
Sybille Ruge: Vertrauen in die Katastrophe
„Unter dem Einfluss des allgemeinen Überschwangs verwandelt sich der unscheinbarste und harmloseste Bürger in einen Helden oder Henker.“ (Durkheim „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ S.290)

Stau. Auf der Autobahn stand der Verkehr.
Ein idyllisches Morgenrot über dampfendem Blech. Ich stieg aus dem Wagen und ging nach vorn.
Vor mir ein Spektakel mit Bedürfnis nach illustrierter Sinnlichkeit. Die Aktivist*innen waren mir aus den sozialen Medien bekannt. Sie verwendeten eine Rhetorik, die man neureligiösen Gruppen zuschrieb. Mit vielen Worten immer das Gleiche sagen. Ich fragte mich, ob die Endzeitprognosen so ein Christentum Ding sind. Überhaupt diese ganze nicht irritierbare Haltung zur Welt. Man ist ein bisschen besser als andere.
Religion erstellt eine Ordnung, aber das Zerstören von Ordnung bietet auch Erlösung. Wo gibt es mehr Action? Bei der Jungen Union oder bei den Aktivisten. Ich tippe auf letztere.
Ich rief meinen Geschäftspartner an und erklärte ihm die Lage. Er war sehr verständnisvoll. Mir war sozusagen etwas widerfahren, für das ich nichts konnte, bei Versicherungen ein Akt höherer Gewalt genannt.
Zurück im Wagen öffnete ich gemütlich meine Thermoskanne. Am schönsten sind die unerwarteten Kaffeepausen. Vereinfachen bedeutet Vertrauen in Handlungen, denn Handlung schaltet andere Möglichkeiten aus. Handeln ist die Qualitätssicherung der eigenen Überzeugung.
Der Künstler sieht für uns. Daher die Inszenierung. War das Kunst?
Oder könnte man argumentieren, dass die Art und Weise, wie die Organisation ihre Ziele verfolgt, einige Parallelen zu religiösen Bewegungen aufweist, insbesondere in Bezug auf ihre Überzeugung, die „Letzten“ auf der Welt zu sein, die noch etwas gegen die Klimakatastrophe tun können? Ist die Tatsache, dass sie bestimmte Forderungen stellen und radikale Aktionen durchführen, um Aufmerksamkeit zu erregen, ein ausreichender Beweis?
Ich holte meine Stulle aus der Tasche und lehnte mich zurück.

Ich frage mich, ob die Menschen im Dreissigjährigen Krieg auch das Gefühl hatten, die letzten ihrer Art zu sein. Zukunft ist für uns nicht verfügbar und die Vergangenheit hat sich ebenfalls verzogen.
Der Mensch begreift die Welt nicht, aber er fängt langsam an, seine Heizung zu begreifen. Ein Anfang.
Wer kümmert sich um Gerechtigkeit? Aktivist*innen, Theolog*innen, Mineralölstiftungen und Gregor Gysi. Die Welt war bis hierher nicht gelungen. Der Teufel sampelt weiter. Wir machen mit. Tomatensauce für Blut. Sekundenkleber anstelle der Nägel am Kreuz. Ich sah Fortschritt.
Im Radio lief ein beknacktes Lied nach dem anderen. Tieferes Empfinden hatte ich nur für die Polizei.
- Ausschnitt aus „1o Stunden außer Dienst“. Das Roman-Debüt Davenport 160 x 90 von Sybille Ruge erschien im Mai 2022 in der TW-Edition und wurde stark beachtet. Bei ihrem Jahresrückblick 2021 kannte sie noch niemand.
Besprechungen bei uns hier von Sonja Hartl und Joachim Feldmann & Alf Mayer.
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Lisa Sandlin: An Iliad
Production: The Santa Fe Playhouse, Co-adapters: Lisa Peterson and Dan O’Hare, The Poet: Patrick Osteen
We could have chosen a high-end restaurant, as the play was staged in a few different venues. We chose Tumbleroot Brewery & Distillery, formerly the Alegría Club, which features a corral-like beer garden and an interior of plain, unshiny wood. Tumbleroot seemed the likeliest place for a poet to wander in, beer glass in hand, and recount the story of a war.
