
Sonja Hartl
Ich wäre gerne romcommunist. Auf Twitter habe ich geschrieben, ich sei es – aber bei genauerem Nachdenken muss ich zugeben: ich bin es nicht. Aber Ted Lassos unbeirrbarer Glaube, dass „everything’s gonna work out in the end“ hat mir nicht nur eine der schönsten Serienfolgen seit langem beschert, sondern auch eine Erkenntnis, die mir in den letzten Wochen des Jahres geholfen hat: Ich glaube zwar nicht daran, dass am Ende schon alles gut gehen wird. Aber ich will mich auch nicht einfach dem Zynismus oder Fatalismus ergeben. Ich mag meinen Idealismus, ich halte daran fest, ich will nicht verbittert durchs Leben gehen. Abgesehen davon ist die Serie „Ted Lasso“ tatsächlich sehr, sehr gute Unterhaltung mit sehr witzigen Anspielungen und guten Charakteren. Sie trifft in vielen – nicht allen – Belangen den richtigen Ton: bei den Absurditäten des Profifußballs, den Realitäten in zwischenmenschlichen Beziehungen und vor allem wie irritierend es sein kann, auf einen Menschen zu treffen, der alles positiv sehen will. Eine große Empfehlung!
Weitere gesehene Highlights in diesem Jahr: „Ich bin dein Mensch“, „Drive my Car“, „Summer of Soul“, „I May Destroy You“.
Lese-Erfahrungen in der gemachten Reihenfolge
Stephen Greenalls „Winter Traffic“ war das sechste Buch, das ich 2021 gelesen habe – und es hat mir das Hirn weggeblasen. Ich habe mir Verbindungen aufgemalt, das Buch ein zweites Mal angefangen. Wären all die selbst erklärten mad dogs und harten harboiled/noir-Schreiber dieser Welt ehrlich, würden sie zugeben, dass sie alle nur halb so irre und gut sind wie Greenall. Außerdem bewahrheitet sich wieder einmal der Satz, den ich zuerst im Zusammenhang mit Essen gehört habe, der aber auf Literatur genauso gut passt: Es gibt „food that comforts you“ und „food that excites you“. „Winter Traffic“ weckt von begeistern bis zu reizen alle Übersetzungsmöglichkeiten von excite bei mir.
Innerhalb eines Jahres habe ich zweimal „Zorn und Stille“ von Sandra Gugić gelesen – und war beim zweiten Mal regelrecht überrascht, dass es nur 240 Seiten hat. In meiner Erinnerung musste diese Geschichte einer Familie, die aus Serbien nach Österreich ging und dort sich selbst und einander verloren hat, mindestens doppelt so lang sein, so dicht ist sie. Ein großartiger Roman, bei dem mich sehr wundert, dass er weder beim Leipziger noch Frankfurter Buchpreis eine Rolle gespielt hat.
Merle Krögers „Die Experten“ ist schlichtweg mein Krimi des Jahres. Die narrative Struktur ist sensationell, die Montage verschiedener Texte eindrucksvoll und mit Gesprächen über die Erzählperspektive, über die Konsequenzen für Spionage-, historische und Familienromane könnte ich mehrere Abende füllen.
Ich lese kaum identifikatorisch, ich mag Bücher, die mich herausfordern, aber Lena Goreliks „Wer wir sind“ ist mir vor allem aufgrund der Verbundenheit in Erinnerung geblieben, die ich beim Lesen trotz ganz anderer Biografie zu dem Ich in diesem autofiktionalen Buch verspürt habe. In ihrer Suche nach einem Selbst, nach ihrer Identität, ihrem Platz in der Familie fand ich einen Teil von mir wieder. Dieses Buch zeigt die große Stärke des autofiktionalen Erzählens: aus meiner bisherigen Einzelerfahrung wird etwas Universelleres, etwas, das zumindest eine weitere Person offenbar kennt. Und dadurch erhalten auch meine eigenen Erfahrungen mehr Gültigkeit.
