Geschrieben am 31. Dezember 2021 von für Highlights, Highlights 2021

Sybille Ruge, Frank Rumpel, Lisa Sandlin

Sybille Ruge: Zermatt

X erzählte, dass sie eine Flüchtlingsfamilie für ein Jahr bei sich illegal hätten wohnen lassen und Y meinte, dass für eine Integration private Lösungen viel besser wären als staatliche Programme. Ich sagte, dass mich Wohngemeinschaften, egal mit wem, total abfucken würden.

Wir saßen in Zermatt und hatten unser 4 Gang Menü gewählt. Ich genehmigte mir den ersten Schluck vom Monte Alpha.

Was ist denn deine Lösung, fragte X, denn weniger Fluchtbewegung wird es nicht.

Ein Zaun und vernünftige politische Lösungen. Die Phrase von der politischen Lösung passt immer, wenn man keinen Plan hat, dachte ich.

Insgeheim bewunderte ich X für den Mut und die Güte, Hilfe zu leisten.

Ha, sagte ich, da habe ich gerade eine Businessidee für alle, die das absolut Singuläre suchen.

Alles fängt ganz harmlos an. Stadtbesichtigung, Abendessen, auf dem Deck unter romantischem Mond, dann geht es ins Schlauchboot. Der Spaß ist groß. Als die Sonne aufgeht, ist das Begleitschiff verschwunden. Eine Kreuzfahrt mit unvergesslichen Erinnerungen, der Preis  etwas höher, aber dafür sind die Pässe weg und das alte Leben. Jetzt kann man ganz von vorn beginnen.

Die Chefin selbst brachte die getrüffelten Ravioli, drei an der Zahl.

Ich bin viel gereist, sagte Y. In den Dörfern Afrikas stehen die verrotteten Anlagen der Entwicklungshilfe. China schnappt sich jetzt Afrika. Und sie bringen ihre eigenen Leute mit.

Derweil werden hier Raubschätze diskutiert. Nehmt die grobschlächtigen Objekte, die ohne europäische Museen nie zur Kunst erklärt wären und haut sie bei euch auf den Müll. Ich konnte mit dem Maskenkram noch nie was anfangen.

Das Entrecote war wirklich gut geraten.

Keiner getraut sich heute zu sagen, dass die Menschheit einfach zu groß ist für diesen Planeten, sagt Z, der bis dahin sein Hörgerät nicht eingesetzt hatte. Ach Quatsch, sage ich, wir werden zu alt. Machen wir eine Altersbegrenzung, sagen wir vierzig und die Sache geht wieder klar. Und dann dieses ewige wir sind alle gleich Gelabere. Lass uns alle freiwillig auf den Stand von Äthiopien runterschrauben und der Ressourcenverbrauch sinkt.

Ich sah in die Dessertkarte, wissend, dass alles Gesagte sich in puren Blödsinn verwandelt aufgrund seiner Beschränkung im Kosmos.

Habt ihr von der Schweizer Künstlergruppe gehört, die einen Gewaltverbrecher zum Kunstprojekt erklärt? Kunst ist so einfach heute. Man braucht nichts als einen Schläger, das Wort Menschenrecht und einen 3D Drucker.

Ich nehme die Mille-Feuille mit Passionsfrucht. Danke.

Nur das Schafott kürzt die Wege. Also lass uns weiterreden. 

Du siehst die Welt aus der Siegerperspektive, sagt X. 

Ich will nicht siegen, sage ich, weißt du, wie die Welt aus dieser Perspektive aussieht? 

Verdammt leer.

Aufstand

Von hier aus auf die letzten 2000 Jahre geschaut, hat sich alles verbessert, aber von Tag zu Tag gesehen, ist alles so unendlich beschissen. 

Randgruppen mit Aufmerksamkeitsdefiziten zerlegen Worte wie Freiheit. Es werden Tranchiermesser benutzt und manche nehmen das Silberbesteck. Trottel mit Fackeln verweisen auf das Grundgesetz. 

Das Gerede erinnerte mich an Francis Bacon, der dem sehr ehrenwerten, sehr guten Lord, dem Duke of Buckingham, seine Gnaden, Lord-Großadmiral von England einige Essays widmete, in denen er alle Zutaten für einen gelungenen Aufstand bestimmt. Er rät seinem Fürsten, wie Umstürze zu vermeiden sind. Bacon, dem nichts Menschliches fremd war, stolpert über eine Bestechungsaffäre und stirbt letztendlich an einem Experiment, in dem er die Haltbarkeit toter Hühnchen durch Ausstopfen mit Schnee testet und einer Lungenentzündung erliegt. Es ist das Jahr 1626.

