Geschrieben am 17. Mai 2016 von für Bücher, Crimemag, Kolumnen und Themen

Klassiker Check: Eric Ambler: Die Maske des Dimitrios (1939)

Mit Eric Ambler ist es ein bisschen wie mit Goethe. Subkutan sehr einflussreich, stets gerne für allerlei systematische Argumentation zitiert, stets irgendwo im Hinterkopf präsent. Aber wann haben wir wirklich zum letzten Mal einen Ambler sorgfältig und einlässlich wieder gelesen? Wir nehmen also die Neuauflage der Ambler-Romane bei HoCa zum Anlaß, den Roman, der unbestritten eines der Schlüsselwerke der Kriminalliteratur ist, einem Härtetest des Re-Readings zu unterziehen. Wie haltbar ist „Die Maske des Dimitrios“ noch? Ist er museal geworden? Können wir ihn heute noch brauchen?

Zoë Beck, Lena Blaudez, Nele Hoffmann, Alf Mayer und Thomas Wörtche machen die Probe auf´s Exempel.

© © Mark Gerson / Bridgeman Images © Mark Gerson / Bridgeman Images

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Zoë Beck (c) Anette Göttlicher

Zoë Beck (c) Anette Göttlicher

Eric Ambler: Die Maske des Dimitrios

Wie heutig es klingt, wenn von Dimitrios die Rede ist. Ein Flüchtling, das Mittelmeer, Griechenland, Chaos beim Ausstellen der neuen Papiere. Und seine Verbrechen: Morde, Zuhälterei, Erpressung, Menschenhandel, Drogenhandel, Geldwäsche, Betrug, Spionage … Der schmierige Mr. Peters, der Dimitrios einige Jahre zu seinem Leidwesen kannte, weiß auch damals schon, was immer wieder gern durch unsere Presse im 21. Jahrhundert geistert, nämlich dass die wahren Psychopathen eher in leitenden Positionen als in Gefängnissen zu finden sind.

Er sagt: „Dimitrios und der Typ des erfolgreichen, ehrbaren Geschäftsmannes unterscheiden sich nur in ihren Methoden – der eine bedient sich illegaler Mittel, der andere legaler. Jeder ist auf seine Weise rücksichtslos.“ Und eitel natürlich. Das Böse hat sich nicht sehr verändert, scheint es, weder in dem, was an Boshaftem verübt wird, noch in der Hinsicht, was die Psyche der Ausübenden betrifft. Obwohl der Erzähler (oder vielleicht auch der Protagonist Latimer) im Roman sagt: „Die Elemente der neuen Theologie hießen ‚gutes Geschäft‘ und ‚schlechtes Geschäft‘. Dimitrios war nicht böse. Er war logisch und konsequent, so logisch und konsequent im europäischen Dschungel wie das Giftgas Lewisit und die Leichen von Kindern, die bei einem Luftangriff auf eine offene Stadt umkommen.

Die Logik von Michelangelos David, von Beethovens Streichquartetten, und Einsteins Theorien war durch die Logik des Börsenhandbuchs und Hitlers Mein Kampf ersetzt worden.“ Nun, da geraten wir ins Philosophieren, ob wir weiterhin vom Bösen reden sollen oder vom Geschäft oder von eiskalter Logik, jedenfalls: Dimitrios steht deutlich auf der Seite derer, die während eines solchen Romans die Antagonistenrolle haben und am Ende entweder zur Strecke gebracht werden (dann ist die Welt wieder in Ordnung, so halbwegs) oder entwischen (dann ist die Welt ein dunkler, böser Ort, ja, böse!).

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Nest-Verlag, Krähenbuch Nr. 5., 1950

Auch heutig, und das überrascht fast noch mehr als der Umstand, dass nach fast achtzig Jahren, einem fast ebenso lang andauernden War on Drugs, einem Weltkrieg, einem Kalten Krieg, einem War on Terror und anderen Unannehmlichkeiten Amblers Plot knackfrisch sein könnte, auch heutig liest sich die aus den Siebzigern stammende Übersetzung, die großen Spaß beim Lesen bereitet. Amblers Humor zum Beispiel überlebte die Übertragung ins Deutsche, eine bemerkenswerte Leistung.