“An Iliad” is a one-bard show. The single actor must have a prodigious memory, as he speaks for 100 minutes non-stop, sings, becomes pairs of warriors, becomes warrior and old father, becomes begging wife and stricken mother. The marvelous actor Patrick Osteen didn’t make that feat look easy but he made it natural. He made us believe. His limber voice was suited to melodic song, casual explanation, threats, prophecy, and one belly-wail that shuddered the wooden walls.
The Poet described the Greeks and the number of ships in the fleet of each general before pausing his count to say, conversationally, “But you don’t know who they are, do you?” He then related men and places to his American audience, naming fighters who came from, say, Ohio and small town Texas, Philly, Oklahoma City, Lawrence, Kansas, (easily adaptable to Berlin or Aachen, Freiburg, Essen). That’s what makes the play “An” Iliad—The Poet passed agilely from 1184 B.C. to A.D. 2022. Marveling over Achilles’s great stature, he said, “He’s bigger than Heracles, bigger than Sinbad, bigger than . . . I don’t know, who’s the greatest living warrior today?” A voice in our audience offered, “Arnold Schwarzenegger!” “Bigger than Arnold Schwarzenegger,” agreed The Poet.
With pantomime, gesture, constant movement, The Poet brought us into each fraught dialogue. Agamemnon demanded Briseis as his prize—what hubris—Agamemnon consuming space, gesturing wide as the sea. Achilles condemned him, his own leader, Achilles shouting, spitting scorn, then wrathfully withdrew from the war. Hector’s wife Andromache curved one arm to her breast as she cradled her infant, pleaded with her husband to live, to be a father to their baby son. Hector, still but mentally whirling, weighed the pulse of his desire—home, family—against fatal duty. Falling to one knee, wrenching back a bowstring, Osteen became angry Apollo, firing a disease-tipped arrow toward the disobedient. Or he used a light touch—tink, a whimsical fingertap against a golden helmet.
The bloodiest of the battle he delivered in pure Homer. The Poet recited and portrayed the action, the wounding and the deaths, with strong voice, striking and plunging moves. Then, at a point somewhere toward play’s end, a tour de force in itself, The Poet named every war known to Western history, and then some.
Finally, with Hector’s dead body laid safe in his father Priam’s wagon, and exhausted old Priam asleep, all slept. Even Zeus on Olympus rested his head on Hera’s shoulder. The Poet said then he did not want to tell us the rest—“I don’t want to sing that song . . .” though he helplessly repeated the worst—Hector’s baby son thrown from the battlements, the Trojan women raped and hauled away, and “I know you all know it . . . the trick with the Trojan horse.
“Frankly it’s too much all these songs . . . I’ll be honest with you, it all looks pretty much the same . . . You can imagine for yourself what it looked like . . . Alexandria, all that history lost. Constantinople burning for weeks. The Aztec temples razed. Dresden. Hiroshima. Sarajevo. Kabul. Aleppo . . .”
The Poet sank wearily onto a step leading up to the stage he didn’t use. He tipped back his head and finished his last beer.
“. . . do you see?”
- Lisa Sandlin is the author of The Do-Right, out in Germany as Ein Job für Delpha – which made No. 2 on CrimeMag’s Top Ten List 2017. The second Delpha-Wade Family Business (The Bird Boys) also appeared within TW´s Suhrkamp Edition and was shortlisted for the Edgar. Exclusiv for CrimeMag-Readers: The Way Fayann Found, a story-ette for Delpha, by Lisa Sandlin; Katja Bohnet in CrimeMag über Lisa Sandlins Ein Job für Delpha: Tausche Schaukelstuhl gegen Bein.