Manchmal gibt es so Bücher, da habe ich das Gefühl, sie rütteln mich komplett einmal durch und setzen mich hinterher neu zusammen. Vor einigen Jahren war das Deborah Levys „Was das Leben kostet“, in diesem Jahr Meg Masons „Was wir wollen“. (Vielleicht sollte ich nur Bücher lesen, deren Titel mit „Was“ beginnt?) Es ist ein hochkomischer und tieftrauriger Roman. Erzählt wird die Geschichte von Martha. Sie ist Ende 30 und verheiratet mit Patrick, der alles tut, damit sie glücklich ist. Aber sie ist nicht glücklich in ihrem Leben und mit sich selbst. Manche sagen, sie sei zu sensibel, Ärzte vermuten, sie habe eine Depression. Martha weiß nur, dass etwas nicht mit ihr stimmt, und sie muss herausfinden, was sie eigentlich vom Leben will. Martha ist unglaublich anstrengend und zugleich eine hinreißende Erzählerin dieses Romans. Sie hat einen ganz eigenen, schonungslos offenen, mit Komik und Tragik bestechenden Ton, dazu kommen in diesem Roman unvergessliche Charaktere und ein Gespür für genau die richtige Länge von Sätzen, Szenen und wiederkehrenden Situationen.
Völlig aus dem Nichts kam für mich Cara Hunters „No way out“, das ich eigentlich für einen Artikel über Domestic Thriller gelesen habe, in den es gar passte. Alles an diesem Buch erscheint generisch: die Inhaltsangabe, das Cover, der Titel – aber es entpuppt sich als spannender und sehr vielschichtiger Polizeiroman aus Oxford mit sehr gelungenen Figuren. Never judge a book by its cover and the text in the Verlagsprogramm!
Zum dritten oder vierten Mal in meinen Leben habe ich in diesem Jahr Derek Raymonds “Ich war Dora Suarez“ gelesen und es ist jedes Mal eine andere Erfahrung. Dieses Mal war die Gewalt noch „unerträglicher“ – in einem guten Sinn, denn über Gewalt zu lesen sollte unerträglich sein! -, gerade weil ich wusste, was kommt. Dabei war in meiner Erinnerung die Gewalt, die der Täter gegen sich selbst ausübt, weniger präsent, aber ich verziehe jetzt noch beim Schreiben mein Gesicht, wenn ich daran denke. Ein schlichtweg großes Buch.
Die Autorenentdeckung des Jahres ist Colin Niel. Sein „Nur die Tiere“ war durchweg eine große Überraschung, viel wurde über das Buch geschrieben, erwähnenswert ist aber noch, dass es voller wundervoller, empathischer Beschreibungen von Einsamkeit steckt. Im Herbst erschien „Unter Raubtieren“ – das Buch ist ganz anders, aber auch hier ahnt man nicht, wie es ausgehen wird. Niel hat in diesem Jahr kurzerhand gezeigt, wie man einen Whodunnit und einen Thriller in der Gegenwart schreiben kann, ohne dass es auch nur einen Funken Altbackenheit in seinen Büchern gibt. Beeindruckend.
Zum Abschluss noch drei Sachbücher, die mich beeindruckt haben: Beate Hausbichler hat mit „Der verkaufte Feminismus” überzeugend die Verbindung aus Feminismus, Kapitalismus und Self-Care dargelegt – und macht sehr deutlich, wie sehr wir von Medien und Werbung beeinflusst sind. Anja Röckes „Soziologie der Selbstoptimierung“ ist das seltene Exemplar einer sehr gut lesbaren Habilitationsschrift, die mich zudem mit allerhand Analysewerkzeug und klugen Beobachtungen hinsichtlich des Trends der Selbstoptimierung versorgt hat. Und „America on Fire“ von Elizabeth Hinton ist das Buch, das jede*r lesen sollte, der verstehen möchte, was systemimmanenter Rassismus ist.
Sonja Hartl macht zusammen mit Alf Mayer, Thomas Wörtche und Anne Kuhlmeyer die Redaktion von CrimeMag, arbeitet zudem als freie Journalistin für kino-zeit.de, Deutschlandfunk Kultur, das BÜCHER-Magazin und viele andere Medien. Sie betreibt das Blog Zeilenkino und die Textstube. Ihre Texte bei uns hier.