Aber trotz des Lesevergnügens, den dieser Roman bereitet – die Figuren tun weh. Sie sind mit der Heckenschere aus einem Pappkarton geschnitten worden. Bei aller Ironie, die dahinterstecken mag (wird da Christie verarscht?), wirkt das Figurenensemble klobig und narkotisierend. Latimer ist außerdem Spielball des Plots, seine Motivation, sich für Dimitrios und dessen Untaten zu interessieren, ist so dünn und behauptet, dass schon sehr viel Willen aufgebracht werden muss, um den Unglauben notwendig auszusetzen – zumal die Schlüsselszene im behelfsmäßigen Leichenschauhaus damit einhergeht, dass es in diesem Leichenschauhaus trotz mehrfach betonter Höllenhitze kein bisschen zu stinken scheint. Auch die einleitenden Sätze des Romans über den Zufall helfen da kaum weiter. Schwer fällt es anschließend, die Finger still zu halten, wenn Latimer von einer europäischen Stadt in die nächste reist, um einen Informanten nach dem nächsten zu treffen, er glaubt nämlich brav, was ihm erzählt wird – man möchte ihm erklären, was es mit Hintergrundrecherche auf sich hat, und verzweifelt daran, dass es 1939 noch keine Internetsuchmaschinen oder andere Hilfsmittel gab. Was wiederum dann auch das Schöne an diesem Roman ist: Die Methoden, wie wir die Verbrechen aufzuklären versuchen, wie wir die Menschen zu durchleuchten glauben, haben sich rasant verändert, und doch ist vieles ganz beim Alten geblieben. Menschen, Verbrechen, sie ändern sich nicht.

Große Überraschungen hält der Roman nicht für uns bereit, dazu wurde das Prinzip dieses Plots schon zu häufig variiert, zitiert oder anderweitig bemüht. Aber es macht so viel Spaß, Ambler zu lesen. Sein Humor ist kein bisschen eingestaubt, und sein Blick auf Europa, die organisierte Kriminalität und die Geheimdienste könnte kaum zeitgemäßer sein.

Zoë Beck


Lena Blaudez

Lena Blaudez (c) Caro Hoene

Gut und Böse? Gute Geschäfte und schlechte Geschäfte!

Eric Amblers Roman „Die Maske des Dimitrios“ ist wie alle seine Romane große Literatur, in der vielschichtige Figuren vor dem Hintergrund politisch brisanten Geschehens agieren, voller Sachkenntnis und präziser Details, weitsichtig und von andauernder Aktualität. Amblers Themen beherrschen gerade heute den gesellschaftlichen Diskurs. Dabei ist der Roman aber alles andere als ambitionierte Aufklärung, sondern spannende, unterhaltsame Prosa voller Ironie. Man kann also durchaus so tun, als lese man das Buch zum ersten Mal – dann würde eine Rezension so aussehen:

Latimer, den Helden des Romans, treffen die Zufälle auf groteske Weise, heißt es zu Beginn, zumal die „eigenwillige Wohnungsausstattung eines Verbrechers“ ihm dann auch noch das Leben rettet. Wie immer hat Ambler seine Leserschaft bereits nach den ersten Sätzen fest am Haken. Amblers alltägliche Helden geraten durch Zufall in zeitgeschichtliche Ereignisse, die mit gewaltiger Macht ihr Leben packen und umher schleudern und nicht selten gefährden. Sie geraten, wie Charlie Chaplin in Moderne Zeiten in die Maschine, zwischen die Zahnräder der Geschichte, sind kurz vor dem Zermalmtwerden. So auch Charles Latimer, ein Akademiker, der mit netten Kriminalromanen seinen Lebensunterhalt so gut verdient, dass er sein Dozententätigkeit aufgegeben hat. Und nun rutscht der brave Autor in eine ihn immer mehr gefangennehmende Recherche über den infamen Mörder Dimitrios. Der tötet nicht nur aus Gier, er handelt mit allem, was auch immer geht, Drogen, Menschen, Waffen. Ein Killer. Und seine braunen Augen sehen so aus, als wenn sie gerne wehtun.

Fehlende geistige Luftschleuse

Wenn Latimer, der glaubte, sich sehenden Auges auf die Sache einzulassen,  im Nachhinein betrachtet erkennen muss, dass er ein Spielball der Umstände war, der seine Augen fest geschlossen hatte, dann erfasst ihn das Grausen – der neutrale Beobachter wird Mitwirkender. Unmerklich. Denn „wenn sein Zimmer nicht so ein bequemes Bett gehabt und der Hotelbesitzer ihn nicht mit einem trockenen Martini begrüßt hätte, wäre er auf der Stelle zurückgefahren“. Außerdem besaß er nicht wie andere „jene Art geistiger Luftschleuse …, die ihren glücklichen Besitzer befähigt, Probleme einfach durch Vergessen zu bewältigen.“