Die ersten Anzeichen für Unruhen sind ausschweifende Reden gegen den Staat, Gossip und Fake News. Eine zweite Stufe wird erreicht, wenn der Staat gute Dinge tut, diese aber böswillig aufgenommen werden. Streitereien werden auf unverschämte Weise ausgetragen.
Bacon hält das Volk nicht für fähig, ein Programm zu entwerfen, also muss die Elite her. Dieser Zusammenschluss ist toxisch. Man denke nicht darüber nach, ob die Aufruhr begründet oder unbegründet ist, da dies zur Vorrausetzung hätte, dass das Volk vernünftig ist. Oft regen sich die Leute über Lappalien auf und übersehen das, über was sie sich aufregen müssten. Meine Freiheit könnt ihr haben, aber meine Freizeit nicht.

„Und es ist ein sicheres Anzeichen für eine weise handelnde Regierung, wenn es ihr gelingt, die Herzen der Menschen durch Hoffnung für sich einzunehmen, falls sie ihre Bedürfnisse nicht befriedigen kann, und wenn sie es so darzustellen vermag, dass kein Übel so hartnäckig erscheint, als dass es nicht doch noch einen Anlass zur Hoffnung gäbe. Dies ist am leichtesten zu erreichen, weil sowohl Einzelpersonen als auch Parteien dazu neigen, sich selbst zu schmeicheln oder zumindest das zu verfechten, woran sie nicht glauben.“ 

Politiker versprechen die Energiewende und Wohlstand.

Klimaschützer sprengen Pipelines, aber die Armen der Welt wollen dahin, wo wir sind.

Sein erstes Ende war Koks und Alkohol, das zweite Ende ein braver Film. Der Exzentriker Brasch wird als Rebell gefeiert.

Der ehemalige Partisan wird Künstler und zahlt drei Millionen Erbschaftssteuer unter Zunahme eines externen Beraters, der sich mit den Gesetzeslücken auskennt. 

Die Meute stürmt den Reichstag, aber ihre Bäuche sind fett und die Klamotten sauber.

Die Gedanken können noch so wirr sein, aber die Rebellionen des Bauches sind die Schlimmsten, sagt der tote Philosoph. 

 Abhandlung 15 Über Aufruhr und öffentliche Unruhen, aus Essays Francis Bacon, Kleine philosophische Reihe, Marixverlag 2013

Das Roman-Debüt Davenport 160 x 90 von Sybille Ruge erscheint im Mai 2022 in der TW-Edition.

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„Zinder“ von Aïcha Macky

Frank Rumpel

Nochmal ein etwas seltsames Jahr, das jedoch die eine oder andere Gelegenheit bot, mal wieder ins Kino zu gehen. Vor allem zwei Dokumentarfilme ragten für mich heraus. Einer der interessantesten war sicherlich Zinder von Aïcha Macky. Die Regisseurin begleitete ein paar junge Leute im Armenviertel von Zinder, einer Stadt im Niger.

Frank Rumpel

Die Eingangsszene: Zwei Jungs fahren auf einem Motorrad durch die Straßen, einer hält eine selbstgebastelte Flagge auf der groß „Hitler“ steht, in den Ecken Hakenkreuze. Da reibt man sich erstmal die Augen. Was die beiden da spazieren fahren, ist der Name eines Open-Air Bodybuilding-Clubs, in dem sich junge Männer zum Gewichtestemmen treffen. Gelegentlich heben sie auch mal ein Motorrad samt zweier Leute hoch – und sie haben keinen Schimmer, wer Hitler war. Sie halten ihn für einen gewieften US-Kriminellen, eine Art Vorbild. Alle sind sie arbeitslos, sind gezeichnet von den extrem harten Lebensverhältnissen, in denen sie aufgewachsen sind und aus denen sie irgendwie entkommen wollen. Nicht wenige verdienen ihren Lebensunterhalt mit Benzinschmuggel (von der nigerianischen Grenze), verkauft wird der Sprit literweise an Ständen entlang der Straße. Sehr zurückhaltend, mit ruhig ins Szene gesetzten, grandiosen Bildern erzählt die Regisseurin von den Menschen und der kargen Sahelzone, in der sie leben. Sie ist selbst dort aufgewachsen, hat die Stadt aber als Jugendliche verlassen, um unter anderem im Senegal und den USA zu studieren. Über diese so unterschiedlichen Startbedingungen spricht sie auch mit den Protagonisten, die da freiwillig Steine klopfen, um Geld für eine in ihren Augen zukunftsträchtige Idee zu verdienen: eine Sicherheitsfirma.

Ein bisschen leichter ist Pepe Danquarts Doku Vor mir der Süden, in dem er Pier Paolo Pasolini auf einer Reise um den italienischen Stiefel folgt. Der hatte 1959 mit seinem Fiat Millecento die 3000 Kilometer italienischer Küste abgefahren, hatte Gegenden und Menschen porträtiert, beobachtet, wie sich Industrialisierung, aufkommender Massentourismus und ein immer ausgeprägteres Konsumverhalten auswirken. Danquart machte (bereits vor der Pandemie) dieselbe Reise, lässt Leute von ihrem Leben und den Veränderungen erzählen, macht die Unterschiede zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden deutlich, zeigt ein Land, in dem viele Geflüchtete ankommen, durchreisen oder ihr Glück versuchen, bildstark fängt er Gegenden ein, die wirtschaftlich abgehängt sind oder von Touristen überrannt werden. So ist seine humorvolle Betrachtung unter anderem eine Hommage an Pasolini, aber auch eine Meditation über Europa und das Reisen selbst. 