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Christian Y. Schmidt
Buch des Jahres: Rayk Wieland: Beleidigung dritten Grades
Eine Art dramatisiertes Sachbuch, unendlich akribisch recherchiert, in dem man auf nahezu jeder Seite etwas über das Duellieren erfährt. Dabei wird die Geschichte des letzten Duells, das 1937 offiziell auf deutschem Boden stattgefunden hat, raffiniert mit einer verflochten, die im heutigen Berlin und seinem Umland spielt.
Erzählt wird alles so stilsicher und subtil lustig, dass ich immer wieder neidisch wurde. Nebenstränge scheinen ins Nichts zu führen, werden dann aber doch wieder überraschend zurückgebunden; andere führen tatsächlich ins Nichts, enthalten aber so viele Informationen, interessante Überlegungen und Bonmots, dass man sie nicht missen möchte. Dauernd hätte ich mir Lieblingsformulierungen angestrichen, hätte ich das Buch nicht umständehalber als PDF auf meinem iPad lesen müssen. Das allerletzte Lieblingszitat, auf S. 363, lautet: „Wissen Sie, ich bin sonst nicht so schrecklich pädagogisch. Aber diese Toten kapieren die einfachsten Dinge nicht.“ Das ist ja wie auf Facebook.
Angesichts der Großartigkeit dieses Romans ist es um so unverständlicher, dass er zunächst vom deutschen Feuilleton ignoriert wurde. Erst mit monatelanger Verzögerung ließen sich Süddeutsche und taz zu einer Rezension herab. Obwohl: So überraschend ist das nicht. Wann wird hierzulande schon kühle Eleganz gepaart mit leiser Komik angemessen gewürdigt? In Deutschland bevorzugt man Betroffenheitsliteratur, am besten zu einem aktuellen Talkshowthema. Wahrscheinlich muss ein Buch wie „Beleidigung dritten Grades“ zuerst im angelsächsischen Raum in einer guten Übersetzung erscheinen, denn dort könnte es tatsächlich ein Erfolg werden. Ist der dann eingetreten, wird es endlich auch vom deutschen Feuilleton entdeckt. Das führt schließlich dazu, dass es auch auf Deutsch erscheint, woraufhin es am Ende auch hierzulande ein Bestseller wird. So könnte es eventuell klappen.
Hätte ich nur genügend Geld, würde ich das mit „Beleidigung dritten Grades“ ausprobieren. Ich habe aber keins. Außerdem ist es ja schon auf Deutsch erschienen. Also bleibt mir nur eins: Ihnen zu empfehlen, diesen Roman sich stante pede zuzulegen! Damit können Sie sich selbst und allen anderen ihren guten Geschmack beweisen. Etwas lernen tun sie auch, und sie werden zudem gut unterhalten. Warum zögern Sie? Soll ich das als Beleidigung auffassen?

Gefundenes Buch des Jahres: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Vor der Lektüre von Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ bin ich jahrzehntelang zurückgeschreckt. Zeit meines Lebens habe ich keine Bestseller gelesen; die Mehrheit liegt ja meistens falsch. Auch die naiven politischen Äußerungen des Autors waren für mich nicht unbedingt eine Empfehlung, sich in seine Romane zu vertiefen. Nun habe ich in diesem Jahr die Taschenbuchausgabe von Kehlmanns Bestseller auf der Straße gefunden. Und weil ich gefundene Bücher für einen Lesebefehl des Schicksals halte, bin ich ihm gefolgt.
„Die Vermessung der Welt“ hat mich überrascht. Es ist tatsächlich ein dicht gearbeitetes, exzellent geschriebenes Buch, das zudem noch zwei deutsche intellektuelle Ikonen ironisch abhandelt, um nicht zu sagen: erledigt. Sehr klug, und manchmal sogar weise. Jetzt frage ich mich: Wie konnte ein solches Buch hierzulande bloß ein Bestseller werden? Was ist da schief gelaufen?

