sie floppten … was für ein Privileg. Es gab eine reiche Kinolandschaft, dazu das Kino im französischen Offizierscasino, hier gab´s die Filme im Original (bei den Sous-officiers gab´s Froschschenkel und Troup, ich bevorzugte Gauloises), in der nahen Schweiz waren die Filme deutsch untertitelt, studentische Filmclubs, private Initiativen, 1972 gründete sich das Kommunale Kino.

   13. Juni 1968. Le Samourai kommt in die Kinos. Fronleichnam. Ich war in der bitteren Endphase meiner Gymnasialzeit. Der eiskalte Engel, ein Film mit Alain Delon. Jean-Pierre Melville war mir kein Begriff, auch die Unruhen in Paris im Mai waren an mir vorbeigeglitten wie eine Schussfahrt auf Schmierseife. Im Jahr davor hatte ich einige Zeit in Paris verbracht (wohnte in der Rue de l´Université, wo zwölf Jahre später Jean Seberg, nackt in eine Plastikplane gewickelt, zwischen Vorder- und Rücksitz ihres PKWs tot aufgefunden wurde. Ich war in einem letzten Aufbäumen ausgebrochen aus dem Gefängnis Elternhaus und Schule, hatte mich dann doch nicht in die Légion Étrangère getraut, war wieder eingefangen worden, bis es dann genau ein Jahr später endgültig aus war mit Kindheit und Jugend. Jef Costellos Schatten schlug mich in den Bann. Le Samourai ist so etwas wie ein Kletterseil für mich geworden. Auf dem Weg durch die Jahre.  

   Romy Schneider: „Du machst mir Angst. Ich mache mir Angst. Vergiss mich ganz schnell. Aber bitte sage mir noch gute Nacht“, soll sie der Legende nach am Abend des 28. Mai 1982 gesagt haben. Sie wurde auf dem Friedhof von Boissy-sans-Avoir beigesetzt. Alain Delon führte Regie und ließ ihren Sohn in das Grab der Mutter umbetten.

   A Portrait of the Artist as a Young Man.

   In Memoriam Klaus Hoffmann (1934 – 2004). Die Zweifel mit der Malerei eine Zukunft zu wagen, überwogen 1973. Ohne den Zuspruch von Klaus Hoffmann hätte ich die Kunst an den Nagel gehängt und wäre Tankwart geworden. Als wir uns das erste Mal trafen, rannte er in Geta-Pantinen und einem unauffälligen Kimono, die Perücke schräg auf dem Haupt, durchs Wolfsburger Schloss (Weser-Renaissance, 13tes Jahrhundert); er hatte gerade in Tokio in der Ginza Five Gallery einige meiner frühen Bilder gezeigt.

Die Titel von Friedemann Hahns Filmbildern kehren den Gemälden den Rücken zu. Der bürgerliche (manchmal auch ein Künstler-) Name der oder des Darstellers (erin), und der Originaltitel des Films mit Jahreszahl: nicht die Namen der in der Geschichte dargestellten Personen oder der Titel, wie er bei uns vielleicht bekannt ist. Die können wir erahnen. Raymond Chandler, Drehbuchautor in Hollywood. „The content of a motion picture is content and emotion and situation, and the combination of these things into drama.“ Was sehen wir davon in diesen Bildern?

   Ich habe diesen Notizen zur amerikanischen Einstellung und zur Stille in den Gemälden von F. H. diese Überschrift gegeben, weil sie sich davorstellt.

   Stills = das amerikanische Wort für Standfotos, die die Filmproduktion von nur dazu angestellten Fotografen machen lassen, weil man mit aus den Filmstreifen kopierten sogen. Phasenbildern für die Werbung und zur Dokumentation meistens nicht viel anfangen kann. Stills – bewegungslos und ohne Ton und nicht mit einer Filmkamera aufgenommen – entstehen selten während der Dreharbeiten, häufiger werden oder wurden sie unmittelbar danach aufgenommen oder auch extra nachgestellt und dabei akzentuierter beleuchtet, um den Glamor der Stars hervorzubringen. – So hat Kevin Brownlow in dem Buch „Hollywood. The Pioneers“ (New York 1979) eine Kussszene aus dem Film „Love“ von 1927 (Greta Garbo mit ihrem Ex-Verlobten John Gilbert, – sie haben auch an einem Bild von F. H. mitgewirkt –) neben dem entsprechenden still von Ruth Harriert Louise abgedruckt Oberfläche – und zu wenig kontrastreich.bgedruckt: der bekannte Kameramann William Daniels, berühmt u. a. für seine Mitarbeit an Stroheim-Filmen, – er machte auch die Kamera in fast allen Garbo-Filmen –, konnte z. B. Make-up bei männlichen Darstellern nicht ausstehen und filmte für die Werbeabteilungen meist zu realistisch – `Haut´ statt Oberfläche – und zu wenig kontrastreich.

   Standfotos müssen überdeutlich stilisiert sein, in den Schaukästen der Kinos und als Grundlage von Filmplakaten sollten sie bestimmte Vorstellungsbilder wachrufen, um die Zuschauer ins Kino zu `locken´; in Fan- und sonstigen Zeitschriften bieten sie sich an zur träumerischen Versenkung in die `großen Augenblicke´, sind gleichzeitig auch die Vorankündigung des nächsten Films (gleiche Schauspieler oder gleiche Genres). – Friedemann Hahns Filmbildnisse, wohl immer nach Standfotos gemalt, erzeugen in Verbindung mit dem in ihren realen Titeln behaupteten Standort in einer Filmhandlung („drama“) eine Bewegung, in der sich der künstliche Kinotraum mit dem sanften Gleiten eines echten Traumzustandes trifft —

   Als ich einmal hörte, wie die Bilder im Maleratelier entstanden sind –ein gerastertes Foto wird mit einem Gerät auf die Leinwand geworfen, in groben Umrissen nachgezeichnet usw. – fiel mir ein, dass Chemiker beim Destillieren das Gefäß zur Aufnahme der veränderten Substanzen „Vorlag“ nennen — Sie steht am Ende.

   „Man muss leben, nicht dauern“, schrieb Godard in jungen Jahren in seiner „Verteidigung und Erläuterung der klassischen Einstellungsfolge“ und zur amerikanischen Einstellung: „Lächeln wir nicht über so viel Leidenschaft, bei der die Logik Fieber kriegt, wir spüren doch was ihren Wert ausmacht, in jedem Moment geht es doch darum, zu lieben oder zu sterben.“ (Martin Langbein, Stills. Eine Frage der Einstellung)

   In Memoriam Ulf Miehe (1940 – 1989) …Es braucht immer jemanden, der etwas erkennt, was andere nicht erkennen, wollen oder können. Er hat mich ermutigt, als ich nicht wusste, ob das etwas taugt, ob es sich lohnt, weiter zu schreiben, ob irgendwer außer mir sich dafür interessiert. Als Ulf Miehe mich bestärkte weiter zu schreiben und Klaus Bär überzeugte, zwei schmale Bändchen: Fick in Gotham City und Anarcho – Er kannte kein Gesetzt zu verlegen, war ich mir sicher, dass es richtig war, mit der Erforschung der unbewussten Seele fortzufahren. Es war sicher keine neue Erfindung, aber es entsprach auch nicht dem Zeitgeist, diesem unseligen Gespenst, Gedichte zu schreiben. Oder Bilder malen, die nichts darstellen wollen, nichts erzählen wollen, die nichts wollen, als da sein. Nur da sein. Weiter nichts.

   Ulf Miehe und der Eiskalte Engel. Gloria Filmverleih G.m.b.H. zeigt Alain Delon. LE SAMOURAI. Sonnabend, 4. April, 6 Uhr abends. Das Zimmer … das Dompfaff Weibchen … der Käfik … das Zimmer im grüngrauen Zwielicht … der Hut … die Krempe … das Gesicht … der Kragen des Trenchcoats, die Schulterstücke … Nach 3 Minuten 35 Sekunden (die treibende Musik von Francois de Roubaix setzt ein). Ulf Miehe. Der Puma, Kap. 15. „Der Herbst kommt früh dieses Jahr“, sagte Franz in die Stille.“ In Ordnung. Ich habe dann alles da.“ Franz legte auf. Eine halbe Stunde später hatte er einen Wagen gefunden … Es war ein Citroen DS 19, Baujahr 1972 … Der erste Schlüssel passte nicht. Auch nicht der zweite, dritte und vierte … Franz steckte den sechsten Schlüssel ins Schloss. Einer der zehn Schlüssel passte bei diesem Model immer … Kap. 16. Der Mann, die die zehn Wagenschlüssel angefertigt hatte, hieß Henri Duplat. Er betrieb einen Schrotthandel und eine kleine Autoreparaturwerkstatt in Mallebois, einem Ort in der Nähe von Paris. Die beiden Männer kannten sich aus Algerien … Kap. 17. Duplat freute sich, Franz wiederzusehen. Franz fuhr den Wagen in die Werkstatt … Franz streckte stumm die Hand aus und schlug Henri mit dem Handrücken gegen die Brust. Dann hielt er ihm abwartend die flache Hand unters Gesicht. Henri Duplat sah die Hand an, sah Franz an und seufzte. „Bist du sicher, dass du das Richtige tust?“ Franz nickte. Henri Duplat warf seinen Zigarettenstummel weg und zog eine andere Schublade auf. Er nahm die Pistole heraus und gab sie Franz. Es war eine deutsche 08 aus dem Zweiten Weltkrieg … Später wird Jef Costello sagen: „Ich verliere nie. Niemals wirklich.“

Manchmal ist es leichtsinnig, seine Vorlieben so ohne weiteres preiszugeben, out of context, jedenfalls kann ich mit der Liste von Friedemanns zehn `besten Filmen´ (spontan) wenig anfangen, die in seinem schönen ersten Wolfsburger Katalog von 1976 steht, wenn ich dabei an die Bilder denke, die bis dahin entstanden sind. Als ich sie Anfang der 70er Jahre zum ersten Mal sah, haben wir in Freiburg ein paar Mal Gerhard Theurings unendlichen Musikfilm gesehen, „Leave me alone (Why did you leave America?)“, für den es auch keine Vorbilder zu geben schien. Hier war ein ähnliches Hinübergleiten von reiner Qualität in die Qualität des utopischen Augenblicks eines farbigen Tagtraums: wo man jede beliebige Nummer wählen kann, andauernd gibt es die richtigen Anschlüsse; – mehr kann ich zu dem Gebet an Norma Jean von Cardenal nicht sagen.

