Geschrieben am 2. Februar 2020 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2020

Beckmanns Lektüren (4): Giannrico Carofiglio

Jeder Satz trifft ins Schwarze

Über Giannrico Carofiglio „Drei Uhr morgens“

Wie ein erfolgreicher Anti-Mafia-Staatsanwalt, Richter und Krimi-Schriftsteller zu einem bedeutenden literarischen Autor geworden ist: Gianricos Carofiglios neues Buch Drei Uhr morgens handelt von einem Wissenschaftler, der in seinem hochfliegenden Ehrgeiz scheitert und den mitmenschlichen Kontakt verliert. Eine exemplarische Vater-Sohn-Geschichte. Ein subtiler moderner Familienroman. Ein Meisterwerk der italienischen Literatur.

Gianrico Carofiglio ist der dritte prominente europäische Jurist  der Gegenwart – die anderen beiden sind Bernhard Schlink und Ferdinand von Schirach – , der in seinem Land zu einer öffentlichen Instanz und mit Romanen bzw. Erzählungen dann ein preisgekrönter Schriftsteller mit einer außergewöhnlich breiten internationalen Lesergemeinschaft geworden ist. In ihrer Entwicklung und literarischen Qualität gibt es jedoch hochinteressante markante  Unterschiede.   

Was Gianrico Carofiglio von Bernhard Schlink und Ferdinand von Schirach abhebt: So kreisen die Romane und Erzählungen von Bernhard Schlink – er ist ein renommierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, zuletzt an der  Berliner Humboldt Universität –  vornehmlich um politische und gesellschaftliche Probleme. Sie betreffen das rechte Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, das in Deutschland in Folge des Nazi-Staats aus dem Lot geraten war, der Menschen unter dem Schein von Recht und Gesetz zu krimineller Missachtung von Menschenrechten und Völkerrecht herausforderte. Bernhard Schlinks bekanntestes Buch, sein Roman Der Vorleser rührt an die fundamentale Frage einer deutschen Kollektivschuld und die Ethik des Umgangs mit Holocaust-Tätern in der Bundesrepublik. 

Ferdinand von Schirachs Erzählungen und Romane gehen anscheinend auf Fallgeschichten aus seiner Anwaltspraxis zurück. Er ist ein (berühmter) Strafverteidiger, der sich gewissermaßen auch  als Autor mit der Perspektive seiner Klienten identifiziert, die er vorwiegend als Opfer einer defizitären Justiz darstellt. Er schreibe – so bemerkte er anlässlich seines Romans Der Fall Collini,  der auch seine Familiengeschichte verarbeitet,  in einem Spiegel-Essay – über „die Nachkriegsjustiz, über Gerichte der Bundesrepublik, die grausam urteilten, über Richter, die für jeden Mord eines NS-Täters nur fünf Minuten Freiheitsstrafe verhängten,… über die Verbrechen in unserem Staat, über Rache, Schuld und die Dinge, an denen wir bis heute scheitern“.   

Spannung von innen her – Gianrico Carofilglios Kriminalromane: Die Position und die Haltung Gianrico Carofiglios könnten da unterschiedlicher gar nicht sein. Er war in Bari  lange als Staatsanwalt und als Richter führend im Kampf gegen das organisierte Verbrechen seiner apulischen Heimat tätig, war Berater einer Anti-Mafia-Kommission in Rom und als Mitglied des Senats da auch politisch aktiv. Um zur  Aufklärung von Mafia-Verbrechen  hinter die notorische Mauer des Schweigens, der „Omerta“,  kommen zu können, hat er sich zu einem maßgeblichen Experten (und Fachbuch-Autor) für Vernehmungstechniken und psychologische Feinmethoden zur Auswertung der Aussagen von Zeugen und Angeklagten entwickelt. 

Diese Ausrichtung ist auch ein Charakteristikum seiner Kriminalromane. Bei ihnen stehen nicht Plot und Action, stehen nicht moralische Empörung über verbrecherische Taten und Täter oder Empathie mit den Opfern im Mittelpunkt. Da gibt es kein erzählerisches Ausmalen von Kulissen, Szenen und Personalien; keine welterklärenden reportagehaften Zusätze; keine quasi ins organische Textgewebe eingeschossene oder der Story  übergestülpte Themen öffentlicher Aufregungen  Debatten. Gianrico Carofiglios  Kriminalromane sind ganz und gar auf die polizeiliche, anwaltliche und gerichtliche Arbeit, auf die Offenlegung  organisierten Verbrechens ausgerichtet. Da trifft jeder Satz ins Schwarze. Es verleiht den Kriminalromanen Carofiglios eine besondere Spannungsintensität. Sie haben eine authentische Spannung,  die dem Leser das Gefühl des Miterlebens einer wichtigen Geschichte vermittelt. Das wird am zuletzt auf Deutsch im Goldmann Verlag erschienenen Titel beispielhaft deutlich.