Wer ist Dimitrios? Erst der griechischer Journalist Marukakis, der ihm weiterhilft, bringt wirklich auf den Punkt, warum Latimer nicht von seiner Recherche lassen kann: Er will nicht nur den Menschen Dimitrios, den Bösen und das Böse, verstehen, sondern die zerbrechende Zwischenkriegsgesellschaft. Und wenn Marukakis Dimitrios als Menschen ohne politische Überzeugungen bezeichnet, der nur vom Eigennutz getrieben wird – und dass es ihn deshalb gibt, weil sein Herr, das internationale Großkapital, ihn für seine Geschäfte braucht -, dann verzichtet der höfliche Engländer Latimer darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass seine Phrasen aus dem Kommunistischen Manifest stammen könnten. Schon hat Ambler wieder elegant alle Ideologie hopsgenommen. Marukakis entschuldigt sich, „in Primärfarben zu sprechen, selbst wenn man in Grautönen denken muss.“ Und dann zieht Ambler die nächste überraschende Wendung aus dem Ärmel.

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Der Pass ist ein Pass

Der Pass ist ein Pass – er ist der edelste Teil von einem Menschen… ätzte auch Bertolt Brecht. Umso besser für einen wie Dimitrios, wenn er viele davon hat. Die Masken des Dimitrios sind jedenfalls wechselnde Namen und Pässe und Nationen sowie die daraus resultierenden Verwirrungen um seine Person. Nationen in Europa brechen zusammen, massakrieren und werden massakriert und schließen diese oder jene zeitweiligen Bündnisse. Die Leidtragenden sind damals wie heute  unschuldige Menschen, Millionen, die ihre Heimat verlassen und flüchten müssen, um ihr Leben zu retten, nirgends wirklich gewollt. Es sei denn, sie schneiden Kehlen durch, stehlen Geld, belasten sich nicht mit moralischen Skrupeln und machen Karriere. Dimitrios gesellschaftlicher Aufstieg ist dann auch entsprechend erfolgreich, in einer Gesellschaft, die eben solches Verhalten honoriert.

Gleichzeitig nimmt Ambler sarkastisch die Fragwürdigkeit jeden Handelns auf’s Korn. Denn die Beeinflussung der „ordinären Gemeinheiten der Realität“ liegt nicht in der Hand des Einzelnen.  Davon, dass die Interessenvertreter der Wirtschaft, die gesellschaftlich sanktionierte Macht der Banken und multinationalen Konzerne das Geschehen bestimmen, erzählt Ambler in seinem eigenen, fein geschliffenen Stil auch in der fesselnden Geschichte der Suche nach den Spuren von Dimitrios.

MaskDrohende Erkältung

Latimer jedenfalls hadert mit den Umständen und vor allem mit sich selbst. Wieso hat er nicht die Polizei gerufen, als er mit einer Pistole bedroht wurde? Warum hat er den Mann nicht am Hals gepackt und bezwungen? „Das, dachte er, war das  Schlimmste bei Intellektuellen. Sie ignorieren die Chancen von Gewalt, bis Gewaltanwendung nichts mehr nützte.“ In oft selbstironischen inneren Monologen versucht er, Klarheit über die ganze Geschichte zu bekommen. Über verschiedene Stationen in Europa und diverse Bekanntschaften kommt Latimer der Wahrheit – und Dimitrios – immer näher. Oft muss er improvisieren, je nachdem welche Informationen er erhält. Und beim Warten auf den Killer im Regen flüchtet er sich in Sorgen um eine mögliche Erkältung. Allerdings reagiert er, wenn es darauf ankommt, ausgesprochen mutig und loyal, selbst gegenüber unsympathischen Zeitgenossen.

Die Zeichnungen der Figuren, wie etwa des türkischen Geheimdienstmanns Hakki oder des polnischen Ex-Spions Grodek sind ganz beiläufig schlicht großartig. Am Ende der Suche nach Dimitrios kann sich dann Latimer endlich mit seinem neu zu schreibenden Roman beschäftigen, ein Landhauskrimi, in dem es darum geht, welcher der vielen unterhaltsamen Verdächtigen sein Mörder sein wird. Ein Roman, „mit Kricketspielen auf der Dorfwiese, … dem Klappern der  Teetassen und dem Geruch nach Gras. … So etwas lesen die Leute gern, er selbst würde es auch gern lesen.“

Die Zahnräder der Geschichte haben Latimer beinahe heil ausgespuckt. Für diesen Moment. Er sieht aus dem Fenster, es wird Nacht und der Zug fährt in einen Tunnel. Gerne wird über die Wichtigkeit von Romananfängen nachgedacht und geredet. Dabei ist das Ende beileibe nicht weniger wichtig.