   Damals in Freiburg,`Haus zum geilen Fisch´(Villa Pescara), Fischerau 32 (wo heute die evangelische Stadtmission ihre Büros hat); – es geht über diese Holzbohlen auf denen der betrunkene Leo aus dem Nachbarhaus manchmal seine Mülltüten abstellt, die Glühbirne ist sowieso andauernd kaputt, dann eine schräge Holztreppe hoch, weiter mit eingezogenem Kopf an den Balken vorbei, dem Geräusch des Gewerbebachs entgegen, endlich im Dunkeln die Tür — zu einer Art Fotolabor, wie es mir heute vorkommt: rechts an der Wand ein langes volles Bücherregal,  in dem die gelb leuchtenden März-Rücken verteilt sind (Friedemann hatte mal einen Ruf als präfeministischer Porno-Schreiber – so wurde er von Bernd-Otto vorgestellt 1); in dem Zimmer ist die Hauptsache das große Bett, irgendwo versucht der gutmütige Hund Lenau (s/w) sich kleinzumachen, auf einer Ecke sitzt Silke und putzt Schuhe mit Schuhcreme, weil sie gleich irgendwohin muss, dazwischen, ausgestreckt, im Fernsehlicht, um Ruhe und Ordnung bittend, in Jeanszeug und Stiefeln, er will doch noch zum Malen in die Akademie, je nach dem Programm (Spielfilme): — der Künstler bei der Arbeit, auch wenn draußen die Sonne schien, an den stillen Sonntagnachmit-tagen, abends sowieso, so liegt er in meiner Erinnerung. – „Es hat was zu tun mit magic und emotion und vision, mit dem freien Fließen von Bildern, Gedanken und Vorstellungen, mit Disziplin, die von innen kommt und nicht von außen verordnet wird. Es hat was zu tun mit dem Gefühl der Macht über das eigene Material, oft kommt das nicht und dauert nicht lange und es ist eins der am wenigsten ich-bezogenen Gefühle der Welt, weil man genau weiß, dass da nur eine Verbindung hergestellt ist zu der unbewussten Seele (mind).“ 2

   Einmal zeigte er mir auch seine Medienwerkstatt, und ich sah in die Hefte mit den über Jahren ausgeschnittenen Filmbildern aus Büchern, Zeitungen und Illustrierten.

   Dann die anstrengenden sechs Wochen in einem Sommer, als sich der Angehörige eines anderen Stammes – der Maler –, denselben Qualen unterzog, wie man es sonst nur oben im Hinterhaus tat,-

Der Artikel für die „Filmkritik“ wurde tatsächlich fertig geschrieben, wenn ihn der Redakteur (Wolf-Eckart Bühler) dann leider auch mit den verkehrten Bildern abdruckte (März 73).

   Und dann kamen auch schon die ersten `Besprechungen´, Artikel, Kataloge — wenn es um Vertriebsfragen geht, Verkauf, Besitz, Geld, ist das geschriebene Wort unabweislich. „Und weiß nicht jeder, der je versucht hat, von seinem Geträume in Worten zu berichten, dass das Beste unter den Händen zerschmilzt und zerrinnt, während man es zur Sprache ballen will?“ – `Bildschirmtext´: „Das Geschriebene beherrscht noch immer das Bild“ sagte jemand in einem Film. 3

   Ein Produzent verlangt als erstes ein Drehbuch, an das er sich und andere halten kann, wer seine Bilder mit der Hand macht, braucht seine druckreife Phantasie in der Regel erst hinterher spielen zu lassen, für die einführenden Worte, Titel zumindest — Schwarz auf Weiß. Allen fällt es auf (oder vielen), wenn ein Journalist fünf verschiedene Fragen stellt, und ein Politiker immer das Gleiche antwortet und umgekehrt und wieder umgekehrt, aber es stört keinen, weil das ganze Interviewgerede zu einer gesellschaftlichen Form geworden ist. Dafür wirkt es manchmal etwas befremdend oder arrogant, wenn Malern vor ihren Farben die rahmbare Aussage schwerfällt. Und manchmal ist es auch nicht leicht, von ihren Freunden was Entsprechendes zu hören zu kriegen …  (Martin Langbein, Stills. Eine Frage der Einstellung)

1) Er hatte es – wie Humphrey – nicht versäumt, in jungen Jahren von zu Hause wegzulaufen und sich in der Schule unmöglich zu machen, als er mit 16 während der Schulzeit mit seiner Turnlehrerin von Hinterzarten nach Paris fuhr, ins `Hotel Monsieur le Prince´ in der Rue Monsieur le Prince – auch das vielleicht keine Vorsehung aber doch immerhin eine tolle Voraussetzung. 2) Raymond Chandler, “Farewell, My Hollywood”, Antaeus No. 21/22, Tangier 1976.” 3) Hellmuth Costard, Der kleine Godard an das Kuratorium Junger Deutscher Film, 1977/78

Mama lächelt. Oder: Schiffe sterben in Algier.

    1

„Wenn du nicht brav bist, holt dich der Bullimaus!“                                          
Mama ist hysterisch.                                                                                         
Wie kann mich der Schwarze Mann holen?                                                       
Ich bin der Schwarze Mann.                                                                            
Mein Bruder sagt, es ist schwer mit einer hysterischen Mutter zu leben.        
Aber das stimmt nicht.                                                                                          
Sie taufen ihn Michael, und er glaubt, er ist groß und stark, und er wird     
einmal das Böse besiegen. Aber das stimmt nicht.                                              
Er ist als Wassermann geboren, und er glaubt, er sei der vollkommene Mensch.                               
Aber das stimmt nicht. Wie kann er das glauben? Er ist ein Kind.              
Mich taufen sie auf den Namen Friedemann. Weil mein Vater es so will.       
Und weil der Krieg vorbei ist. Meine Mutter will einen Manfred.                    
Sie verehrt den Roten Baron. Und ich soll ein tapferer Krieger werden.                             
Ein wirklicher Held. Und jetzt bin ich der Friedemann.                                                                              
Aber sie wissen nicht, dass ich beide bin.                                                         
Wir sind ein Geist. Wir sind ein Fleisch.                                                            
Ich komme am 24. Mai, null Uhr fünf, des Jahres 1949 zur Welt.                    
Am Geburtstag der Schwarzen Sarah.                                                                
Sie sagen, ich bin auf dem Hohentwiel am Bodensee im Krankenhaus geboren.
Aber das stimmt nicht. Ich bin in Saintes-Maries-de-la-Mer auf die Welt gekommen.
Und sie haben mich vor der Îlet-Sainte-Marie ins Meer geworfen.

  2

Ich stehe am Fenster und schaue auf die Alemannenstraße                              
und warte, bis meine Manouches vorbeiziehen. Meine Karawane.                                 
Meine Sinti Brüder und Schwestern.                                                             
Meine Brüder und Schwestern sagen, wir kommen vom Fluss Sindhu.         
Aber das stimmt nicht. Wir kommen von überall her. Wir sind seit jeher.       
Wir sind die Menschheit.                                                                              
Meinem Vater haben sie durch den Kopf geschossen.                                       
Das war im Unternehmen Barbarossa.                                                                               
Mit der Weisung Nr. 21 fuhr er im Zug nach Osten.                                         
Sie wollten uns alle vernichten. Ein braver Scharfschütze aus der Unendlichkeit der Steppe musste ihm durch den Kopf schießen. Der war ein guter Soldat.
Doctor Frankenstein hat sich Köpfe aus Ausschwitz schicken lassen               
und in der Universität der Stadt Heidelberg daran geübt.                                   
Er hat meinem Vater sehr geholfen. Das war am Bodensee.                                          
Mein Vater ist nicht mehr der Wilde Hans. Jetzt ist er der Johannes.               
Und der Johannes ist im Schwarzwald.                                                          
Meine Mutter ist auch im Schwarzwald. Sie ist die Schwarze Sarah.                             
Ich will immer fliegen … fliegen … fliegen … fliehen.                                       
In eine entfernte Welt. Abreisen. Wo anders sein.                                                 
 Ich will immer fliehen … fliehen … fliegen … fliegen. Überall sein.             
Und es gelingt mir. Mit meinem Geist.                                                             
Der Geist verlässt meinen Körper. Ich kann fliegen.                                         
Ich setze die Energie frei. Die Körper unterscheiden sich nicht mehr.               
Ich materialisiere mich. Die Spaltung gelingt.                                                    
Es vollendet sich.                                                                                                
Und ich verstehe, ich bin.

  3

Die Gedanken fliegen wie Irrlichter übers Meer, endlos und weit.
Eine Fata Morgana. Das ist wie Vergangenheit auf ewig.
Gleichzeitig und imaginär. Die vollendete Fiktion. Und das ist gut so.
Bormann hat die Schwester meines Kameraden geheiratet. Das ist nicht gut.
Ich blicke auf mich herab, wie aus weiter Entfernung.
Eine große Traurigkeit überfällt mich. Und ich weiß, was kommen wird.
Es ist 2.13 Uhr. Ich beobachte, wie das Wasser auf das Boot zu strömt.
U 234 auf Überwasserfahrt. Ich stehe im Turm. Neuer Kurs. Kurs Algier.
7. August 05.09 Uhr, Orion im Zeichen der Jäger. Des Einhorns.
Im Rosettennebel der Milchstraße. Wir sind auf Tauchfahrt.
U 234 ist ein tapferer Jäger. Tante Anna ist in Theresienstadt im Exil.
Der Obersteuermann meldet eine Besteckversetzung von 25 Seemeilen
in 79 Grad von der angenommenen Koppellinie.
Und ich weiß, was kommen wird. Zurück liegt Algier.
Die Schiffe sind tot. Ich sehe es. Algier in weiter Ferne.
0:00 Uhr MEZ, 13. Januar — 17.00 Uhr ET am 12. Januar — wir tauchen auf.
Zum ersten Mal seit drei Tagen stehen wieder Sterne über U 234.
Achteraus schwebt ein Flugboot Typ BV 222 V-2 herein und setzt auf.
Generale Umberto Nobile wird bejubelt.
In langsamer Fahrt umrunden wir Manhattan. Pier 4, The Fireboats, South Streat Seaport, Brooklyn Bridge, Triborough Bridge, Red Lighthouse.