Nicht gelesenes Buch des Jahres : Wolfram Hänel: Rollator Blues
Jedes Jahr werden sie mehr: Die Bücher, die mir zugeschickt werden, zur Rezension oder einfach nur zur Lektüre, und die sich neben meinem Bett stapeln, ohne dass ich auch nur eine Seite gelesen hätte. Jedes Jahr beißt mich deshalb auch immer stärker mein Gewissen.
Eins dieser Bücher ist „Rollator Blues“ von Wolfram Hänel alias Kurt Appaz, dessen Coming-Of-Age-Roman „1975“ mich einst recht gut unterhalten hat. Dem Waschzettel entnehme ich, dass es in dem aktuellen Roman nun um die Wiederholung der Reise im VW-Bus geht, die auch in „1975“ im Zentrum stand – in derselben Besetzung, nur fünfzig Jahre später. Das würde ich schon ganz gerne lesen, hätte ich bloß die Zeit.
Auf dem Waschzettel steht auch geschrieben, daß Hänel neben mehreren Theaterstücken „mittlerweile über 150 Bücher veröffentlicht“ hat. Da frage ich mich allerdings, wie das einer macht. Vielleicht hat sich Hänel ja meinen alten Traum erfüllt, und den Tag mit 48 Stunden tatsächlich irgendwo gefunden? Bitte, bitte, Wolfram, sage mir, wo dieser Ort liegt.

Film des Jahres: Daniel Kwan & Daniel Scheinert: Everything Everywhere All at Once
Am 20. Mai dieses Jahres streamte ich in Peking diesen Film und notierte danach in meinem Tagebuch: „Wow, wow, wow. Das Durchgeknallteste, das ich seit ‚Montana Sacra‘ sah.“ Der erste wirklich durchglobalisierte Film. Wahnsinn. Auf Mandarin, Englisch und Kantonesisch. Typisch Chinesisch ist, dass er nicht enden will, weil er zig Schlüsse hat.
Der Film ist so gut, dass ich mich frage: Für welche Zielgruppe wurde er gedreht? Für das Kinopublikum in Festland China sicher nicht, denn ein Film, in dem Butt Plugs eine solch prominente Rolle spielen, kommt hier nicht durch die Zensur. Für ein westliches Publikum wird im Film definitiv zu viel Chinesisch gesprochen. Wer also kuckt sich diesen Film an, außer mir und noch ein paar anderen Verrückten?“
Wie man sieht, gab ich dem Film an der Kasse keine große Chance. Doch ich sollte mich irren. „Everything Everywhere“ ist nicht nur von der Kritik weltweit gefeiert worden, sondern hat auch über 100 Millionen US-Dollar eingespielt. Das heißt wohl: Auch wenn gerade versucht wird, die ökonomische Globalisierung der Welt rückgängig zu machen, macht das Kinopublikum bei diesem Trend nicht mit. Und das ist doch sehr erfreulich.

Serie des Jahres : Sam Esmail: Mr. Robot
„Mr. Robot“ ist bereits ein bisschen älter. Die dystopische Technothriller-Serie lief in vier Staffeln von 2015 – Dezember 2019 auf dem Kabelkanal USA Network. Inzwischen kann sie auf Amazon Prime gestreamt werden. In ihrem Zentrum steht ein junger, von Rami Malek gespielter Hacker, der unter starken Depressionen, Panikattacken und psychotischen Schüben leidet. Wer „Der letzte Huelsenbeck“ gelesen hat, weiß, dass mir solche Charaktere gefallen. Auch wie Esmail die Hoffnungslosigkeit und Düsternis seiner Parallelwelt zu visualisieren weiß, kann man so schnell nicht vergessen. Viele Einstellungen sehen aus wie mit grauer Tusche gemalt.
Zwar nervt gelegentlich das monotone Spiel von Malek, und – wie bei nahezu allen Serien – zerfasert die Handlung ab der dritten Staffel. Dennoch blieb ich bis zum Schluß dabei. Das ist sicher auch der Tatsache geschuldet, dass in dieser Serie immer öfter – wenn auch meistens holprig – Mandarin gesprochen wird, weil sich als die wahren Bösewichter dann doch Chinesen entpuppen. Dass diese wiederum nicht einfach nur böse sind, sondern ebenfalls ambivalente Charaktere, auch das macht die Qualität dieser Serie aus. In Deutschland wurde sie leider nicht genügend gewürdigt, aber vielleicht kommt das über die Jahre noch.