Kalter Sommer ist ein herausragend fesselnder und aufschlussreicher zeitgenössischer Mafia-Roman. Das verleiht ihm hohe Relevanz gerade auch für Deutschland, wo die Politik und Gesetzgebung seit Jahrzehnten die Augen zumacht, so dass die Mafia von günstigen Rahmenbedingungen für ihre dunklen Geschäfte profitiert und die Behörden sich offenbar auch mit ihrer Strafverfolgung schwertun. Wegen der Aufsehen erregenden aktuellen Gewalttätigkeiten zwischen Clans dürfte sich zudem großes Interesse bei einem breiten Lesepublikum wecken lassen. Er spielt Anfang der 1990er Jahre und handelt von einem blutigen Krieg zwischen den Grimaldis und den Lopez, nachdem  die Lopez einen minderjährigen Sohn der Grimaldis entführen und die Leiche des Jungen ntdeckt wird. Im Gerichtsprozess kommt die  ganze Dimension des Bandenkriegs mit all seinen Hintergründen und Verwicklungen ans Tageslicht. Der Roman enthüllt auf unübertreffliche Weise die Strukturen, Handlungs- und  Denkweisen der Mafia.

Die Story und die Namen der Charaktere mögen fiktiv sein. Die Ermittlungen des Maresciallo Pietro Fenoglio, die Recherchen, Verhöre, Beweisführungen  und Argumentationslinien der Staatsanwältin Gemma D’Angelo haben aber fast dokumentarische Qualität. Sie folgen, wie Carofiglio dem FAZ-Feuilleton-Redakteur Hannes Hintermeier 2018 erklärte, dem historischen Gerichtsprozess Prozess des Jahres 1992 in Bari, den Carofigli selbst führte. Der Gerichtsprozess war ein kommunikationswissenschaftliches und –strategisches Meisterstück, das im Kampf gegen die Mafia zu einem Durchbruch führte.

Carofiglios Gerichtsroman ist die kreative Umsetzung dieser realen kommunikationsstrategischen Pionierleistung. Literarische Qualität hat er schon auf Grund des stringenten Zuschnitts, ohne Zuhilfenahme von genretypischen Unterhaltungseffekten. Wie bei allen Kriminalromanen Carofiglios kommt aber auch hier eine Tiefenebene zum Tragen: die Verankerung  der Romanperspektive in bewusstseinsformender großer Literatur. So trägt etwa der Maresciallo Fenoglio den Namen eines berühmten italienischen Autors, dessen Werke ihm obendrein viel bedeuten, und er ist durch die stetige Lektüre von kritischen Schriftstellern wie Alberto Moravia und Bertrand Russell geprägt. 

Das Kernthema – aller Kriminalromane – Carofiglios jedoch betrifft die Gefahr,  dass individuelle und gesellschaftliche Lebensbereiche hinter Mauern des Schweigens in Parallelwelten abgeschottet werden. Und Literatur ist für ihn, der von Kindheit an in ihr daheim ist und eigentlich Schriftsteller werden wollte, bis er sich aus pragmatischen Gründen für einen juristischen Beruf entschied, ein wesentliches Moment menschlicher Kultur und Tradition, ein exemplarisches Medium von Kommunikation im Aufbrechen solcher Mauern und Aufspüren von Wegen in die Freiheit. Darin liegt auch die tiefere, signalhafte Bedeutung der hohen literarischen Kunst des Argumentierens und Diskutierens, Fragens und Antwortens, Redens und Zuhörens, Reflektierens und Handelns im Kriminalroman Kalter Sommer

Drei Uhr morgens – die befreiende Enthüllung eines verschwiegenen Lebenslaufs: Von diesem  literarischen Hintergrund her ist Gianrico Carofiglio zu einem führenden forensischen Kommunikations-Experten und großen Kriminalschriftsteller geworden. Als Verfasser von Kriminalromanen hat ihn seine kreative Entwicklung nun wieder generell zur Literatur gebracht. Sein Roman Drei Uhr morgens handelt ebenfalls  vom Problem des Schweigens zwischen Menschen, der  Bedeutung eines Aufbruchs aus kommunikativer  Abschottung  – und der wichtigen Rolle, die eine nachhaltige, Generationen verbindende Literatur spielen kann.