Lena Blaudez


Nele Hoffmann

Nele Hoffmann (c) privat

Zeitlos gültig

So abgedroschen wie wahr: Klassiker sind über ihren unmittelbaren Kontext hinaus relevant, und was in ihnen gesagt wird, bleibt zeitlos gültig. Die Neuauflage von „The Mask of Dimitrios“ gibt Anlass, den 1939 erschienenen Roman Eric Amblers noch einmal zu lesen.

Charles Latimer, ein englischer Dozent der Wirtschaftswissenschaften, entflieht der Universität und ihren Querelen in die levantinische Sonne, nachdem er sich erfolgreich als Kriminalschriftsteller etabliert hat. In Istanbul lernt er einen Oberst des Geheimdienstes kennen, der im Genre dilettiert und ihm sein Material für einen artigen whodunnit anbietet. Im Gegenzug legt er Latimer die Akte über den Verräter, Betrüger, Attentäter und Dealer Dimitrios vor. Der als Folterknecht berüchtigte Oberst klagt, dass echte Verbrechen, anders als in ordentlich geplotteten Krimis, oft unaufgeklärt bleiben; ein ästhetisches Problem also.

mask ddr333_001 [1415507]Der Fall weckt Latimers Interesse, seine Recherchen über den gefährlichen Mann mit den vielen Identitäten führen ihn quer durch ein von ethnischen Konflikten geprägtes und von ausgetretenen Fluchtrouten durchzogenes, „kreißendes Europa“. Der Kriminalschriftsteller wird zum Biographen des Verbrechers und verfolgt seine Spur durch eine Welt des Verbrechens: „Odessa 1918. Istanbul 1919. Izmir 1921. Die Bolschewiken. Wrangel-Armee. Kiew … Der Schlachthof, der als Gefängnis diente, weil das Gefängnis ein Schlachthof geworden war. Furchtbare, entsetzliche Gräueltaten. Die alliierten Besatzungstruppen. Die anständigen Engländer. Die amerikanischen Hilfslieferungen. Wanzen im Bett. Typhus. Vickers-Geschütze. Die Griechen – Gott, diese Griechen!“

Dimitrios bewegt sich mit gefälschten Papieren über alle Grenzen hinweg, er wird reich und mächtig, verbreitet Angst unter den vielen, die er für seine Zwecke benutzt. Und doch ist auch er nur ein Handlanger: „Es gibt ihn, weil sein Herr, das Großkapital, ihn braucht.“

Latimers Verwicklung in diesen Fall ist angesichts seiner lebenspraktischen Unbedarftheit von „atemberaubender Absurdität“. Ein französischer Nachrichtenkorrespondent in Sofia sagt ihm auf den Kopf zu, dass sein vorgeblich akademisches Interesse nur ein Vorwand ist: „In Wahrheit hoffen Sie, durch eine rationale Erklärung von Dimitrios auch die in Auflösung befindliche Gesellschaft erklären zu können.“

Latimer beginnt zu verstehen, dass er Dimitrios nicht mit Begriffen wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ beikommen kann: „Die Elemente der neuen Theologie hießen ‚gutes Geschäft‘ und ‚schlechtes Geschäft‘. Dimitrios war nicht böse. Er war logisch und konsequent, so logisch und konsequent im europäischen Dschungel wie das Giftgas Lewisit und die Leichen von Kindern, die bei einem Luftangriff auf eine offene Stadt umkommen. Die Logik von Michelangelos David, von Beethovens Streichquartetten und Einsteins Theorien war durch die Logik des Börsenhandbuches und Hitlers Mein Kampf ersetzt worden.“

Enden wir aber mit der Beobachtung eines Gangsters, der eines von Latimers Büchern gelesen hat: „Ich war entsetzt. Es strotzte förmlich vor Intoleranz, Voreingenommen und verbissener Rechtschaffenheit … Ich gehöre nicht zu den Menschen, die gegen die Todesstrafe sind. Im Gegensatz zu Ihnen vermutlich … Die praktische Seite einer Hinrichtung durch den Strang schockiert Sie. Dennoch jagen Sie, erschrocken über Ihre eigene Brutalität, diesen unglückseligen Mörder mit einer Schadenfreude, die mich sehr abgestoßen hat.“ Der Gangster kauft Latimer, dem saturierten Zaungast aus England, die moralische Empörung über einzelne Verbrechen nicht ab, während Politik und Banken systematisch mit Waffen, Heroin und Menschenleben dealen: „Ihre Schockiertheit ist mir entschieden zuwider“. Zeitlos gültig eben.

Nele Hoffmann


Alf Mayer

Alf Mayer (c) privat

„Der Zug fuhr in einen Tunnel“

Zeitgenossen: 1938/39 erschienen Eric Amblers „Dimitrios“, Graham Greenes „Brighton Rock“, Geoffrey Households „Rogue Male“ und Raymond Chandlers „The Big Sleep“. Sie alle definierten den Kriminalroman neu.