00.13 Uhr und ich stehe im Turm. Ellis Island, Alcatraz.
Wir sind auf Kurs. Es nimmt kein Ende. Wir halten Kurs.
Kurs auf eine entfernte Welt. Der Planet heißt Asahi.
Das Land der Morgensonne. Das Land der Krieger und der Opfer.
Es gibt viele Opfer dort. Ich sehe sie.
Ich sehe all die Verdammten. Die Verdammten dieser Erde.
Wir halten Kurs. Kurs auf eine entfernte Welt.
Das All so tief. Ohne Ende. Das vollkommene Schwarz.
Ohne Anfang. Das ist die Vollendung.
Wir treiben im Minkowski-Raum. Wo ist Clavius?
Endlich: Unternehmen Discovery One —in die Unendlichkeit.
On the Space Station — „Dave, hör doch auf, was tust du?“
Das rote Auge spielt verrückt, und ich bin Bowman: Out of Space — Dai-sy —
Day-sy — all for the love of you! — it won´t be a stylish marriage, i can´t afford a carriage — but you´ll look sweet — on the seat —
Ich schwebe — ich entschwebe — ich entferne mich — entferne mich —
Das Raumschiff — die Verbindung ist abgerissen —
Out of Space — in infinity —

  4

Die türkisfarbene Mittagssonne
verwandelt sich allmählich in das unergründliche Kobalt,
aus sie aufgestiegen war. Es ist jetzt gegen 16.00 Uhr.
Doris ist auf der Via Romana in Richtung Ponte Vecchio unterwegs.
Ein bulliger Mann überholt sie eiligen Schritts.
War das nicht …? Nein … ja … doch …
Angiolino Giuseppe Pasquale Ventura ist Doris hinterhergestiegen.
1979 sind Doris, Annali und ich in Florenz. Villa Romana, Via Senese 68.
Lino Ventura drehte sich dreimal nach Doris um.
Das erste Mal, weil er überwältigt war. Das zweite Mal, weil er sich erinnerte.
Das dritte Mal, weil er sie nicht vergessen wollte.
Dann änderte er seine Richtung und folgte ihr.

  5

Erinnerst du dich? Es war in Nizza. An der Croisette … naturellement!
Doris, du ranntest mit der Handkamera umher und nahmst alles auf.
Ich saß auf einem wichtigen Stuhl: DIRECTOR und versuchte
die gesamte Mannschaft zu dirigieren. Doch Doris
hat ihren eigenen Kopf und führte die Kamera,
wie sie es für richtig hielt. War gleichzeitig überall.
Lino hatte keine Einwände.
Er war geduldiger, als ich es erwartet hatte.
Ja, er war müde. Ein alter Mann am Ende seines Lebens.
Das Chaos war nicht mehr beherrschbar.
Und ich sah, wie meine Mutter im Schwarzwald lächelte.
Auf einmal war da Alain Delon.
Und alle waren ruhig.
Was eben noch abzustürzen drohte, fand seine Ordnung.
Alain Delon stand nur da und ließ seine Augen spielen.
Er war die Achse, um die sich das Karussell drehte.
Das war’s.
Mehr kann ich dazu nicht sagen.

(In Memoriam Ossip Zadkine, dem unbekannten Dichter und Bricoleur
gewidmet; geschrieben für Doris am 5. Februar 2024 auf Falkenberg
im Alten Pferdestall, mit Blick auf die Koppel, auf zwölf Pferde und Ponys,
auf fünf Schafe, Wildenten, drei Schwäne, Wildgänse, Haubentaucher und
Kraniche, einen Seeadler und einige Hunde – große und kleine)

   Appropriation Art (englisch appropriation = Aneignung), auch Deutsch gesprochen Appropriation, ist eine Ausdrucksform des zeitgenössischen künstlerischen Schaffens. Sie wird meist der Konzeptkunst zugerechnet.

Im engeren Sinn spricht man von Appropriation Art, wenn Künstler bewusst und mit strategischer Überlegung die Werke anderer Künstler kopieren, wobei der Akt des Kopierens und das Resultat selbst als Kunst verstanden werden sollen (andernfalls spricht man von Plagiat oder Fälschung). Strategien beinhalten „Ausleihen, Klauen, Aneignen, Erben, Assimilieren… Beeinflusst-, Inspiriert-, Abhängig-, Gejagt-, Besessen-Sein, Zitieren, Umschreiben, Überarbeiten, Umgestalten… Revision, Reevaluation, Variation, Version, Interpretation, Imitation, Annäherung, Improvisation, Supplement, Zuwachs, Prequel… Pastiche, Paraphrase, Parodie, Piraterie, Fälschung, Hommage, Mimikry, Travestie, Shan-Zhai, Echo, Allusion, Intertextualität und Karaoke.“

Im weiteren Sinne kann Appropriation Art jede Kunst sein, die sich mit vorgefundenem ästhetischem Material beschäftigt, z. B. mit Werbefotografie, Pressefotografie, Archivbildern, Filmen, Videos etc. Es kann sich dabei um exakte, detailgetreue Kopien handeln; es werden aber auch oft in der Kopie Manipulationen an Größe, Farbe, Material und Medium des Originals vorgenommen.

Diese Aneignung in der Appropriation Art kann in kritischer Absicht oder als Hommage erfolgen. Appropriation wurde durch die von Douglas Crimp kuratierte Ausstellung Pictures im New Yorker Artists Space im Herbst 1977 vorgestellt. Die ausgewählten Künstler der ersten Stunde waren Sherrie LevineJack Goldstein, Phillip Smith, Troy Brauntuch und Robert LongoCindy Sherman hatte im Jahr zuvor eine Einzelausstellung bei Artists Space gehabt, sie wurde in Douglas Crimps überarbeiteter Fassung des Katalogtextes erwähnt, der 1979 in der marxistischen Kunstzeitschrift October erschien… (usw. Wikipedia, Die freie Enzyklopädie).

   A Portrait of the Artist as a Young Man. Die ersten Arbeiten, die ich in meinem malerischen Werk zähle, entstanden 1971. In meinem dichterischen Werk zähle ich ab 1968. Appropriation Art hat vor allem mit Verehrung zu tun, mit Respekt und Würdigung. Das Objekt der Begierde wird zum Fetisch, wird zu Motiv. Das erste Bild, das ich zähle, ist das mit Ölfarbe überarbeite Cover des Kriminalromans Das italienische Abenteuer (The Italian Gadget) von Henry Calvin, Ein Mitternachtsbuch, Band 420, Verlag Kurt Desch GmbH, München 1969. Es zeigt ein Portrait von Alain Delon im hellblauen Oberhemd, den ersten Knopf geöfnet.

Sang et Merde

  Ende der 1960er Jahre.

  1

„Nichts“, sagt er vor sich hin, „nichts …“

   Ein sonnendurchfluteter Morgen. Hoch über dem Vieux Port mit Blick auf Château d’If. Vor ihm ein zur Hälfte geleertes Glas Pastis. Vom Quai des Belges verkehren Ausflugsschiffe zu dem kleinen Fort. So haben sich die Zeiten geändert. Wo früher Staatsfeinde verrotteten, träumen heute lindgrüne Filmregisseure vom großen Erfolg und schlüpfrigen Spielen. Amerikanische Filmstars beherrschen die Szene. Er ist dabei, seine Seele endgültig zu verlieren. Er will nichts wissen von der bewegten Geschichte des kleinen Forts, nichts von den Sagen umwobenen Gestalten, die über 30 Jahre und länger, nicht wenige bis in den Tod, sich auf dieser Insel verzehrt hatten. Er weiß nicht, dass hier das erste Nashorn auf europäischem Boden untergebracht war, wie er ebenso wenig weiß, dass ein deutscher Maler, dieses arme Tier zeichnete und so seinen Zeitgenossen nahebrachte. Und wenn er es wüsste, was könnte er sich dafür schon kaufen?

   „Ich habe vielleicht 250 Menschen umgebracht und viele davon in Stücke geschnitten … doch wie viele weiß ich nicht genau … nur Psychopathen zählen ihre Toten … es nimmt kein Ende … ich spüre es … der nächste Krieg wird kommen.“

   LaBeouf sagt es vor sich hin und zieht an der Bastos.

   In Les Baumettes, wollten sie ihn seiner Existenz berauben. Er hatte keinen Namen mehr. 9211. Sie hatten ihm eine Nummer gegeben. Fortlaufend oder wahllos in den Zauberkasten gegriffen? Er hatte es sich anfangs gefragt. Irgendwann fragte er es nicht mehr.

   Die Zelle teilte er normalerweise mit zwei weiteren Gefangenen. Eine Neun-Quadratmeter-Zelle. Weil er aber ein Paranoider ist, die Wärter und seine Mitgefangenen ständig bedrohte, genoss er die Zelle für sich allein. Für den Moment. Wenn man ihm wieder zwei Genossen in die Zelle steckte, traten sie sich gegenseitig auf die Füße. Sie stapelten sich wie modernde Holzbretter auf engstem Raum. Er faltete die Zellengenossen so lange und so oft zusammen, bis die Wärter ihm wieder die Zelle überließen.

   Ihm allein.

   Seine Zelle.

   Einmal sagte 9211: „Wehrlose, Kinder und Hunde erschieße ich nicht.“

   „Oh, wie edel“, meinte der Zellengenosse, „nur gut, dass der alte Hund schon tot war.“

   „Welcher Hund, ich verstehe nicht?“

   „Naja, der den du nicht erschossen hast.“ Lacht.

   „Kinder und Tiere erschieße ich nicht“, wiederholte 9211.

   „Warum“, wollte der Zellengenosse wissen, „warum das? Kinder werden erwachsen und werden gefährlich.“

   „Was meinst du mit nur gut, dass der alte Hund schon tot war?“

   „Der Hund lebt in anderen Zusammenhängen …“

   „Schlaumeier!“, unterbrach ihn 9211, „Schlaumeier, pass auf, dass du die Nacht überlebst.“

   Der Zellengenosse wiehert auf seiner Pritsche: „Ich bin ein Wehrloser …“

   Der Affe hob nicht mal eine halbe Augenbraue.

   „Auf dem Hof drehten wir mit den Ratten die Runden. Wenn du nicht aufpasst, trittst du ihnen auf den Rüssel.“

   Er wartete auf seine Befreiung. Wusste, seine Leute würden in rausholen.

   Vier Wachtürme, die Sicherheitsschleusen, die Überwachungskameras … Er wusste: Sie würden einen Weg in die Freiheit finden … Doch draußen wird es keine Freiheit geben. Er wusste: Auch draußen wird es stinken. Stinken wie in einem Schlachthof, als wenn man eine trübe Suppe aus Schlachtabfällen kocht. Wie auf einer Abräumhalde. Ein Misthaufen. Ein trauriger Schrottplatz.