Er schildert eine moderne Familie. Die Ehepartner – ehrgeizige, selbstbewusste Menschen, die in ihren  wissenschaftlichen Berufen aufgehen – werden einander fremd und lassen sich scheiden. Der Sohn bleibt bei der Mutter, die ihm kaum etwas vom Vater erzählt. Den Vater, der sich zunehmend von ihm zurückzieht und sich ihm gegenüber in Schweigen hüllt, sieht er nur mehr sporadisch. Der junge Antonio geht abgekehrt seine eigenen Wege,  bis er zur endgültigen Heilung von einer schweren Krankheit – einer diagnostisch nicht erklärbaren Epilepsie –  in Begleitung des Vaters einen französischen Spezialisten in Marseille aufzusuchen hat. Zum Kontrollabschluss der Therapie muss er 48 Stunden lang ohne Medikamente und ohne Schlaf durchhalten. In dieser Ausnahmesituation wird er mit dem Vater, der ihm unentwegt zur  Seite steht. Um wachzubleiben, abenteuern die beiden für zwei Tage und Nächte gemeinsam durch die aufregende historische Innenstadt von Marseille. Und in den wachsend intimeren Gesprächen gewinnt Antonio erstmals Einblick in die Hoffnungen und Enttäuschungen, Euphorien und Abgründe eines erwachsenen, im Leben und im Beruf gescheiterten  Mannes – und darin, was man aus solchem Leben fürs Leben lernen kann. Er beginnt die Welt zu verstehen

Damals  ist Antonio 17 Jahre alt. In der Gegenwart des  Romans hat er das Alter des Vaters zu jener Zeit erreicht und steht selbst in einer kritischen Phase des Lebens, in einer Art Midlife-Krisis, in der er nun  die verschütteten Erinnerungen an die Marseiller Tage mit dem Vater aufruft. Die hilfreichen Gespräche mit dem Vater gehen gewissermaßen in ein zukunftsorientiertes Gespräch mit sich selbst über. Und auch hier gewinnt das Erzählen Gianrico Carofiglios eine innere Spannung, die einen in keiner Minute des Lesens mehr loslässt. Es hat die Unmittelbarkeit mündlichen Erzählens im kleinsten Kreis, die Aura eines früheren, heute weithin verloren gegangenen menschlichen Kommunizierens, nach dem wir uns lange gesehnt haben und an dem wir hier teilhaben dürfen. 

Drei Uhr morgens oder die wiedergewonnene Kraft des Geschichten-Erzählens in moderner Literatur: Ein Blick in Walter Benjamins Essay Der Erzähler über Nikolai Leskow hilft, die große künstlerische Leistung dieses Romans verständlicher machen. Denn es scheint, dass Carofigliio hier eine der modernen schriftlichen Literatur abhanden gekommene alte mündliche Kultur wieder zum Leben erweckt hat, die Walter Benjamin beschreibt  – die Kunst des Geschichtenerzählers, der Kunde von einem Abenteuer,  einer fernen Reise, einer wichtigen Arbeit gibt. Er vermittelt eine außergewöhnliche Lebenserfahrung, die ihnen abgeht , doch für sie höchst bedeutsam ist. Solchen Geschichten wohnte ein nachhaltiger Zauber inne. Die Zuhörer konnten sich ihrem Bann nicht entziehen. Sie gaben den Menschen Orientierung und Rat fürs Leben. Sie vermittelten, wie Walter Benjamin kurz und wundervoll bündig  sagt, „Weisheit“.  Drei Uhr morgens ist an solchen Lebensweisheiten reich. Darum ist dieser Vater-Sohn-Roman in unserer Zeit, da die alten lebenswichtigen Kommunikationswege zwischen den Generationen unterbrochen sind, so bedeutsam und eine Lektüre, die viele Leser anziehen und faszinieren wird – alte und junge Männer, aber, wie ich im Bekanntenkreis feststellen konnte, Leserinnen nicht minder. Es ist nämlich obendrein ein subtiler moderner Familienroman.                                                                                                                                                                                             

Giannrico Carofiglio: Drei Uhr morgens. Aus dem Italienischen von  Verena von Koskull. Folio Verlag, 180 Seiten, 25 Euro.      

Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CrimeMag mit Freude an Bord haben, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor.

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