Wege: „Die Maske des Dimitrios“ wurde 1950 vom Exilanten Karl Anders (siehe die LitMag-Besprechung vom „Traum von der Stunde Null“) als Band 5 seiner Krähen-Bücher auf Deutsch herausgebracht, beide Männer kannten und schätzten sich aus der antifaschistischen Arbeit in London. Das Buch wanderte weiter zu Ullstein (1957), wo Walter Hertenstein die Übersetzung von Mary Brand (Maria von Schweinitz) überarbeitete, kam so 1974 zu Diogenes, wurde dort 1996 von Matthias Fienbork neu übersetzt und jetzt bei Hoffmann und Campe wiederaufgelegt.

„Thermonukleare Erfindung“: Als Verfasser von „Der dunkle Grenzbezirk“ erhebe er den Anspruch zu den frühesten Mitgliedern der „Ban-the-Bomb“-Bewegung zu gehören, meinte Ambler1972: „Es war ein anachronistischer Thriller über einen kleinen osteuropäischen Staat, dem es gelingt, eine Atombombe zu bauen. Der Roman erschien 1936. Das war das Jahr, in dem der Spanische Bürgerkrieg ausbrach und in dem viele Menschen, sogar Werbetexter ((wie er, AM)), darüber nachdachten, wie der nächste Krieg aussehen würde. Plötzlich wurde mir klar, worüber ich schreiben musste. Bis zum Sommer 1939 hatte ich fünf Thriller geschrieben, und ich lebte ohne finanzielle Sorgen in Paris. Mein Fünftes Buch war ‚Die Maske des Dimitrios‘“.(1) Es wurde im August 1939, wenige Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, das Buch des Monats in der „Daily Mail.

Mask of Dimitrios1 [1415511]Recherche: „Anlass zur Unruhe“ erschien in den USA im Verlag Alfred A. Knopf ohne das Kapitel 17. „Anscheinend machte es überhaupt nichts aus“, notierte Ambler, (2) dessen Experimentierlust das anstachelte. Demetrius oder Dimitrios wollte er die Hauptperson seines nächsten Romans nennen, er sollte ein Verbrecher sein, und die Geschichte sollte in der Türkei beginnen. Aber er kannte dort niemanden, sprach kein Wort Türkisch. Also fuhr er von Paris nach Nizza, wo es eine große Türkenkolonie gab. „Da ich in Nizza zu viel über die Türkei erfuhr, kehrte ich nach Paris zurück, um dort zu arbeiten“, berichtet er trocken in seinen Memoiren. (2) Und weiter: Die meisten Informationen über Dimitrios selbst habe er in London bei der „Times“ aus den ledergebundenen alten Zeitungsausgaben geschöpft.

Die Verbrechen des Dimitrios: Raubmord während des türkisch-griechischen Krieges 1922 und der Eroberung Izmirs; Attentatsversuch 1923 auf den bulgarischen Ministerpräsidenten; 1926 Spionage in Jugoslawien; Drogen- und Mädchenhandel in Paris, 1928 – 1931; Unterstützung von Terroristen in Bulgarien, dies als Vorstandsmitglied einer Bank mit Interessen auf dem Balkan.

Recherche (2): In seiner Autobiografie „Here lies“ (2) merkt Ambler sarkastisch an, dass er, wäre er ein seriöser Schriftsteller, für „Dimitrios“ wohl in die Türkei gefahren wäre, als Unterhaltungsschriftsteller aber brauche er ja nicht seriös zu sein, könne sich Vorortrecherche sparen. Eine gewisse Quellenenge schärfe sogar den Blick für signifikante Einzelheiten. In „Anlass zur Unruhe“, seinem vierten Roman, beschrieb er die Schmuggelpfade an der italienisch-jugoslawischen Grenze derart plastisch, dass ihn das Foreign Office um nähere Erläuterungen bat. Ambler musste passen, seine Kenntnisse beruhten auf dem Studium von Landkarten.

Form: Rückblende auf Rückblende machen beinah drei Viertel des Buches aus. Dimitrios tritt erst am Ende von Kapitel 13 der insgesamt 15 Kapitel auf. Prozessakten, Gerichtsprotokolle, mündliche Berichte, Briefe, auktoriale Nacherzählung rekonstruieren das Leben von Dimitrios aus vielerlei Perspektiven. Seine Verbrechen ergeben ein Panorama Europas zwischen den beiden Weltkriegen.

