Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

Alf Mayer zum wiederentdeckten Ritterroman »Ségurant«

Ein Ritterroman im Jahr 2024? – Aber ja.

Alf Mayer bricht eine Lanze.

Ségurant. Die Legende des Drachenritters. Das vergessene Mitglied der Artusrunde (Ségurant, le Chavalier au Dragon, 2023). Nach wiederentdeckten mittelalterlichen Handschriften hrsg. von Emanuele Arioli. Aus dem Französischen von Andreas Jandl, Nachwort von Susanne A. Friede. Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2024. Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen, Format 16 × 24 cm. 288 Seiten,  74 Farbabbildungen, 38 Euro. Buchtrailer hier.

Ein Ritterroman? Im Jahr 2024? Echt? Jahrhunderte in den Archiven verschollen, jetzt erst aufgetaucht, das ist der Artusritter Ségurant. Über 700 Jahre wussten wir nichts von diesem Kämpfer, bis der junge italienisch-französische Wissenschaftler Emanuele Arioli (Jahrgang 1988) ihn in einer zehnjährigen Recherche und in 28 fragmentarischen Fundstücken aufgespürt und seine Geschichte(n) rekonstruiert hat.

Ségurant ist ein moderner Held, durch Zauberkräfte manipuliert; er jagt einen imaginären Drachen und verschreibt sich damit der Flucht aus der Realität, als sei er ein Gamer heutiger Tage. Er fällt auf Lug und Trug herein, verschwindet am Ende beinahe spurlos. Uns so nahe wie vielleicht kaum eine andere Figur des Mittelalters, ist dieser Held ein missing link in der Geschichte des europäischen Romans. Er speist sich aus Siegfried- und Artussagen und dem nordischen Sagenkreis, schlägt aber – vorab – den Bogen zu pikaresken Helden wie Don Quichote, transformiert den Ritterroman in Richtung Moderne.

Eine Sensation nicht für die Fachwelt, sondern dank der behutsam-klugen Übersetzungsarbeit lesbare, spannende Literatur. Dies in einem begeisternd schönen Buch: Die deutsche Hardcover-Ausgabe übertrifft die französische Original-Taschenbuch-Ausgabe bei Les Belles Lettres deutlich an Wertigkeit und Haptik: 288 statt 272 Seiten, 74 statt 25 farbige Illustrationen aus mittelalterlichen Handschriften, wunderbar weich gestrichenes Papier, kluger Satzspiegel, großzügige Gestaltung, Lesebändchen. Druck und buchbinderische Verarbeitung bei Pustet in Regensburg. Ein veritabler Bücherschatz.

Und noch einmal: ein Ritterroman, allen Ernstes, hier im CrimeMag? Aber ja. Wenn die Artusritter eine Fortsetzung in die Moderne haben, dann im Kriminalroman – als Privatdetektive, Ermittler oder Polizisten. Joseph Wambaugh, der vom Cop zum Schriftsteller gewordene Bahnbrecher, betitelte 1972 seinen zweiten Roman »The Blue Knight«. George Kennedy verkörperte den brummigen L.A.-Streifenpolizisten William »Bumper« Morgan dann 1975/76 in der leider nie in Deutschland ausgestrahlten gleichnamigen TV-Serie. William Holden spielte ihn in einem Kinofilm. Natürlich sind auch Hammetts Sam Spade, Raymond Chandlers Philipp Marlowe, Robert B. Parkers Spenser und Legionen anderer Detektive so etwas wie die letzten Ritter. Jerry Oster schickt seinen »Saint Mike« durch die New Yorker Gosse. Jerome Charyns evoziert ein Camelot samt ganzer Ritter-Metaphorik in seinen Romanen. Ja sogar noch der namenlose Londoner Factory-Cop aus Derek Raymonds Höllenzyklus lässt sich so lesen. Von manch heutigem »Tatort«-Kommissar ganz zu schweigen…

101 moderne Ritter zählt die Studie »One Hundred and One Knights: A Survey of American Detective Fiction 1922–1984« alleine für die USA auf (Robert A. Baker und Michael T. Nietzel, Popular Press, 1985). Dann gibt es ja auch Batman, den dunklen Ritter. Captain America trägt einen Wappenschild, und auch so mancher andere Marvel-Held hat Ritter-Accessoirs. Die Ritter sind unter uns, Ritterinnen inzwischen auch. Italo Calvino dekonstruierte den Mythos bereits 1959 mit »Der Ritter, den es nicht gab“ (Il cavaliere inesistente; dt. 1963) … Dieses Thema müsste vertieft werden. Ein lohnendes Feld.

