Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

Roland Keller: Becker/ Soergel »Die Schatten von Prag«

Der rasende Reporter im Babylon Prag

Für Endzeit-Apostel ist der auf die Erde zurasende Halley‘sche Komet das perfekte Geschenk, um im Mai 1910 die Mitmenschen in Endzeitstimmung zu versetzten. Ihre Botschaften übertönen mit Leichtigkeit die entwarnenden Stimmen der Wissenschaft. Ganz Prag scheint sich in der schaudernden Weltuntergangsstimmung zu suhlen.

Nicht ganz. Die drohende Katastrophe interessiert weder den rasenden Reporter Egon Erwin Kisch, noch seine Freunde. Darunter Franz Kafka, damals noch Feierabendschriftsteller und die Medizinstudentin Lenka Weißbach. Unfreiwillig ist sie von Berlin nach Prag zu ihrer kranken Mutter zurückgekehrt und stößt sich nicht nur am provinziellen Mief, noch mehr an dem antiquierten Frauenbild der Prager Gesellschaft, dem sie sich nicht mehr unterordnen will.

Kisch, rast- und atemloser Kriminalreporter der deutschsprachigen Zeitung „Bohemia“, stürzt sich mit Leib und Seele auf eine Reihe geheimnisvoller Todesfälle und scheut dabei keinerlei Risiken. Je größer die Widerstände werden, um so fester beißt er sich fest. Unterstützt wird er dabei von Lenka, nicht zuletzt, um aus ihrer langweiligen Umgebung auszubrechen. In seiner Radikalität ignoriert Kisch, dass man ihn als Kriminalreporter kaltgestellt hat und lässt sich auch nicht von Schlägern oder einem Gefängnisaufenthalt abhalten.

Die Wahrheit verbirgt sich zäh hinter falschen Spuren, was mit den unterschiedlichen Kulturen der Stadt zu tun hat, die unausweichlich aufeinanderstoßen: Die Tschechen zelebrieren stolz ihr Nationalbewusstsein, während die Deutschsprachigen versuchen in der verblassenden K-und-K-Monarchie die Oberhand zu behalten. Zwischen diesen Mühlsteinen die Prager Juden. Zu ihnen gehören Lenka, Kisch und Kafka, wobei für sie die Religion weniger eine Rolle spielt als in deutscher Sprache zu schreiben, ohne damit auf der Seite der Deutschtümler zu stehen.

Der legendäre rasende Reporter Kisch, der als einer der ganz großen des Journalismus gilt, wurde 1885 in Prag geboren, musste 1933 ins Exil und starb 1948 in Prag, nur zwei Jahre nach seiner unfreiwilligen Flucht. Um den 25-jährigen Kriminalreporter, bei dem die Besessenheit für seinen Beruf schon zu spüren ist, entwerfen die Autoren Becker und Soergel das Panorama einer Stadt, in der das Gold nicht glänzt und abblättert. Tief taucht der Leser in die dunklen, geheimnisvollen Gassen ein, auf den nächtlichen Brücken über der Moldau lauert der Tod.

Mit Lenka haben sie eine Frauenfigur geschaffen, die gegen den Provinzmief ankämpft und sich durch männeraffine Kleidung von den Prager Frauen selbstbewusst abhebt. Kisch hält sich an dem Mief nicht auf, sondern schwimmt wie ein Fisch in der Prager Subkultur und Boheme, in die er auch Lenka reißt. Sie, aber auch den Leser, zieht er in den Strudel dieser wilden, ungeschliffenen Seiten der Stadt, quasi in das Babylon an der Moldau. Wie im Rausch rast er durch die Handlung, stürzt ausgebremst in Alkohol-Exzesse, um danach nur noch besessener der Wahrheit nachzujagen. Ebenso radikal wie kompromisslos ist Lenka in ihrem Kampf gegen eine frauenfeindliche Klassengesellschaft. Zu Anfang scheint es in Prag nur ein idealer Partner für sie zu geben: Kisch. Doch so einfach machen es die Autoren dem Leser nicht. Lenke sucht natürlich ihren männlichen Partner selbst aus und scheut auch nicht die Sympathie für ihr eigenes Geschlecht auszuleben.

All das, plus eine gute Prise Humor, verweben die beiden Autoren perfekt mit einer Serie von Morden, was zunächst an einen Krieg von rivalisierenden Banden denken lässt, die geschickt die lähmende Angst der Prager vor vor dem Kometen, für ihre Geschäfte nutzen. Doch nichts ist in dieser Goldenen Stadt wie es scheint. Selbst Kisch ist verblüfft, wenn die Masken fallen und die wahren Hintergründe der Morde ans Licht kommen.

Die beiden Autoren gestalten nicht nur ihre Protagonisten auf wunderbare, anfassbare Weise, auch die Gegenspieler sind meisterhaft entworfen, wie auch das Ambiente dieses düsteren Prag, das auf den Frühling wartet, die Winterstarre und die Angst vor dem Kometen loswerden will (die Erde ist, wie wir wissen, nicht durch den Kometen beschädigt worden).

Das Buch entfacht Sehnsucht nach dieser Stadt. Am liebsten würde man sofort in den nächsten Zug nach Prag springen, um in den Gassen in die Zeit Kischs einzutauchen und oben auf dem Hradschin einen Blick in die enge Schreiberklause von Kafka an der Burgmauer werfen.

 „Die Schatten von Prag” bieten sich für eine lange Zugfahrt nach Prag an. Um allerdings nicht zu sehr enttäuscht zu werden, muss man die Wochenenden meiden. Falls man von München aufbricht, gibt es nur einen lahmen Bummelzug (gute fünf Stunden plus die übliche Verspätung, einen schnelleren gibt es nicht). In den Waggons glühen Horden von Menschen mit Biervorräten bereits vor, bevor sie sich wie einst Kisch in die Prager Kneipen stürzen und Teile der Altstadt zum Ballermann machen oder Junggesellenabschiede feiern. Erschöpft schleppen sie sich dann in den letzten Zug am Sonntag zur Heimfahrt. All das hat freilich nichts mit den Figuren zu tun, die Kischs wunderbar-verrückte Subkultur von 1910 bevölkern. Aber lassen wir uns von diesen Touristen, gegen die Magistrat und der Prager Golem ohnmächtig scheinen, die Stadt und ihre wunderbaren Geschichten nicht verderben. Hoffen wir bei tollen Gruppen im Keller der Jazz Republic auf den nächsten Fall von Kisch, den ich nicht versäumen möchte. Die Autoren Martin Becker und Tabea Soergel sollte man im Blick behalten.

Roland Keller

Martin Becker/Tabea Soergel: Die Schatten von Prag – Kischs erster Fall. Historien-Thriller. Kanon Verlag, Berlin 2024. 312 Seiten, 24 Euro.

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