Song des Jahres: The Bobby Lees: Hollywood Junkyard
Auch das Video zu diesem Song ist mega, wie ich gewöhnlich nur auf meinem Tiktok-Account zu sagen pflege. Aber einmal will ich das doofe Adjektiv auch in diesem Rückblick unterbringen.
Album des Jahres: Dope Lemon: Rose Pink Cadillac
Seuche des Jahres: Covid_19
Auch wenn sie nahezu gänzlich aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist, blieb 2022 die Pandemie mit der 19 im Anhang Seuche des Jahres. Das erfuhren besonders Menschen am eigenen Leib, die, wie ich, den größten Teil des Jahres in China verbracht hatten. In knapp acht Monaten, die ich mich in Peking aufhielt, musste ich mich rund 75 mal einem PCR-Test unterziehen, davon 69 mal in Folge.
Konnten durch solche Massentests und Lockdowns in anderen großen chinesischen Städten die Pandemie weitgehend in Schach gehalten werden, musste Chinas Zerocovid-Politik am Ende des Jahres doch vor der reimportierten Seuche kapitulieren. An der Art und Weise, wie das geschah, gibt es gewiß einiges zu kritisieren. So bleibt unverständlich, wieso während des Zerocovid-Regimes in China keine Impfpflicht durchgesetzt wurde. Zeit dafür war genug.
Doch für das Triumphgeheul, das viele westliche Medien angesichts der sich explosiv ausbreitenden Infektionen in China anstimmten, gibt es keinen Grund. Die Kapitulation wurde im Westen schon deutlich früher vollzogen; über 160.000 offizielle Corona-Tote bis Ende 2022 allein in Deutschland oder 1,1 Million in den USA zeugen davon.
Historischer Moment des Jahres: 24. Februar 2022: Angriff Russlands auf die Ukraine
Der wichtigste historische Moment des Jahres war ohne Zweifel der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar. Ich hatte zwar schon seit Jahren vor einem größerem Krieg zwischen Russland und der Ukraine gewarnt, weil die Konfrontation auf beiden Seiten immer weiter zunahm. Der verheerende Angriff kam für mich allerdings vollkommen überraschend.
Ich denke jedoch auch heute noch, dass der Krieg nicht unvermeidlich war, hätte man nur frühzeitig versucht, die Konfrontation zurückzufahren. Das wurde nicht getan. Und anscheinend wurde aus dieser Zuspitzung auch nichts gelernt. Stattdessen verschärfen die USA massiv den Handelskrieg gegen China, und Teile der deutschen Politik sind bereit, ihr dabei zu folgen. Diese Entwicklung ist gefährlich für die ganze Welt, weil sie schließlich in einem wirklich großen Krieg münden kann. Egal, wo man sonst politisch steht: Diesen Krieg gilt es unbedingt zu verhindern.
Flop des Jahres: Soziale Medien
Eine Folge des sich zuspitzenden kalten Krieges ist auch der Niedergang der sozialen Medien im Westen. Zu dem trägt noch der Kulturkampf innerhalb der westlichen Meinungskohorten bei, der ebenfalls kontinuierlich zunimmt. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Verfall mit dem Kauf von Twitter durch Elon Musk am 27. Oktober. Während kurz nach der Übernahme diverse rechtsradikale Verschwörungstheoretiker auf der Plattform wieder freigeschaltet wurden, wurden Musk-Kritiker gesperrt und linke Tweets durch den Algorithmus behindert.