   Drinnen war er gefangen in seiner Hoffnung.

   Auch draußen würde er gefangen sein.

   In seiner Vergangenheit.

   In seiner Zukunft.

   Er wird gefangen sein in der Gegenwart.

   Und draußen ist Krieg.

   Es ist Krieg überall.

   Überall.

   Und der Krieg währt ewig.

   Ewig.

   „Die verlieren Männer. Wir verlieren Männer. Die verlieren Skrupel. Wir hatten nie welche.

   Ein Krieg, in dem das Geld fließt wie Blut, wird niemand gewinnen.

   Verlieren kann ihn aber auch keiner.

   Das lassen wir nicht zu.

   Die lassen es auch nicht zu.“

   Und jetzt ist er draußen.

   Man nennt es Freiheit … diese Welt … diesen Zustand.

   Und es stinkt … Und es ist Krieg … Und sie werden sterben.

   Und der Teufel wird sie holen.

   Alle.

   Und er weiß es.

   Er hat es schon immer gewusst.

   Und jetzt ist er draußen.

   Und was hat sich geändert?

   „Nichts,“ wiederholt er, „nichts …“

   Der Mistral geißelt die Stadt und das Umland. Wie immer im Februar schneidend kalter Wind, der vom Zentralmassiv und den Cevennen her das Tal der Rhône herunterbraust. In den letzten Tagen gingen wolkenbruchartige Regenfälle nieder. Und jetzt wischt der Mistral alle Wolken vom Firmament und schafft eine schier unendliche Weitsicht.

   „Das Leben fängt immer am heutigen Morgen neu an, und wann es aufhört, werden wir noch sehen.“

   Er wirft einen knappen Blick über die Schulter. Keine besonderen Vorkommnisse. Diese Bewegung ist so tief in sein Fleisch eingedrungen.

   „Ich bin am Ende, und das ist erst der Anfang.“

   Egal wo er ist, er beobachtet seine Umgebung, ist stets auf der Hut. Und wenn sich etwas tut, dann ist er weg, macht sich unsichtbar. Er ist unauffällig gekleidet. Getönte Brillengläser. Die schwarzen, blau schimmernden Haare glatt zurückgekämmt. Die Haut fahl.

   „Was für ein Ausblick!“ Den kann ihm niemand nehmen.

   „Mein Gott …!“ Wie die Fischerboote einlaufen zwischen den Forts. Er dreht sich um und sperbert in die Runde. Niemand schenkt seinem Gefühlsausbruch Beachtung.

   Er wirft einen Blick hinauf zum Boulevard La Canebière, einst verbannt er die Hanffelder mit dem Hafen, wo aus dem Hanf die Taue für die Marine gefertigt wurden. Das ist schon eher etwas für ihn. Was er im Blick hat, kann ihm keiner mehr nehmen. Das Rathaus hatten die Nazis verschont, daneben noch einige andere historische Gebäude. Die Säuberungsaktion durch ein SS-Polizei-Bataillon wurde nach der Niederwerfung der deutschen Okkupanten scharf von De Gaulles Einheiten verurteilt. In Wahrheit war die Sprengung ein nötiges Übel. Die grausamen Einheiten der Besatzer hatten das Zeichen gesetzt. Kaum waren die weißgrauen Wolken aus Staub und Asche verflogen, restaurierten sich aus den Trümmern die alten Leidenschaften für Schmutz und Verbrechen. Halunken und Ganoven rochen ihre Gelegenheit. Die Ratten, die überlebt hatten, konnten von ihren alten Löchern aus das Terrain sondieren und aufteilen; versehen mit Orden und Verdienstmedaillen des Freien Frankreichs nahmen sie die alten Geschäfte ungehemmt wieder auf.

   Er nimmt einen letzten Schluck von dem unverdünnten Pastis, einen letzten Zug der Bastos, dann knibbelt er die heiße Asche in die linke Handfläche und bläst sie über den Tisch, den Reststummel steckt er in die Jackentasche. Auch wenn ihm die Sonne freundlich scheint, er ist vorsichtig.

   Im Aufstehen überblickt er den Alten Hafen, das azurfarbene Meer. Seine Gedanken fliegen bis Tunis, Algier, hinüber bis Oran.

   „Herrsche und zertrete die Würmer und das Geschmeiß.“ Er streicht sich fahrig durchs Haar.

   „Ich bin der Affe!“

   Dann ist er weg.

  2

LaBeouf quält sich durch dichten Nebel über den Pont de la Boucle. Unter ihm die Rhône. Schwarz und schwer. Die zweiarmige Straßenbeleuchtung mit ihrem trüben Licht erinnert an die Abdunklung während der Besatzungszeit. Er kann kaum zwei Meter weit sehen.

   Es ist 19.30 Uhr.

   Auf der anderen Seite der Brücke springt er auf eine quietschende Straßenbahn und fährt Richtung Bissardon. Am Boulevard des Canuts steigt er aus und schlägt sich durch eine stockdunkle Seitenstraße. Die Rue H. Sabran biegt ab nach links auf die Rue Phillippe de Lassalle. Vorbei am Cimetière de la Croix-Rousse. Dann taucht im Zwielicht des Nebels die blaurote Neonschrift PARADIS-BAR auf.

   „Eine Absteige … so spielt das Leben“, brummt LaBeouf.

   Als er eintritt, erstirbt das Lachen der Anwesenden. Der kümmerliche Rest einer einst vielversprechenden Bande. Ein, zwei Neuzugänge, die er nicht kennt. Nicht kennenlernen will. Wo sind die Träume und Hoffnungen? „Vergiss es“, brummt er, „ein jämmerliches Bild. Pfui Teufel!“

   Am Tisch drehen sich alle zum Eingang. Sie verstehen sofort, der Mann im hellgrauen Trenchcoat, der sein Gesicht unter einem anthrazitfarbenen Filzhut verbirgt, hat den Weg hierher nicht umsonst gemacht. Die Rechnung will beglichen sein.

   „Oscar!“ Ava winkt ihm zu. „Komm setz dich. Wir haben immer auf dich gewartet. Ich lasse gleich deine Lieblingsmelodien auflegen.“

   Aus der Musikbox ertönt ein bayerischer Marsch.

   „Lass, wegen der Musik bin ich nicht hier. Ich will nur etwas abholen. Etwas, das mir gehört.“

   „Ich brauche Zeit“, stöhnt Ava, „heute Abend habe ich nicht mit dir gerechnet.“

   LaBeouf zieht einen Stuhl heran und setzt sich Ava gegenüber. Seine Hände stecken in den Manteltaschen. Er zieht die Schultern in den Nacken, als fröre er.

   „Wo ist Doberman?“

   „Der Deutsche?“

   LaBeouf nickt.

   „Du bist voller geworden, Oscar. Steht dir aber gut.“ Ihre Stimme ist wie reine Seide. „Manche meinten, du seist tot … aber das konnte ich nicht glauben. Nicht Oscar, sagte ich immer. Oscar hat die sieben Leben. Er ist zwar keine Katze …“ Sie lacht verhalten. Die übrigen am Tisch machen es ihr nach.

   „Bemüh dich nicht lang. Gib mir den Koffer, und ich bin weg.“ Er streicht sich über den Bauch. Fünf Jahre … was hat die Dame nur für Vorstellungen … Und das Fett schmilzt von allein, dafür sorgt die Rastlosigkeit … Und die Dame habe ich einmal geliebt.

   „L´Allemand, qui d´autre?“

   „Man hört, er sei wieder bei der Polizei, Bundesgrenzschutz, oder wie das heißt.“

   LaBeouf ungerührt: „Den Koffer, ich wollte keine Wurzeln schlagen.“

   „Lass mir etwas Zeit“, Ava legt einem eleganten Kerl zu ihrer Rechten die Hand auf die Schulter. „Kennst du Marc?“

   „Und Max …?“ Sie will nicht, denkt LaBeouf, sie will nicht …

    LaBeouf betrachtet den Kerl, den Ava Marc nennt. Geschmeidig, denkt er, hat etwas von einem Stierkämpfer vor seiner ersten Corrida. Aber es wird nicht dazu kommen. Sein weinrotes Seidenjacket beult an der linken Brust leicht aus.

   LaBeouf steht langsam auf und in derselben Bewegung zieht er zwei schwere Kanonen. Dem Kerl, den Ava Marc nannte, sprengt er ein Loch in die Stirn. Sein Lachen erstirbt und eine glimmende Kippe fällt auf das weiße Tischtuch.

   „Wisch dir den Mund ab, du hast etwas Kuskus am Kinn“, sagt er an Ava gerichtet.

   Ava greift nach der Serviette und führt sie zum Mund. So ordinär war er ihr gegenüber nie gewesen. „Nicht in diesem Ton, du solltest  dich …“

   Ohne zu zielen schießt er ihr zweimal in den Hals, den er so gerne küsste. Ein schwaches Bedauern zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Doch er bereut nichts.

   Ava fällt nach vorn. Ihr rubinrotes Haar fängt Feuer. Die schmorenden Strähnen stinken. LaBeouf gießt ein volles Glas Rotwein über ihren Kopf.

   Er hatte alles an ihr geliebt und geküsst.

   Nicht nur ihren zarten Hals.

   „Es ist wie es ist.“

Nach etwas fünfzehn Kilometer biegt er in einen kleinen Weg ein, gerade breit genug für einen Wagen. Er hält an und lässt Max aussteigen. Hier führt eine Pontonbrücke in den Fluss. Er durchtrennt den Strick. Max zittert und wimmert.

   „Beiß auf den Knebel.“ LaBeouf verachtet ihn. „Geh auf die Brücke“, befielt er.

   Er schlägt ihn ins Gesicht. Boxt ihn in den Unterleib. Max bricht zu seinen Füßen zusammen. Er wimmert.

   „Eine Kugel in den Kopf ist für Ehrenmänner. Du wirst spüren, wie der Tod langsam von dir Besitz ergreift. Feiger Bastard. Scheißkerl.“

   LaBeouf zieht das Stilett und löst die Sicherung. Mit einem Klack springt die Schneide auf. Er leuchtet Max ins Gesicht. Der Stahl dringt unter dem linken Knie ein. Er zuckt zusammen und schreit. Er verschluckt sich am Knebel. Er hustet. LaBeouf drückt ihm den Stiefel an den Hals. Max bewegt sich nicht mehr. Die Klinge berührt den entblößten Bauch. Sie sucht die Leber. LaBeouf führt sie langsam ein.