Doch zurück ins Mittelalter. Ségurant ist von allen Artusrittern vielleicht der heutigste. Auch wenn er im Lanzenstechen und Schwertfechten unbesiegt bleibt, ist er nicht zufrieden. Verzaubert von der Fee Morgane, jagt er einem imaginären Drachen nach, den er nicht finden kann. Auf der Suche nach ewigem Ruhm verschwindet er am Ende und wird daraufhin – vergessen.

Die Recherche des Mediävisten Emanuele Arioli war so etwas wie eine eigene Gralssuche quer durch die Bibliotheken Europas. Fündig wurde er zuerst im »Wappenbuch der Tafelrunde«, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Armorial de la Table ronde. (Siehe auch hier.) Darin gibt es Auskunft über Biographie dieses Ritters:

»Ségurant der Braune war der Sohn von Hektor dem Braunen. Er war unglaublich groß, und zwar derart, dass man ihn wirklich einen Riesen hätte nennen können. Sein Gesicht war breit und schön und fast brauner Färbung. Sein Haar war eher schwarz als irgendetwas anderes, und sein restlicher Körper besaß perfekte Formen und Proportionen, so dass niemand daran etwas auszusetzen hatte. Doch war er auch sehr sanft und friedlich und schätzte die Gesellschaft anderer nicht besonders. Er besaß maßlose Kräfte, und kein Monster oder Riese konnte ihm lange standhalten. Beim Essen war er so maßlos, dass von dem, was allein er verschlang, zehn Männer hätten satt werden können. Auf seinem Wappen fand sich ein Drachen: Der Grund dafür war, dass er einen schrecklichen, abscheulichen Drachen getötet hatte, nachdem er gerade zum Ritter geschlagen worden war. Und sein Wappen zeigte in Gold einen schwarzen Drachen mit grünen Klauen und grüner Zunge.«

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Bei einem großen Turnier sprechen die treulose Morgane und die Zauberin Sibylle einen Zauberspruch, der ein zweites Turnier nahe der Damentribüne beginnen lässt. Viele fremde Ritter sind dabei, bald schon fliehen sie – vor einem schrecklichen Drachen, der sie alle verschlingt. Eine von der Zauberin Sybille herbeigerufene Feuerwand hält die Artus-Ritter von jeder Hilfe ab.

»Als Ségurant das gewaltige Getöse hörte, griff er sich den Schild mit dem Löwenwappen und treib sein Pferd in Richtung des Lärms. Als er sich dem Ort näherte, wo sich das alles zutrug, riefen die Damen und Fräuleins allesamt: »Macht Platz für den kühnen Ritter dort! Wenn der uns nicht beisteht, sind wir alle verloren!« Sie bildeten für Ségurant eine Gasse; und als er beim Feuer ankam und den Drachen sah, kam es ihm ganz so vor, als verschlinge der die Ritter. Da erklärte Ségurant vor allen dort Versammelten, wenn er das Königreich Longres nicht von diesem Drachen befreie, wie einst die Insel Ungewiss von den Löwen, wolle er keinen Tag länger leben, da er andernfalls den Schild nicht verdiene. Er schlug das Kreuz über seinem Gesicht, durchbrach die Feuerwand und ritt dann mit gesenkter Lanze dorthin, wo er den Drachen wähnte …« 

Der Drache ergreift die Flucht, der Ritter bleibt ihm auf den Fersen. Es wird Abend und Nacht, noch immer steht die Feuerwand, die meisten Ritter bleiben in voller Rüstung, »als wären allzeit ihre Todfeinde zugegen«. Auch am Morgen ist Ségurant noch nicht zurück. König Artus befiehlt, dass sie alle zwei Wochen auf ihn warten. »Was soll ich euch sagen? Die Ritter besuchten oft die Stelle, wo die Feuerwand gewütet hatte, und fanden die verbliebene Asche und die noch aufgewühlte Erde. Und damit endet die Geschichte von dieser Aventüre…«