Auch auf Facebook werden kritische Stimmen zunehmend mundtot gemacht. Allerdings agiert man hier subtiler. Ich selbst wurde in diesem Jahr für mehr als zwei Monate gesperrt, wegen angeblicher „hate speech“. Dabei handelte es sich immer um uneigentliches, ironisches Sprechen, das genau das Gegenteil von dem intendierte, was unterstellt wurde.
Zwar war ich wohl zunächst einmal einem Algorithmus zum Opfer gefallen, der Ironie grundsätzlich nicht erkennen kann. Auffällig war aber auch, dass die Postings immer im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen China und dem Westen standen. Gut begründete Widersprüche, die ich bei jeder Sperrung bei einem angeblich unabhängigen und transparenten „Oversight Board“ einlegte, wurden nicht ein einziges Mal zur Kenntnis genommen. Diese Einrichtung dient Facebook offenbar nur zur Kosmetik.
Angesichts dieser zunehmenden Zensur fühle ich mich immer mehr an die sozialen Medien in China erinnert. So wie dort muss man sich auch im Westen etwas einfallen lassen, um durch die Maschen der Zensuralgorithmen zu schlüpfen. Da bei mir auf Facebook erst einmal gar nichts geht, bin ich auf die ebenfalls im Niedergang befindliche Video-Plattform YouTube geflüchtet, wo ich als Kunstfigur „Henry von der Küste“ mein Unwesen treibe.
Henry tut so, als ob er norddeutsches Platt sprechen würde, kann es aber nicht. Das hat bereits bei einigen Hanseaten zu empörten Reaktionen geführt, die meinten, dass auf diese Weise ihr Dialekt verspottet würde. Zu eine Sperrung auf YouTube hat es aber bisher leider nicht gereicht. Ich hoffe, dass im nächsten Jahr die Empörung über Henry wächst.
Tote des Jahres: Ursula Schmidt
An dieser Stelle habe ich in den vergangenen Jahren immer einer Reihe von Toten gedacht, die im abgelaufenen Jahr gestorben waren. In diesem Jahr will ich mit dieser Tradition brechen, und an nur an eine Tote erinnern: Meine Mutter Ursula Schmidt, die am 21. April im Alter von 94 Jahren gestorben ist. Dieser Tod hat mich besonders erschüttert, weil ich in den letzten Stunden nicht bei ihr sein konnte, da ich zu diesem Zeitpunkt in Peking festsaß.
In meinem Nachruf auf Facebook schrieb ich: „Meine Mutter ist ohne Zweifel der Mensch, der mich am meisten geprägt hat.“ Das gilt sicher nicht nur für mich, sondern auch für meine Geschwister. Auch auf viele andere Menschen in ihrem Umfeld hat meine Mutter einen starken Eindruck gemacht. Sie war für die Zeit, aus der sie stammt, eine äußerst ungewöhnliche Frau, die nie auf die Idee gekommen wäre, sich wie viele ihrer Generationsgenossinen auf ein Hausfrauen- und Mutterdasein zu beschränken. Ich werde nicht aufhören, ihr für alles das, was sie mir mitgegeben hat, dankbar zu sein.
Wer mehr über Ursula Schmidt und ihr Leben wissen will, der lese hier.
- Christian Y. Schmidt, 1956 geboren, war von 1989 bis 1996 Redakteur der «Titanic». Seitdem arbeitet er als freier Autor, u. a. für FAZ, SZ, taz, Stern, konkret, NZZ, Zeit sowie für verschiedene Fernsehredaktionen. Er ist Senior Consultant der Zentralen Intelligenz Agentur und war Gesellschafter und Redakteur des Weblogs «Riesenmaschine». 2003 zog er nach Singapur, 2005 nach China. Er lebt heute in Berlin und Peking, hat etliche Bücher veröffentlicht, so etwa Bliefe nach dlüben. Der China-Crashkurs oder Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu. 2018 erschien sein erster, vielbeachteter Roman: Der letzte Hülsenbeck. CulturMag mit zwei Stimmen dazu hier. Im März 2020 erschien Der kleine Herr Tod. Dazu bei uns Georg Seeßlen, weitere Texte hier.