Und noch ein altes Buch: Es erschien bereits 2018, ist aber aktueller denn je und unbedingt lohnend: Michael Butters Nichts ist, wie es scheint (Suhrkamp). Der Tübinger Amerikanist beschäftigt sich seit Jahren mit Verschwörungserzählungen und leitet auch das europäische Forschungsprojekt Compact zum Thema. Über das Thema wurde und wird viel geredet, doch hat Butter zahlreiche, relativ aktuelle und historische Verschwörungstheorien analysiert, dröselt sehr anschaulich mit vielen Beispielen Argumentationsmuster, Merkmale, Motive und Mechanismen auf. Er klärt auch, was sie denn für wen so attraktiv machen, diese vermeintlich schlüssigen Erzählungen und fragt nicht zuletzt, was man dagegen tun kann. Letzteres ist ein schwieriges Feld, denn Butter ist der (gut begründeten) festen Überzeugung, „dass Verschwörungstheorien einem adäquaten Verständnis der Wirklichkeit im Wege stehen“. Übrigens nimmt die Zahl der Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, nicht zu, auch in der Pandemie nicht, wie er jüngst in einem Zeitungsinterview sagte. Allerdings seien Verschwörungstheorien mit der Pandemie präsenter geworden und belastender, „weil jeder sich dazu positionieren muss“, sagte Butter. 

Frank Rumpel bei uns hier.

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Lisa Sandlin

Lisa Sandlin at the site of the Ludlow Massacre, 18 miles northwest of Trinidad, Colorado

Ellen McGarrahan’s book Two Truths and a Lie: A Murder, A Private Investigator, and Her Search for Justice (Random House, 2021) has been categorized as a memoir and as true crime. It’s both. What makes it remarkable, what caught all my attention, was not only the expressive, dynamic, honest writing, but the motive for such writing. McGarrahan’s book is a soul search. A crusade she can’t quit until her soul quietens enough to let her go.

At seven a.m. on February 20, 1976, a Florida trooper and his friend, a visiting Canadian constable, pulled their cruiser into a rest stop to check on a beater Camaro. They found two men asleep in the front seat, one with a gun at his feet, and in the back, a small sleeping woman, a boy, and a baby. Shortly, the two officers were dead. The Camaro’s occupants abandoned that car when they hijacked a Cadillac and its terrified, elderly owner, then crashed the Cadillac into a police roadblock. One man eventually testified against the others. The second man and the woman ended up on Death Row.

The author was a cub reporter in May 1990 when she covered a Florida execution. She faced Jesse Tafero, convicted of the murder of the two officers, strapped into the Chair. He in turn scrutinized each of the witnesses to his death. For the beat of six seconds, his gaze locked onto Ellen McGarrahan’s. Tafero looked defiant. And afraid. The execution went awry, inflicting on the condemned even more suffering than this particular cruelty commonly produces. 

Two years later, the news program 20/20 quoted McGarrahan’s story and asked, “Could the State of Florida have executed an innocent man?”

McGarrahan froze. Her life had gone on, of course, she became a skilled private investigator and married a man she loved. But an uneasy place inside her, the place Carl Jung called “a living and self-existing being,” began to clamor to know the ultimate truth of what had happened to land Jesse Tafero in the electric chair.

In 2015, Ms. McGarrahan takes all her P.I. experience and talents on a search for the facts. This is where the book resembles a mystery novel: the many witnesses and participants she finds and questions, one leading to another to another. The truck drivers who saw the shooting, old friends of the convicted, prosecutors, defense witnesses, P.I.’s, the boy in the backseat, the woman. 

Her search takes her to a Florida prison—and other spots—to interview Walter Rhodes, the man who testified against his friends, and to interview him again and again as he recants, confesses, recants, confesses, and so on. The search takes her to Australia to talk with the grown up boy, to Ireland to question the woman, freed and the subject of a play proclaiming her wrongful imprisonment, her innocence. With each interview, the author must confront reluctant or combative strangers and manage her own fear and doubt. She has to co-exist with a penetrating force that won’t allow her to leave off and go home. 

The book’s suspense comes from both sources, the drive for the truth and what the quest demands of Ellen McGarrahan. Two Truths and a Lie is true crime, it’s memoir—and it’s breath-taking.

Lisa Sandlin is the author of  The Do-Right, out in Germany as Ein Job für Delpha – which made No. 2 on CrimeMag’s Top Ten List 2017. The  second Delpha-Wade Family Business (The Bird Boys) also appeared within TW´s Suhrkamp Edition and was shortlisted for the Edgar. Exclusiv for CrimeMag-ReadersThe Way Fayann Found, a story-ette for Delpha, by Lisa Sandlin; Katja Bohnet in CrimeMag über Lisa Sandlins Ein Job für Delpha: Tausche Schaukelstuhl gegen Bein.

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