Eine Aventüre (von frz. Abenteuer) im Artusroman ist nicht nur etwas, das dem Helden zustößt, sondern das, was ihm notwendig zukommt (lat. Advenire) und seiner Existenz Sinn verleiht. In weiteren Kapiteln folgt Ségurant dem Drachen, immer tiefer in den Wald des Mitleids hinein, trifft einen Eremiten, »verfolgt, ganz und gar verzaubert, den Teufel, der die Gestalt eines Drachen angenommen hatte…«

Es gibt viel Tjost (Zweikampf mit der Lanze zu Pferd und in voller Rüstung), Buhurt (Gruppenkampf),  Pas (ein Ritterspiel, bei dem ein Einzelner einen bestimmten Ort gegen alle verteidigt) und Queste (Suche, bei der es um die Erfüllung ritterlicher Pflichten und auch um die innere Reifung des Helden geht). Immer wieder schweift die Erzählung ins sozusagen »bürgerliche«, proletarische Lager, zu Wirtshaus-Schlägereien und Lümmelei. Komisch auch der unersättliche Appetit des Ritters Ségurant. Nicht einmal auf der Weißen Insel ist er zu stillen, einem mystischen Ort voller Wald und Wildnis, an dem ein Gelage auf das andere folgt.

Französische Originalausgabe

Löwe und Drach, die bereits in der Bibel auftauchen, stehen in den Artusromanen für die allerstärksten und gefährlichsten Tiere. Ségurant nimmt es mit beiden auf. Der Drache von Bayblon, den die Vulgata, die Bibelübersetzung des heiligen Hieronymus, dem »Buch Daniel« zurechnet, ist vermutlich auch eine Anspielung auf den römisch-deutschen Kaiser Friedrich II., den Erzfeind des Papstes.

Das Konzil von Trient setzte die »obskuren Prophezeiungen Merlins« auf den Index der verbotenen Bücher. Von da an, vermutet Arioli in seinem Nachwort, war auch der Drachenritter dem Feuer geweiht. Tatsächlich fand er Fragmente der Geschichte in einem Lagerraum voller verkohlter Manuskripte in Turin, die teilweise noch lesbar waren. Auch in Trier fand er ein zugehöriges Handschriftenblatt. Seine Recherche führte ihn quer durch Europa und virtuell auch in die USA und nach Russland.

Selbst sozusagen einem imaginären Drachen folgend, sichtete er Tausende von Handschriften. Nicht weniger als 28 versammelte er für die Rekonstruktion, dazu weitere 70 Zeugnisse. Die Hauptfassung, so seine detektivische Recherche, wurde zwischen 1240 und 1273 verfasst und stammt wahrscheinlich aus der Gegend von Venedig. Ausgangspunkt war eine Handschrift in der Bibliothèque de l’Arsenal in Paris (Nr. 5229), die einst Kardinal Richelieu gehört hatte. Sie enthält die »Prophéties de Merlin«, die Prophezeiungen Merlins, einen um 1272/73 auf Altfranzösich in Italien verfassten Artustext. Zwischen den Prophezeiungen verbirgt sich die fortlaufende Geschichte  von Ségurant dem Braunen, genannt der Drachenritter. Sie verfügt über kein Ende, bricht ab. Arioli fand auf seiner Suche weitere Erzählfragmente. Sie sind im Buch enthalten.

Ein ensemble narratif, ein in verschiedenen Manuskripten in Episoden überliefertes »Erzählensemble« zu entdecken, die alle zusammen eine zusammengehörige Erzählung von einem Helden ergeben, der zuvor noch nicht bekannt war, »ist ein Sechser mit Zusatzzahl im mediävistischen Handschriften-Lotto«, erkennt die Romanistin Susanne A. Friede in ihrem Nachwort neidlos an.

Ein Ritterroman also, im Jahr 2024? Aber ja. Mit dem Kapitel »Der Schiffbruch auf der Insel Ungewiss« hebt er an, und beginnt so: »Einst gab es, wie die wahre Geschichte bezeugt, zwei Ritter, denen niemand auf der ganzen Welt an Tapferkeit gleichkam, Galehaut den Brauen und seinen Bruder Hektor …«

Alf Mayer

P.S.: Der Buchumschlag zeigt St. Georg, gemalt von Bartholomäus Zeitblom um 1482, also nicht ganz Ségurants Zeit … aber Ritter sind eh Zeitreisende.

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