Seine Hand spürt, wie Max zuckt. Das Zucken lässt die Klinge ganz eindringen. LaBeouf zieht die Klinge heraus und stößt noch zweimal zu.

   Endlich schiebt den nackten Körper über den Rand des Pontons.

   Lautlos trifft der Körper auf den schwarzen Wasserspiegel und treibt ab.

   LaBeouf wirft ihm die Stablampe hinterher.

  3

„Meine Fresse!“ Doberman sieht sich den Kopf an.

   Sehr genau.

   Zentimeter für Zentimeter.

   Er nimmt sich die Zeit.

   Die Zeit, die er für nötig hält.

   „Da steckte Kraft dahinter, bestialisch, rohe Gewalt“, murmelt er und greift sich den Kopf mit beiden Händen. Hält ihn sich vor die Augen, vor die Nase. „Zertrümmert. Der arme Kerl … ein makabrer Tanz war das … meine Fresse.“ Als wollten sie dem Kerl die Seele rausprügeln. Er legt den Kopf zurück. Nimmt die Brille ab, haucht auf die Gläser, zieht einen Hemdzipfel aus der Hose und wienert. Das macht er dreimal, dann setzt er die Brille wieder auf.

   Er sieht auf die Armbanduhr.

   11:41 Uhr.

   Er wendet sich ab. Hat genug gesehen.

   Schaut nach oben.

   In die Wolken.

   Alles grau, blau durchzogen. Es könnte kräftig Schnee geben. Nein,

es wird kräftig Schnee geben!

   „Wo ist die Sonne?“ Er kaut an einer Handgerollten aus Vietnam. Dann spuckt er aus. „Ich bin sicher, spätestens heute Nacht schneit es. Nicht viel, aber … immerhin haben wir den 1. Oktober. Der erste Schnee kommt immer über Nacht. Eigentlich hätten wir schon längst … wenn es nach mir ginge … also ich mag Schnee, wenn ich ihn auch nicht gerade liebe …“ sagt er zu dem subalternen Beamten, der ihm seit heute früh wie ein Schatten folgt. Einer von den jungen Füchsen. Oberfährich im jägergrünen Rock. Der Bundesgrenzschutz hat es eilig, die leeren Regale aufzufüllen. Man nimmt, was man kriegen kann.

   „Ja, dann wollen wir mal“, brummt Doberman und spuckt braungrünen Speichel zwischen die blankgewichsten Stiefelspitzen.

   Der Schatten horcht auf. „Was machen wir mit ihm?“, fragt er.

   „Das Übliche.“ Doberman zieht die feuchte Luft durch die Zähne. „Erst kommt der Nebel … dann der Schnee. Siehst du, wie der Nebel aufsteigt über den Wiesen … da unten am Fluss?“

   „Sie wollen damit sagen …“, der Schatten weiß, dass sein Partner kompliziert sein kann. Wenn es ihm danach ist. Er ist gewarnt worden.

   „Fotografieren, auspacken, dann wieder einpacken und wieder fotografieren und dann ab damit. Wir nehmen hier alle Spuren auf. Der Tatort ist´s hier sicher nicht … Schleifspuren, Abdrücke … das Übliche eben. Doch das macht die Dorfpolizei, das muss dich nicht kümmern. Du schaust dir alles an, alles! Verstehst du …? Und versenkst es in deinen Hirnwindungen und hast es parat, wenn ich dich was frage. Von jetzt an bist du meine Bibliothek. Natürlich nur für die gemeinsamen Erlebnisse. Verstanden?“

   „Verstanden“, antwortet der Schatten etwas irritiert, etwas amüsiert, „gemeinsame Erlebnisse …?“, was soll denn das sein? „Ich denke gerade, wenn der Müllsack später entdeckt worden wäre … ich meine, wenn es früher geschneit hätte, dann wäre das eine einzige Schneedecke hier …“, beginnt er laut zu überlegen, „… ich hätte die Leiche nicht auf einer wilden Müllkippe abgeladen. Sowas muss doch ins Auge fallen … vielleicht hat der Täter …?“

   „Ja so ist das eben … es kommt meistens anders. Und die meisten Täter denken nicht viel oder überhaupt nicht. Und den Kopf hätte ich nicht dazugelegt. Und wenn ich ihn schon grün und blau und schwarz geprügelt hätte, hätte ich ihn nicht so sauber abgetrennt. Wie heißt du eigentlich, Kollege?“

   „Staub … wie der Staub.“

   „Wie der Staub“, wiederholt Doberman, „na, dann …“

   „Sind zu aufgeregt. Eben keine berufsmäßigen Killer. Oder es sollte nach einer unüberlegten Tat aussehen, oder … vielleicht passte er mit Kopf am Rumpf nicht in den Sack.“

   „… Hundefutter, vielleicht. Wildschweine. Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten. Am Ende werden wir es herausfinden.“

   „Sie glauben, die Täter haben damit gerechnet, dass Wild …?“

   Dobermann unterbricht ihn. „Wer sagt, dass die Täter den armen Kerl hier entsorgt haben? Das kann irgendwer gewesen sein.“

   „Der Schrebergärtner klingt glaubhaft. Wollte Bauschutt wegschaffen. Sein Dackel kläfft und kommt nicht wieder. Er hinterher. Da sieht er den Dackel, wie er scharrt und an einem Müllsack zerrt.“

   Doberman dreht sich um und schaut den Schotterweg entlang bis zur Kurve. „Ja vielleicht … vielleicht auch nicht.“ 50 Meter weiter nach rechts kommen die Schrebergärten und dann die Hauptstraße. Man kann den Altrhein riechen … das Ufer … das dümpelnde Wasser … Entfernung …? circa hundert Meter den Abhang runter … der Geruch brackig … ein Seitenarm, der fast stillsteht. Die Schrebergärtner haben ihre Parzellen schon winterfest gemacht. Da zeigt sich in dieser Zeit so gut wie nie eine Menschenseele. Reiner Zufall, dass da noch einer an seiner Hütte rumwerkelt und den Schutt abfährt. Und wenn er kein Dackelfreund ist? Katzenbesitzer finden nie Leichen.

   Er grübelt. Verschränkt die Finger und lässt die Knochen knacken. Eine frische Schneeschicht, und wir hätten erst im nächsten Jahr von der Leiche erfahren. Oder nie.

   Nach einer Weile sagt er: „Oder nie.“

   „Was …? Sie meinen …?“

   „Alles ist möglich“, sagt Doberman und findet seine Bemerkung passend, aber nicht sehr aufschlussreich. Ich muss nett zu dem Kerl sein, noch mal nach seinem Namen fragen, bevor er mir verhungert, denkt er, wir werden wohl noch eine Weile zusammenarbeiten. „Ein Leichentuch weiß wie Schnee … Wie heißt du eigentlich noch mal, Kollege?“

   „Asche ist reines Weiß“, sagt Staub. „Staub. Ich heiße Fritz Staub, eigentlich Friedrich.“

   Gar nicht so dumm, denkt Doberman. Asche ist reines Weiß.

   „Ich habe in den Müllsack reingesehen“, bemerkt Staub nebenbei, „alles dran, ich meine, der Körper ist vollständig. Hände, Geschlechtsteil, alles dran. Der Kerl war nackt, als man ihn in den Himmel schickte.“

   „Himmel ist gut … bist du dir da sicher? Alles dran … klingt gut … ein Schwanz, ein Sack und zwei Eier. Hast du nach den Brustwarzen geseh´n? Sind die noch dran? Das Arschloch, hast du reingeguckt? Komm, lass gut sein, Kollege, das soll der Veterinär machen.“ Doberman drückt das Kreuz durch und macht eine Kopfbewegung gen Himmel. „Ich denke, die arme Seele schmachtet schon. Mach den Sack wieder zu. Und versau keine Spuren. Wir wissen schneller als uns lieb ist, wer der Kerl war. Der wird uns noch Ärger machen. Ich hab sowas im Urin.“

   „Aha, Bauchgefühl“, meint Staub, „wissen, wer war …“

   „Wenn ich Urin sage, meine ich auch Urin  … wissen, wer war … und er ist nicht mehr … da weiß ich auch nicht weiter.“

   „Möchte nicht wissen, was hier nachts so alles los ist.“

   „Ich schon, Staub … ich schon!“

   „Ich glaube, wir müssen uns jetzt aber beeilen, es fängt zu schneien an. Herr … ääh …“

   „Sag Doberman zu mir, einfach nur Doberman … Dich nenn ich Staub, gefällt mir besser als Fritz. Und auf Schnee freue ich mich immer.“

   „Danke Dobermann“, sagt Fritz erleichtert.

   „Naaaaaiiiiin …, das eben nicht … Mann … Ich bin kein Hund, kein Dobermann. Maaaaan … ein langes A mit einem kurzen N … Doberman, einfach nur Doberman.“ Er spuckt aus und zündet die Zigarre umständlich mit einem Sturmfeuerzeug an.

    „Tschuldigung“, Staub schluckt, „wusste nicht, dass du …“

   „… dass ich kein Hund bin? Du wusstest es nicht? Der Dobermann ist eine Kreuzung zwischen Pinscher und Deutschem Schäferhund … Und …? Sehe ich so aus …?“

   „Asche ist reines Weiß“, wiederholt Staub, als würde ihm diese Formel das Gleichgewicht zurückbringen.

   Oder ich sage Asche zu ihm, denkt Doberman. Asche zu Staub. Ein Staub im jagdgrünen Rock des BGS, die Oberfähnrichssterne blank poliert, DLRG-Abzeichen in Silber, Deutsches Sportabzeichen in Bronze. Die jungen Füchse tragen heutzutage billigen Tand auf der Brust, stolz wie die Spanier. Er grinst. Dann, so als will er ihn beißen, ihn zerfleischen, die Gedärme aus der Bauchdecke reißen, ihm alles zeigen, was ein Höllenhund kann, wenn man ihn reizt, fletscht er die Zähne und murrt: „Sag nie mehr Dobermann zu mir. Da bin ich empfindlich. Wir müssen miteinander auskommen. Das geht nur, wenn du dich an die Regeln hältst. Verstanden?“

   „Verstanden!“ Staub schlägt die Hacken zusammen. „Recht so?“

   Doberman macht: „Rrrrrrrrr … wau … wauwau!“ Anschließend lacht er irre, schlägt sich auf die Schenkel, springt wie ein wilder Hund, „roarrrr … roaaarrr …!!!“ und prustet: „Staub, du musst noch viel lernen … noch sooo viel lernen. Wir werden es miteinander versuchen.“ Und mit einer Bewegung wie ein einschlagender Blitz sticht er Staub mit drei Fingern in die Leber.