Nouveau roman: Dimitrios ist tot, er existiert durch Zeugen. 1973 reklamierte Francis Lacassin „Die Maske des Dimitrios“ für den „Nouveau roman“. Der Journalist und Drehbuchautor – etwa für George Franjus „Judex“ (1963) -, der mit seinem Essay „Pour un neuvième art: La bande dessinée“ von 1971 den Begriff der „Neunten Kunst“ für den Comic prägte, sah Amblers Roman als expliziten Vorläufer einer sachlich-nüchternen, unromantischen, extrem modernen Literatur. „Dimitrios“ rekonstruiere „ein Röntgenbild der gesamten moralischen, politischen und wirtschaftlichen Gesellschaft, auf dem nur eines zu sehen ist: das Gesetz des Geldes. Dank Ambler ist der Spionageroman von nun an wieder in die literarische Sphäre eingefügt: Seine Qualität hängt von dem ab, der ihn schreibt.“

U und E: „Es gibt keinen Unterschied zwischen seriöser Literatur und Unterhaltungsliteratur. Es gibt nur gute und schlechte Bücher.“ (Ambler, 1975)

Colonel Haki: „Wissen Sie Mr. Latimer, Mörder in einem Kriminalroman sind mir viel sympathischer als echte Mörder. In einem Kriminalroman gibt es eine Leiche, etliche Verdächtige, einen Detektiv und den Galgen. Das ist Kunst. Ein echter Mörder ist kein Künstler.“

mask ullstein uk0736 [1415515]mask ullstein rückseite uk0736bc [1415514]Anti-Held: Der Erzähler Latimer wird zum Ermittler, ist aber eher Biograf denn Kriminalist, der Fall ein „Experiment in Detektion“. Er will sich Dimitrios‘ Handlungen erklären, seine Denkweise verstehen, sieht ihn nicht als ein Einzelphänomen, sondern als Bestandteil einer sich auflösenden Gesellschaft. Im Anti-Helden Latimer thematisiert sich das Erzählen selbst, dekliniert sich der Thriller. 1936, wohlgemerkt.

Colonel Haki (2): „Da haben Sie Ihre Geschichte. Unvollständig. Unkünstlerisch. Kein Detektiv, keine Verdächtigen, keine verborgenen Motive. Nur eine miese kleine Geschichte.“

Jörg Fauser: Ihm fiel auf, wie gut bei Ambler Nachtclubs beschrieben sind. Die Eltern tingelten mit einer Marionettenshow und mit Gesangsdarbietungen über die Londoner Vorstadtbühnen und im Ersten Weltkrieg durch die Militärhospitäler, was den kleinen Eric mit allerlei Makabrem bekannt machte.

mask filmmpw-53767 [1415510]Moralistenzuflucht: „Der Moralist ist nicht mit einem Moralprediger zu verwechseln. Ein Moralist versucht, die Menschen seiner Zeit zu verstehen und zu schildern. Insofern ist der Thriller die letzte literarische Zuflucht für einen Moralisten.“ (Ambler, 1975) (3)

Widergänger: „Dimitrios“ findet sich gespiegelt in den Orson-Welles-Filmen „Citizen Kane“ (1941) und „Herr Satan persönlich“ (Mr. Arkadin, 1955). Graham Greene lehnte 1950 seinen „Dritten Mann“ an „Dimitrios“ an. Ian Fleming lässt James Bond in „Liebesgrüße aus Moskau“ (1957) auf dem Flug nach Istanbul in Amblers Roman lesen. Charles McCarry legte 1971 seinen ersten Thriller „Das Miernik-Dossier“ als irrlichterndes Porträt aus 89 Dokumenten über einen bei der UN in Genf arbeitenden Polen an, der Meisterspion oder harmloser Nerd sein könnte.

Latimer (2): erfuhr nach 30 Jahren eine Auferstehung im klugen Whistleblower-Thriller „Das Intercom-Komplott“ (1969), wo er – Dimitrios lässt grüßen – verschwunden ist, nur Manuskripte, Briefe, Memos, Diktat- und Interviewabschriften hinterlassen hat. Über 20, in viele Sprachen übersetzte Kriminalromane hatten Latimer ein komfortables Leben auf Mallorca erlaubt.

Recherche (3): Eine PR-Tour per Kreuzfahrtschiff führte Ambler in den 1950ern auch nach Griechenland und in die Türkei. Als er im Hafen von Istanbul für Pressefotos an Deck geholt wurde, besah er sich – der bis dahin nie weiter südlich als Italien gekommen war – die Kulisse und meinte trocken: „I see the old place hasn’t changed a bit!” Alan Williams inspirierte das dazu, 1965 den Thriller „Snake Water“ (Schlangenbrut) zu schreiben, ohne je Fuß in den südamerikanischen Dschungel gesetzt zu haben.