   Staub zuckt zusammen. Hält aber stand.

   „Ausfallschritt … Parade … Riposte … du musst immer auf der Hut sein, Staub. Der Gegner lauert überall. Und schone die Leber … und die übrigen Innereien auch. Es ist nicht das Bier, das dir den Garaus macht, es sind die Kutteln, die aus der Reihe tanzen.“

   Staub hält die Luft an.

   Doberman: „Ist dein Kinderspielzeug eigentlich geladen? Astra ist ein himmlischer Name, aber eine Scheißpistole … demnächst holst du dir eine P 1 … oder besser: wenn du mit mir unterwegs bist, wirst du auch von mir bewaffnet … du bekommst einen Python … der beißt zu!“

   „Und was ist jetzt?“, fragt Staub.

   Doberman lacht.

   „Was meinst du, Staub? Was soll sein?“

   „Alles …!“

   „Na dann!“

  6

„Du erhältst selbstverständlich deinen Anteil. Ist doch keine Frage.“ Marseille geht auf LaBeouf zu und umarmt ihm. „Ich habe ihn für dich angelegt. Und er arbeitet. Oder dachtest du, ich habe die Scheine zwischen Mottenkugeln in Koffern verwahrt?“

   LaBeouf muss lächeln.

   „Es lief nicht alles wie geplant. Wir mussten die Morgenröte versenken, der Zoll war dicht auf. Die Hälfte der Ladung ist dabei draufgegangen. Aber wie gesagt, dein Anteil arbeitet, und wann immer du willst, löse ich ihn aus. Und du kannst machen damit, was du willst.“

   „Du bist der alte Verführer und Zuhälter … wie früher …“

   „Lass das Geld in meiner Produktion, und du verdienst dir eine goldene Nase. Und jetzt bekommst du Handgeld, so viel du willst … du sollst dir doch was leisten können.“

   LaBeouf fährt sich an die Nase. „Golden soll sie sein …? Du hättest mir ja wenigstens zwei steile Titten in den Knast schicken können, damit ich aufgeklärt werde.“

   „Oskar, das war nicht wie auf dem Ponyhof, der Zoll hatte uns im Visier, das ist nicht die Gendarmerie, der Zoll lässt nicht mit sich reden. Da durfte es keine Brücken zu mir geben, aber auch nicht die kleinste … auch nicht zwei steile Tittchen. Ich denke in deiner Luxuszelle hast du deinen süßen Pagen gevögelt und von besseren Zeiten geträumt. Also, Schwamm drüber, wir denken nach vorne.“

   Schwätzer, denkt LaBeouf, alter Schönschwätzer. Und sagt: „Du wirst mich überzeugen, dann kommen wir zusammen. Andernfalls … und ich mach´s, wie ich´s sage: Du wirst gefickt bis in die Lungenflügel.“

   Das Zimmer über der Billardhalle ist noch wie früher. Der Tisch mit dem grünen Filz. Die unbequemen Holzstühle. Die Ledercouch in der Ecke. Die Bar mit der unvermeidlichen Flaschensammlung und die endlose Spiegelwand. Schon damals … als wollte Marseille einen Film drehen.

   „Wer sind die drei Krüppel auf dem Sofa?“

   Marseille wiegt den Kopf langsam hin und her. „Krüppel? Du bist noch genauso arrogant wie früher. Ich dachte hinter Gittern wird man demütig.“

   „War nicht böse gemeint. Ein schlechter Scherz. Vielleicht nicht sehr gelungen …“

   „Komm“, unterbricht ihn Marseille, „ich stelle sie dir vor. Alles alte Freunde. Kameramann, Beleuchter, Tonmeister … mein eiserner Stab. Ich erkläre dir alles. Du wirst begeistert sein.“

   „Ein Männerclub?“

   „Die Mädchen siehst du später. Erst zeigen wir dir, was wir vorhaben. Das Drehbuch ist von mir. Wir drehen fünf Varianten. Alles synchronisiert. Picobello … picobello! Deutsch, Französisch, Italienisch. Eine Fassung für die Staaten, für Japan eine und eine für Südamerika. Wir steigen groß ein ins Geschäft. Ich habe die Verbindungen.“

   „Und was ist mein Part?“

   „Du spielst die Hauptrolle. Das ist doch das, was du kannst.“

   LaBeouf muss lächeln. So hatte er sich das Treffen nicht vorgestellt. Ohne Blei und Blut. Langweilig. Denkt er. „Aber vielversprechend …“, sagt er nach einer geraumen Weile.

   „Was meinst du?“ Marseille öffnet die Arme, hebt die Hände wie ein Dirigent vor dem ersten Einsatz. „Na …? Oscar …?“

   „Vielversprechend. Ich glaube, wir werden Erfolg haben.“ Sagt LaBeouf, aber was er denkt, sagt er nicht.

  7

Doberman kurbelt das Seitenfenster ein paar Zentimeter herunter, schnipst den abgekauten Stummel in den Schnee. Er giert nach Frischluft. Der Mercedes 110 biegt von der Hauptstraße rechts ab auf den Kiesweg. Der Wagen schwimmt förmlich in die Kurve und schlägt hinten aus wie ein störrischer Esel. Endlich greifen die Reifen auf der dünnen Neuschneeschicht, und der Wagen hält Spur.

   „Ist das ein Rumgerutsche …“, brummelt er, „… kann auch zu Fuß schliddern.“ Aber er liebt den Wagen. Wenn er allein, und wie er es nennt, für sich unterwegs ist, fährt er in seinem privaten Wagen. Merces 110. Der Mercedes ist im Winter so beschissen wie kein anderes Auto… „sacrément misérable“… im Schnee versagt er, doch was soll er machen? Er liebt diesen Wagen … ArabergrauArabian Grey … In Wirklichkeit ist die Farbe ein mit den Jahren stumpf gewordenes Stahlgrau. Im Kofferraum ruht eine schwere rostige Eisenplatte, sie hilft dem Wagen auf Spur zu bleiben. Gibt Gewicht, dass die Räder im Schnee besser greifen können. Dieser Winter wird noch zuschlagen. Mit Vehemenz …! Da ist er sich sicher. Der Oktoberschnee ist erst der Anfang.

   Als er die Schrebergartensiedlung erreicht, lässt er den Wagen ausrollen, lenkt ihn nach links und stoppt an der ersten Parzelle. Er steigt aus und reckt sich. Reifenspuren. Steht zwischen seinem Wagen und einem mit Xylamon frisch gestrichenen Jägerzaun. Er mag den Geruch von Xylamon. Ein ehrlicher Geruch. Sofort schlägt sich ein Geschmack nach Gift und Schutz, Schutz vor Zerfall und Holzwurm, auf seine Zunge. Er spuckt aus. Genau zwischen die blankgewichsten schwarzen Stiefelspitzen. Frische Spuren im Schnee. Xylamon verspritzt. Der Schrebergärtner ist unermüdlich. Wohl vom Winter überrascht.

   Doberman schreitet den Jägerzaun ab. Seine Augen durchsuchen das Terrain. Bis jetzt nichts Auffälliges. Keine Menschenseele. „Keine Menschen … keine Seele …“ brummt er, fasst sich nachdenklich an das Brillengestell, reibt, dann streicht er mit dem rechten Zeigefinger über den Schnauzer, mit der ganzen Hand prüfend über Kinn und Wangen. Die Haut rau und gerötet, er fühlt es. Er liebt solche Gedanken. Sein gegenwärtiger Chef, ein Studierter, kümmert sich ausschließlich um die Verwaltung und das Personalwesen … und um die Presse … und die Politik … und um das gesellschaftliche Leben. Doberman obliegt das operative Geschäft. Er hat sozusagen freie Hand. Völlig freie Hand, wenn er Erfolg hat. Wenn nicht … doch so etwas gibt es nicht. Er ist ein Ausgeliehener. Er ist der Joker, wenn andere versagen oder nicht weiterkommen. Er ist ein Zigeuner. Und es gefällt ihm so. Dass der Chef ihm einen Schatten verpasst hat … Asche und Staub … reines Weiß … „was weiß ich? Wird schon werden.“,

   Es ist jetzt 9.15 Uhr. Sonntagmorgen.

   Die Identität des Toten war schnell ermittelt. Er taucht in den Akten des LKA Stuttgart auf. Die französische Gendarmerie hatte vor drei Wochen bei der deutschen Behörde anfragen lassen, doch in der Bunderepublik Deutschland war der Tote nicht bekannt. War nicht aufgefallen, nicht straffällig geworden. Der Bundesgrenzschutz übernimmt die französischen Daten, die üblichen Aktenvermerke, Fingerabdrücke, einige Fotos in Kopie, was eben die Gendarmerie nationale übermittelte. Name: Stephan Antonis. Alter: 28 Jahre. 182 cm groß, 82 kg schwer, mittelblonde Haare. Staatsangehörigkeit: französisch, geboren im Libanon. Ob er allerdings aus Beirut stammt, wie er bei den französischen Behörden angab, ist nicht gesichert, ob er überhaupt aus dem Libanon stammt, ist ebenso ungewiss. Vielleicht stammte er aus Jugoslawien, vielleicht aus Korsika, gemeldet war er in Straßburg. 1960 wurde er eingebürgert, nachdem er nachweisen konnte, dass seine leibliche Mutter Französin war. Er sei bei Pflegeeltern in Beirut aufgewachsen, die in der Vorstadt eine kleine Schlachterei betrieben. Berufsangabe Fischhändler, gelernter Metzger. Aufenthalt im Raum Straßburg, auch in Kehl und Baden-Baden, vermutlich auch im Schwarzwald, in der Regio. Nichts Genaues. Er ist nicht beobachtet worden. Einzelne, wenige Erkenntnisse … ansonsten Mutmaßungen, Vermutungen. Vorstrafen: Schwere Körperverletzung, unerlaubter Waffenbesitz, Erpressung, Zuhälterei. Gefängnisaufenthalte: Les Baumettes, Marseille, Bicêtre, südwestlich von Paris, Melun, Île-de-France. Man kennt diese Anstalten. Also kein Unschuldslamm. Man kennt diese Jungs. Dickes Fell und ein kantiges Kerbholz auf die Stirn genagelt. Ein schwerer Junge also, doch in Deutschland nicht auffällig. Sicher kein Einzelgänger. Er wird eine Familie haben. Marseille? Vielleicht. Sein Boss wird ihn in die Grenzregion geschickt haben. Die Regio hier ist interessant. Ein Fall für die Franzosen? Nichts ist klar. Wenn man ihn in Alemagna abgemurkst hat, klebt er an uns wie Hundescheiße.