Ashenden: Für die von ihm herausgegebene Anthologie „To Catch A Spy“ wählte Ambler als eigenen Beitrag das in Briefform gehaltene Kapitel Neun – „Belgrad 1926“ – aus „Dimitrios“. Gerade dieses Kapitel macht noch einmal klar, wie viel Ambler den Erzählungen in Somerset Maughams „Ashenden oder Der Geheimagent“ (1928) zu verdanken hat – was er in dem sehr schönen Vorwort auch benennt. (4)

Das Ende: „Der Zug fuhr in einen Tunnel.“ So lautet der letzte Satz. Damit war 1939 auch die Zivilisation gemeint.

Mein Lieblingsstelle: Der Anfang von Kapitel 14, über das Gesicht eines Menschen.

(1) In „Nachträgliche Gedanken zu einem Nachruf“ (The Story So Far; 1993).

(2) In seiner Autobiographie „Ambler by Ambler“ (Diogenes  1985); der wunderbar doppelsinnige Originaltitel „Here Lies“ bedeutet „Hier liegt“ wie auch „Hier lügt“.

(3) Ambler, 1975 im Interview mit Walter Hertenstein.

(4) 1964, deutsch als „Spione, Spione“, Wolfgang Krüger Verlag, 1967; Fischer Taschenbuch Verlag 1978. Sehr gute vierzehnseitige Ambler-Einleitung über das Wesen der Spionage und die besten Autoren.

Alf Mayer


 

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Thomas Wörtche (c) privat

„Ambler, und immer wieder Ambler“

„Ambler, und immer wieder Ambler“ sagte Ross Thomas stets, wenn das Gespräch auf Polit-Thriller kam. Neben dem Interesse an welthaltiger Literatur und dem Vergnügen an deren  vielfältigen Möglichkeiten, teilte Ross Thomas mit Eric Ambler den radikalskeptischen Blick auf die Welt. Eine Skepsis, die selbst der Skepsis gegenüber skeptisch bleibt. Woraus sich die Einsicht ableitet, dass Zufälle selbst nicht notwendigerweise, sondern auch nur zufällig Zufälle sein können.

Insofern ist Ross Thomas´ berühmter Einstieg in „Chinaman´s Chance“ mit dem toten Pelikan, der zufällig am Strand von Malibu zu liegen scheint, ein Echo auf Amblers  erstes Kapitel von „Die Maske des Dimitrios“, das sozusagen leitmotivisch Verwirrung stiftet. Ambler jongliert dort mit den Begriffen Zufall, bewusste Vorsehung und Absurdität herum. Nicht aus philosophischem Selbstzweck, sondern um gleich mal von Beginn an die Hauptfigur des Romans zu demontieren. Wenn auch aus einer erkenntnistheoretischen Position heraus. „Für den Skeptiker bleibt nur ein Trost: Sollte es so etwas wie ein übernatürliches Gesetz gegen, so wird es außerordentlich stümperhaft angewendet. Die Entscheidung, Latimer zu seinem Instrument zu machen, kann nur ein Idiot getroffen haben.“ Das ist zum einen nicht sehr schmeichelhaft für Latimer, den gelernten Ökonom und Verfasser eher trivialer Mysteries. Zum anderen begründet dieser Gedanke die ganze Struktur des Romans. Denn die Deutungshoheit über das Geschehen überlässt Ambler – nun wahrlich kein Idiot – ganz und gar nicht Latimer alleine.

Wer odemaske 620 [1415508]r was die Chimäre Dimitrios nun wirklich ist, ist nicht von einer Person zu bestimmen und deswegen baut Ambler über lange Passagen andere Perspektiven ein: Die des ominösen Mr Peters, die des „linken“ Journalisten Marukakis, die der abgetakelten Puffmutter Irina Prevetza (deren Nachtclub Vierge Saint Marie zu taufen, ist wunderbar) und die des zynischen polnischen Spions emeritus, Grodek, haben natürlich eben so wenig Anspruch auf Verlässlichkeit wie die des biederen Latimer.Latimer übrigens kommt drei Jahrzehnte später, als er sich mit den richtigen harten Burschen von „Das Intercom-Komplott“ anlegt, spurlos weg.