   Doberman sieht sich nochmal um. Die wilde Müllkippe oben am Hang. Die Stelle wo der Müllsack gefunden wurde. Mit den Resten von Antonis? Wenn er es denn ist. „Läuft ja wie geschmiert … mir zu glatt alles, so …“ Er ist misstrauisch. Von Natur aus.

Auf jeden Fall haben die Dorfgendarmen aufgeräumt.

   Er verlässt die wilde Müllkippe, geht einen schmalen Pfad hinunter, nach Westen hin, zum Rhein. Das kleine bisschen Schnee taut weg, je näher er dem Rhein kommt. Oben auf dem Hügel der Müllkippe herrscht ein eisiger Wind. Er bringt Frost. Das Wasser im alten Rheinarm ist immer in Bewegung, auch an den seichten Stellen zum Ufer hin. Es gibt Wärme ab, wenn auch wenig … immerhin ein wenig und wenig ist nicht nix. An modrigen Uferstellen treten Eisblasen an die Oberflüche, ein Blütenreigen, so schmal wie ein Gebetsteppich. So etwas hat er an den kanalisierten Passagen nie beobachtet.

   Doberman setzt sich auf einen Stein. Nimmt die Brille ab, reibt die Augen, setzt die Brille wieder auf. Gegenüber, auf der Schweizer Seite, das gleiche Bild wie auf der deutschen, keine Häuser, keine Hütten, offenes Gelände, ein paar mächtige Findlinge, nach 50 Metern ins Land hinein die Uferstraße.

   „Stephan Antonis“, murmelt er vor sich hin, „könnte auch aus Rumänien stammen.“ Er wurde mit einem Kantholz oder einem harten Brett hinterrücks erschlagen. Schädelbasisbruch. Der Schuss ins Herz hatte wohl eher symbolischen Charakter. Ein glatter Durchschuss. Durch den Kopf einer tätowierten Eidechse. Der Kopf wie durch einen Kutter gejagt. Der Rumpf gequält. Der Schuss war so gesetzt, dass die Stelle mit der Tätowierung nicht übersehen werden konnte. Die Schwarte dort nicht malträtiert.

   Ein Zufall?

   Doberman steht auf und klopft sich ab. Sand, Spuren von Moos. Zieht aus der Brusttasche eine verspiegelte Pilotenbrille. Tauscht die Brillen aus. Seine Augen sind empfindlich. Und auf dem Rückweg werden ihn die Sonnenstrahlen beißend treffen. Oben auf der Müllkippe gleißender Schnee. Sonnenstrahlen wie bösartige Blitze … von seinen Feinden auf ihn geschleudert … Blendung … mittelalterliche Strafe … Verlust des Augenlichts … „sacrément, wenn ich geblendet werde!? Mein Damaskus!“ … naja, so schlimm wird´s nicht kommen. Doch es würde ihm schon reichen, wenn er zur Müllkippe tappen muss wie ein bekiffter Derwisch.

   Eine blau und grün schillernde Eidechse, eine gut gearbeitete Tätowierung, geht es ihm durch den Kopf.

   Wer lässt sich so was machen?

   Wer kann so etwas stechen?

   Asiatisch?

   Absolut asiatisch. Keine Frage.

   „Eidechse, bei Gefahr wirfst du den Schwanz ab …“ Doberman denkt nach, murmelt: „… abscheuliche Vorstellung … aber sinnvoll, wenn der Schwanz nachwächst … wenn nicht …? Scheiße!“

   Er muss lachen.

   „Verdammte Scheiße! Alles gerät aus den Fugen. Scheiße!“

   Er schlägt mit der flachen Hand durch die Luft.

   „Und der Skipper …?“ Wie passt der ins Bild?

  10

LaBeouf kommt mit unsicheren Schritten die wenigen, mit rotem Teppich belegten Stufen herunter. Mit einer theatralischen Bewegung streicht er das geölte Haar aus der Stirn.

   „Ich war nicht schlecht“, sagt er zu Marseille und beginnt seine Uniformjacke aufzuknöpfen. „Wenn du mich gehört hättest … Ich habe alles versucht … sogar gedroht habe ich ihm. Ich werde es ihm untersagen … fertig aus! Er macht uns noch alles kaputt. Ich gebe hier die Befehle.“

   Marseille benetzt die Lippen, sagt aber nichts. Denkt, hoffentlich ist er konzentriert. Wenn er seine Paranoia pflegt, können wir einpacken.

   „Ja, ich weiß, er ist ein alter, enttäuschter Mann“, LaBeouf bemerkt dies, als sei es ihm lästig, „ich wollte es ihm ausreden, aber er versteift sich so … als sei es seine Pflicht. Faselte von Erbe, von Vermächtnis …“ und schleudert die Uniformjacke mit einer weit ausholenden Bewegung hinter sich. „Von mir aus können wir.“

   Marseille tritt zur Seite. Er gibt den Umstehenden Anweisungen. Er dirigiert seinen Stab. Er gestikuliert. Ist leicht überdreht.

   LaBeouf öffnet die Gürtelschnalle, knöpft den Hosenladen auf, geht mit beiden Daumen unter die Hosenträger und drückt sie über die Schultern. Die schlammgraue Stiefelhose gleitet nach unten und legt sich über die Stiefel.

   Marseille gibt Anweisung, ihm aus der Hose und den Reitstiefeln zu helfen. Er tritt hinter LaBeouf, stützt ihn und flüstert etwas in das rechte Ohr. Die Umstehen können es nicht hören. Dann tritt er nach hinten weg ins Halbdunkel. „Ein Opfer der Schwerkraft“, murmelt er vor sich hin.

   LaBeouf steht mit nacktem Oberkörper da. Bleich. Etwas gelb. Er ist fett geworden. Der schwere Bauch zieht nach unten. Alle Haare rasiert. Lediglich ein leuchtend weißes Lendentuch bedeckt seine Scham.

   Marseille überblickt die Szene, wie ein Feldherr von seinem Hügel herab. Er gibt ein Zeichen. Hat alles im Blick.

   Zwei Wachsoldaten schleifen den General über die Treppenstufen. Und werfen ihn vor LaBeouf auf den Boden. Ein Soldat kniet auf seiner Wirbelsäule und reißt ihm einen Arm schmerhaft nach hinten.

   „Schluss damit!“, schreit der glatzköpfige General mit belegter Stimme. „Das hat doch keinen Sinn mehr.“ Der General ist kaum zu verstehen. Ein Rinnsal zieht einen blassen Blutstreifen über sein Kinn. Einige Blutstropfen fallen dekorativ auf das Parket.

   „Ich muss es tun“, erwidert LaBeouf mit fester Stimme. „Sie sollen meinem Beispiel nicht folgen. Sie tragen keine Verantwortung, mein General.“ Er schenkt dem General, der sich vergebens aufbäumt, keine Beachtung. Er bereitet sich auf seine Tat vor.

   Hinter LaBeouf baut sich eine mächtige Gestalt auf. Sie ist nur als dunkle Silhouette wahrzunehmen. Mit einem Knall springen die

Scheinwerfer an und erfassen den knienden LaBeouf und die Gestalt hinter ihm. Der Schirm der Militärmütze überschattet die Gesichtszüge. Sie erscheinen wie von einem dunklen Netzt überzogen. In ihren Händen hält sie ein Shin-Gunto. Die Blutrinne blitz auf im Licht der Scheinwerfer.

   Die Wachsoldaten knien jetzt gemeinsam auf dem Rücken des Generals. Er kann sich nicht mehr bewegen. Doch er atmet schwer. Hat die Augen fest geschlossen. Und röchelt.

   LaBeouf hält einen kurzen Dolch mit gerader, spitz zulaufender Klinge in seiner Rechten. Mit der linken Hand reibt er an der linken unteren Seite seiner Bauchdecke, auf die er jetzt die Messerspitze setzt.

   LaBeouf erstrahlt hell weiß, die Haut durchscheinend, blutleer. Die Schwertklinge, die über seinem Haupt schwebt, funkelt jetzt rotgelb wie brennender Stahl.

   Die dunkle Gestalt schiebt die Militärmütze in den Nacken und zeigt ihr Gesicht …

   „… und Gott sahe das es gut war. Und Gott sprach. Es lasse die Erde auffgehen Gras und Kraut, das sich besame und fruchtbare Bewme, da ein jglicher nach seiner art Frucht trage, und habe eigen Samen bey im selbs, auff Erden. Und es geschach also. Und die Erden lies auffgehen. Gras und Kraut, das sich besamet ein jgliches nach seiner, und Bewme die da Frucht trugen, und jren eigen Samen bey sih selbst hatten, ein jglicher nach seiner art. Und Gott sahe das es gut

war. Da ward aus abend und morgen der dritte Tag …

   … es ist Marseille, der seine ewige Litanei vorträgt.

   LaBeouf stößt die Luft aus den Lungen … es gibt kein Zurück … schreit ein „Haaa … aau!“, dass Luft in die Lungen einzieht und zwingt den Dolch in die Bauchdecke. Seine Gesichtszüge spiegeln die Entschlossenheit der Seele. Der ganze Körper beginnt zu zittern. Mit aller Kraft krümmt er den Rücken und zieht einen waagrechten Schnitt quer über seinen Magen. Er schlitzt sich den Bauch vollkommen auf. Blut quillt aus der Öffnung, läuft über die Bauchdecke hinunter bis in seinen Schoß. Das Lendentuch färbt sich dunkelrot.

    „Lass mich nicht zu lange leiden!“ Die letzte Kraft weicht aus dem Körper. LaBeouf sackt nach vorne.

   Der bloße Nacken bietet sich dem Schwert dar. Marseille zögert. Sieht, wie LaBeouf taumelt und auf das Parket kippt.

   Das Shin-Gunto saust nieder. Doch der gewaltige Schlag geht fehl. Die Klinge verletzt LaBeouf an der Schulter.

   „Auf! Frisch zu …!“ spricht Marseille sich Mut zu.

   LaBeouf windet sich in seinem Blut. Rollt auf dem glänzenden Parket hin und her. Gedärm quillt aus der Bauchwunde.

   Marseille hebt erneut das Schwert. Blut läuft an der Kehlung entlang. Mit letzter Kraft lässt er die Klinge niedersausen. Sie trennt den Kopf halb vom Hals. Eine Blutfontäne ergießt sich über den Boden.