Ob Dimitrios, der am Ende doch relativ leicht zu erlegen ist, wirklich so ein Genie des Bösen ist, bleibt bei dem Ambler´schen Verfahren, das Gesagte und das dennoch existierende  Nicht-Gesagte in einem sehr ambiguen Verhältnis zu halten, gar nicht so klar, wie man meinen möchte, glaubte man den einzelnen Einschätzungen der Figuren, die ja jeweils in eigeninteressierten Relationen zu Dimitrios stehen. Je omnipotenter sie ihn schildern, desto graduell besser kommen sie weg. Und vielleicht trifft ja ausgerechnet Latimers Einschätzung, Dimitrios´ „Distinguiertheit war die eines zweitrangigen Gastes auf einem wichtigen diplomatischen Empfang“ am ehesten zu. Vielleicht aber auch nicht.

Immerhin, Dimitrios muss ziemlich oft Reißaus nehmen, hat ein Attentat auf Atatürk versaubeutelt und endet möglicherweise als Laufbursche fürs Grobe im Dienste einer schattenhaft agierenden Kreditbank. Oder tatsächlich in  deren Aufsichtsrat? Dämonisch ist da wenig. Seine Untaten folgen den Routinen der auch schon in der Zwischenkriegszeit elaborierten Geschäftsordnung des Organisierten Verbrechens. Als freischaffender krimineller Feigenpacker hatte sich Dimitrios mit Raubmord beschäftigt, erst als er in die von Ambler glänzend und ganz modern anmutend beschriebene graue Welt einsteigt, in der große Politik, Drogen-, Frauen-, Waffenhandel und wirtschaftliche Interessen nebst Spionage sich gegeneinander bedingen und untrennbar miteinander verzahnt sind, als Dimitrios allzu sozusagen Mainstream geworden ist, avanciert er. Das ist dann schon weniger „böse“ als pragmatisch. Und Amblers Blick auf das ganze Unheil eher eisig, gerade weil sich dieser Blick in der ästhetischen Organisation seiner Romane manifestiert.

Typisch für Ambler und Ausweis seines großen schriftstellerischen Rangs ist auch die präzise Beiläufigkeit, mit der er ein ganzes Panorama der Zwischenkriegszeit zwischen Paris, Sofia und Ankara aufmacht. So eindrücklich-lakonisch, als ob es sich lediglich um Hintergrundinformationen für ein Psychogramm des Bösen handeln würde. Dabei ist  psychologischer Realismus das Letzte, was Ambler interessiert. Der ist bekanntlich sowas von 19. Jahrhundert und insofern nur noch in faden Mörderpuzzles à la Latimers Kriminalromanen ein Residuum der Vormoderne (deswegen ist ja die heute noch oft gestellte Forderung nach „psychologischer Tiefe“ von Romanfiguren so erstaunlich), über die sich Ambler offen lustig macht: „So was lesen die Leute gern, er selbst würde es auch gerne lesen“, ächzt Latimer am Ende. Aber Ambler ist auch da gnadenlos: „Der Zug fuhr in einen Tunnel“, heißt der letzte Satz des Romans. 1939 wird es sehr dunkel auf der Welt. Eine Gestalt wie Dimitrios verblasst, die realen Strukturen bleiben tödlich virulent und persistent. Bis heute.

Eric Ambler hat uns wieder einmal aufs Kreuz gelegt: Das Beiläufige ist das Wichtige, das Dämonische wird, verrückt man das ästhetisch-ordnungspolitische Millimeterpapier nur ein bisschen, zum normalen Geschäftsgang der Welt. Ambler hatte schon 1939 den Zusammenhang von Ideologie und Erzählkonvention radikal-skeptischer Anarchie ausgeliefert. Damit war er schon  bedeutend näher an Ross Thomas, auf jeden Fall weiter als Chandler und sehr viel weiter als viele seiner heutigen Kollegen und Kolleginnen, die immer noch denken, sie produzierten nur breitenkonsensuale Unterhaltung statt Ideologie.

Deswegen Ambler und immer wieder Ambler.

Thomas Wörtche

Mehr zu Amblers Poetik der „Sprengfallen“ in TW: „Das Mörderische neben dem Leben“, Libelle, 2008, S. 50 – S.58 oder in der EBook-Ausgabe bei CulturBooks

Eric Ambler: Die Maske des Dimitrios. (The Mask of Dimitrios, UK, A Coffin for Dimitrios, US, 1939) Dt von  Matthias Fienbork. Neuauflage: Hamburg: Hoffmann & Campe 2016, 336 Seiten, € 22,00.
Dort auch aktuell von Eric Ambler im Taschenbuch:
Ungewöhnliche Gefahr (Uncommon Danger, UK 1937; Background to Danger, USA)
Nachruf auf einen Spion (Epitaph for a Spy, 1938), ab 16.7. 2016
Der dunkle Grenzbezirk (The Dark Frontier, 1936), ab 20.1. 2017
Doktor Frigo (Doctor Frigo, 1974), ab 20.1. 2017.

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