   „Gestorben!“, schreit Marseille, „gestorben … das saß, das hätten wir im Kasten.“

   Der General befreit sich endlich aus der Umklammerung. Steht auf und murmelt etwas wie „Statisten werden für zu wenig Geld gequält … diese paar Pfennige … Das nächste Mal schlag ich ihm den Kopf ab. Dieses Gezappel, wenn ich …“

   „Ein zweites Mal mache ich das nicht.“ LaBeouf wischt sich mit

bloßen Händen das Blut ab. Er nickt dem General zu. „Ich weiß, Sie sind vom Fach, aber das Drehbuch hat es so vorgesehen. Marseille meint, es sei wirkungsvoller so.“

   „Wirkungsvoller?“, der Glatzköpfige rollt die Augen.

   „Was wollen Sie? Die Amerikaner hätten Sie aufgeknüpft, wenn sie Sie gefunden hätten. Hier bekommen Sie mehr als nur ein Gnadenbrot … außerdem können Sie einen Offizier spielen, der weiß, was Ehre heißt.

   „Das Drehbuch ist ein Witz“, flüstert der General.

   „Die japanische Fassung dürfen Sie einrichten“, flüstert LaBeouf zurück, „ich kläre das mit Marseille. Da dürfen Sie dann Harakiri spielen, und ich hacke Ihnen den Schädel ab.“

   „Ich würde lieber einen Nazi-General spielen. Die Uniformen sind schmucker. Ein Feldmarschall sieht wie ein Weihnachtsbaum aus. Das kommt bei meinen Landsleuten gut an.“

   LaBeouf prustet. „Ich rede mit Marseille. Bei der nächsten Produktion polieren wir Ihnen die Glatze, dazu ein Monokel, und heißen werden Sie von Falkenstein oder Ritter von Stroheim … das dürfen Sie sich aussuchen. Dann sind Sie endlich das, was Sie wirklich sind … Meine Ehre heißt Treue … Herr Brigadeführer Krumm … das mit dem Fuhrunternehmen ist doch nur Tarnung.“

   Der Glatzköpfige mit der Boxernase lacht nicht. Er würdigt LaBeouf

keines halben Blickes. Dreht sich um. Geht ab.

   „Ich habe Sie im Blick“, ruft ihm LaBeouf nach, „Sie stehen unter ständiger Beobachtung. Und wenn es mir gefällt, lass ich sie über die Klinge springen. Kapiert, Sie Nazi-Schwein?“

   Die Regieassistentin eilt mit einem Frotteetuch herbei und reicht es LaBeouf, mit überschwänglichen Bewegungen. Sie imitiert einen Hofknicks, tut als habe sie den Sonnenkönig vor sich.

   Er nimmt das Frotteetuch schweigend. Riecht lange daran. Atmet tief ein und aus. Wischt sich Brust und Bauch ab. Dann sagt er: „Hat sich wie echt angefühlt.“ Lässt das Frotteetuch vor sich auf das Parket fallen. „Eigentlich zu schade, für einmal abfrottieren, aber ich liebe keine gebrauchten Tücher. Hat so was Vergängliches.“

   Marseille lacht. „Sei froh, dass du kein Schlitzauge bist. Du wärst tot, mausetot. Wir können zufrieden sein. Richtig geschnitten, stellen wir mit den Aufnahmen noch eine japanische Fassung zusammen. Wisch dir die Soße ab. Morgen hast du frei, für die Außenaufnahmen brauchen wir dich nicht.“

   „Ich gehe duschen. Nein, ich nehme ein Vollbad“, sagt LaBeouf, „mit viel Schaum und Champagner.“

   „Nimm die Kleine mit in die Wanne. Die Regieassistenz würfelt ja schon um dich. Oder ist Nathalie mit von der Partie?“

   „Die grünen Buben von der Assistenz kannst du behalten“, meint

LaBeouf, auf die Frage nach Nathalie geht er nicht ein. Er winkt der Assistentin zu, die ihm das Handtuch gebracht hat. „Von den Toten auferstanden … das mach mir mal einer nach.“ Er lacht. Reißt das besudelte Lendentuch von den Hüften und wirft es nach Marseille. „Ein Andenken für dich, ich brauch ´s nicht mehr. Und lass den alten SS-Schergen nicht aus den Augen. Der Mann ist nicht ungefährlich.“

   „Aller Schrecken schon vergessen?“, fragt Marseille und fängt das Tuch auf. Der Comandante hatte mehr Mumm früher, denkt er bei sich. Verdammt. Reinste Götterdämmerung. Aber wir bauen ja alle langsam ab. Verteufelt fies ist er ja noch immer.

   „Schwarzer Regen …“, raunt LaBeouf, „schwarzer Regen …“

   Er steht nackt da. Er gefällt sich so.

   Die rothaarige Assistentin bringt ihm den Morgenmantel und hilft ihm hinein.

   Nein, denkt LaBeouf, es sieht so einfach aus. Aber ein gespielter Tod ist auch ein Tod. Er lächelt die Assistentin an und sagt: „Danke, es geht schon. Babsi, oder wie war doch dein Name?“

   „Nathalie“, sagt die Assistentin, „ich heiße Morgane.“

   Wie geheimnisvoll, LaBeouf ist beeindruckt. „Schwarzer Regen“, flüstert er, „schwarzer Regen, Morgane.“

   Marseille steht wie abwesend in einer hinteren Ecke. Er lächelt und raunt: „Und Gott machet zwey grosse Liechter, ein gros Liecht, das den Tag regiere, dazu auch Sternen. Und Gott setzt sie an die Feste des Himmels, das sie schienen auff die Erde und den Tag und die Nacht regierten, und scheideten Liecht und Finsternis“.

      „Hat man dir schon von meinem Schlafzimmer erzählt?“, fragt LaBeouf.

   Morgane öffnet leicht den Mund und staunt, für einen Augenblick ist sie sprachlos. Dann sagt sie: „Ich kann auch geheimnisvoll, so schwer ist das nicht.“

   „Und?“

   „Ich bin nicht ängstlich“, sagt sie.

   „Alors, allons-y …!“, sagt LaBeouf sehr ernst.

Der Schattenwurf des Jean-Pierre Melville. Jetzt (Januar 2012) war ich jede Nacht unterwegs, aber ich hatte ja nicht das Glück (hier im schwarzen Wald) Isabelle Corey zu entdecken, ich drehe ja auch keinen Film wie Bob le Flambeur, oder sonst etwas. Alte Gedichte, Texte durchsehen – zum Teil bis zu vierundvierzig Jahre alt – ordnen und aussuchen, ist wie eine Fahrt durch die nächtliche Stadt, durch Straßen in die gewisse Dunkelheit, ich erlaube mir zu sagen, in unsere Dunkelheit, in unsere Finsternis, in den Abgrund der Seelen. Und dann stehen wir wieder im Licht und es ist Morgen, es ist Tag und wir sehen weiter … (aus Ein Blutbad und Melancholie, Vulgärimpressionismus, Karin Kramer Verlag, Berlin 2012). In den beiden schwarzen Romanen FORESTA NERA (Polar Verlag 2018)und MATADERO (Luzifer Verlag 2023) wimmelt es nur so von Szenen, die auf den Eiskalten Engel abzielen, in der Rue Watt (Eine einsame Straße/ farblose Katzen/ streunen/und huschen vorbei/ sie bleiben nie stehen/ weil es niemals dort regnet/ Der Tag/ ist weniger schön. Boris Vian), der Mord im Nachtclub, am Gare d´Austerlitz usw.

 Im Manuskript zu SANG ET MERDE tritt der Leibhaftige selbst auf, allerdings inkognito.

Hans Dieter Huber schreibt:

Hey Lowdy Mama – Beginnings of A Master-piece. Die Straßen von Rom sind voller Müll. Überall Fußspuren. Wenn ich zurück in mein Hotelzimmer kehre, wo Botticellis Nichte auf mich wartet, würde ich am liebsten in einer dreckigen Gondel durch die Welt segeln. Eines Tages wird alles anders sein.

Wie fängt man am besten an? Wie setzt man den ersten Strich oder legt die erste Farbe auf? Der erste Strich, die erste Farbe, der erste Satz. Sie legen alles weitere, was folgt fest. Oft ist es dann im weiteren Verlauf, wenn man falsch angefangen hat, sehr mühsam, noch irgendetwas zu korrigieren.

Man setzt sich ein Ziel. Man hat eine bestimmte Absicht. Es kommt anders. Der Prozess auf dem Papier oder auf der Lein-wand entwickelt sich in eine ganz andere Richtung als ursprünglich geplant. Was ist hier los? Der Widerstand der Farbe, die Autonomie des Pinsels, die agency der Dinge. Der Bleistift ist ein aktives handelndes Objekt. Er ist ein Quasi-Objekt, welches uns zu Quasi-Subjekten macht. (Michel Serres) Wo der Maler letzten Endes herauskommt, ist etwas, was sich nicht planen lässt. Es ist etwas Unbekanntes. Es ist etwas Neues. Genau so entsteht das Neue. Der Maler ist überrascht vom Ergebnis wie der Pinsel, das Papier oder die Farbe.

Eines Tages wird alles anders sein – wenn ich mein Meisterwerk male.

Friedemann Hahn: Das Semoy-Tal in den Ardennen. Öl auf Leinwand. 2022

Fortsetzung folgt: … Alain Delon est un Collectionneur! Oder. Jackson Pollock und der Japanische Blick.

ihr Spiegelbild
im Auge des Hundes
wenn es bricht

                                                            der Hall deiner tapsenden Schritte
ein Atemhauch
du bist die Blutkastanie im Wind

Geschrieben in Erinnerung an unsere stille Atelierausstellung im CAPTAIN `Alte Scheune´ Gut Falkenberg Lürschau/Schleswig, Mai 2022. Im Rückblick auf die legendäre Ausstellung FRIEDEMANN HAHN – Noir. UND Luna, der Mond über Sehringen. ODER Der Tod des Malers. – Fick in Gotham City. ODER Die gescheiterte Hoffnung. UND Painting & Guns. Im GRZEGORZKI SHOWS Prinzenallee 78-79 Berlin, Juni/Juli/August 2023.

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„In memoriam Käpt’n“

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Ausstellung: Friedemann Hahn – Martin Heidegger im Schwarzen Wald. Oder. Der Japanische Blick.
Ausgewählte Werke 1975 – 2024. 14.09. – 13.10.2024, xylon-Museum, Kronenstr. 17, Schwetzingen. Vernissage am 14.09., 17 Uhr.

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