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John Harvey: Best of 2021
Films
After Love : Aleem Khan
Copilot : Anne Zohra Berrached
Limbo : Ben Sharrock
Never Gonna Snow Again : Małgorzata Szumowska
Nomadland : Chloe Zhao
Petite Maman : Celine Sciamma
Power of the Dog : Jane Campion
Books
A Ghost in the Throat : Doireann Ni Ghriofa
Fidelity : Susan Glaspell (First published, 1915)
Jack : Marilynne Robinson
Lean. Fall. Stand. : Jon McGregor
That Old Country Music : Kevin Barry
The Night Always Comes : Willy Vlautin
The Night Watchman: Louise Erdrich
Real Estate : Deborah Levy
Scratched – A Memoir of Perfectionism : Elizabeth Tallent
The Vanishing Half : Brit Bennett

Poetry
Magnetic Field – The Marsden Poems : Simon Armitage
Country Music : Will Burns
Learning to Sleep : John Burnside
New Hunger : Ella Duffy
If You Want Thunder : Ruth Valentine
The Last Dinosaur in Doncaster: Sarah Wimbush
Art
Mohamed Bourouissa : Goldsmiths CCA
Helen Frankenthaler – Imagining Landscapes : Gagosian Grosvenor Hill
Helen Frankenthaler – Radical Beauty : Dulwich Picture Gallery
Margaret Mellis– Modernist Constructs : Towner Eastbourne
John Nash : The Landscape of Love & Solace : Towner Eastbourne
Ben Nicholson – From the Studio : Pallant House
Wim Wenders – Photographing Ground Zero : IWM
Breaking the Mould – Sculpture by Women since 1945 : Djanogly Gallery, Nottingham
John Harvey is one of Britain’s finest novelists and a CrimeMag columnist, his essays with us can be found here. His blog „Some Days You Do …“ is recommended, its about writers & writing: books, movies, art & music – the bits & pieces of a (retiring) writer’s life. Aslant, published by the Shoestring Press in 2019, combined some of Harvey’s poetry with his photographs from daughter, Molly Ernestine Boiling.
John’s website mellotone.co.uk, his body of work here (in Deutsch). His last Charlie Resnick novel darkness, darkness appeared in Germany as Unter Tage. published by ars vivendi. Alf Mayer’s review and interview here. 2018 saw the return of Frank Elder in Body & Soul, reviewed by Alf Mayer here, translated into English on John’s blog.
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Bodo V. Hechelhammer: Mit Bobby Ewing unter der Dusche

Wie in jedem Jahr könnte man unzählige Ereignisse herauspicken, um auf die vergangenen zwölf Monate zurückzublicken. Extremwetter, blockierter Suezkanal, Afghanistan-Desaster, immer wieder Lockdown, altes Impfchaos oder neue Mutationen. Egal ob national oder global, unwichtig oder epochal. Wer die Qual hat, hat die Wahl. Aber es gibt drei Ereignisse, die sind irgendwie durch ein geheimnisvolles Bond-Karma miteinander verbunden.
Zu Jahresbeginn versuchten in Washington Anhänger des donaldistischen Trumps dessen Wahlniederlage kurzerhand mit einem Aufstand umzudeuten. Ganz anders in Deutschland. Nach der letzten Bundestagswahl ist die Ära Merkel als Bundeskanzlerin demokratisch zu Ende gegangen. Von widerstandleistenden deutsch-nationalen Schamanen mit Pelz und Hörnern ist hier wenig bekannt. Noch. Zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt ist, um zu gehen, ist mitunter ein schwieriger Kunstgriff. Nicht nur in der Politik haben viele diese alte Handfertigkeit verlernt. Auch im Kino.
Denn neben Angela Merkel hat in diesem Jahr noch jemand zeitgleich sein Amt abgegeben, der interessanterweise genau zur selben Zeit wie sie im Jahr 2005 seinen Dienst antrat. Absurderweise kann man nämlich ihre Karriere mit der von Daniel Craig als fiktiver Geheimagent James Bond nicht nur zeitlich vergleichen. Kritiker interpretieren Craig sogar als typischen Bond der Merkel-Ära: vorsichtig und politisch korrekt, aber irgendwie uninteressant. Beide großen Krisenbewältiger begannen ihre jeweiligen Amtszeiten mit vergleichbar niedrigen Erwartungshaltungen, in denen es immer wieder ums Überleben ging. Mal politisch, mal cineastisch. Beide erhielten in den Jahren ihre Fortsetzungen, wurden hochgejubelt und stark kritisiert, sollten immer wieder einem Neuanfang weichen. Wählerstimmen und Zuschauerzahlen im Wandel der Zeit. Am Ende wollten beide nicht mehr. KEINE ZEIT ZU STERBEN passt metaphorisch wie die Faust auf beide Augenpaare.
Während alle fünf Bond-Filme von Craig in Merkels Bundeskanzlerinnenzeit fielen, wurde Donald Trump zum ersten amerikanischen Präsidenten in der Geschichte überhaupt, in dessen Präsidentschaft kein 007 in die Kinos kam. Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde dieser verschoben und verschoben. Trumps Amtszeit war glücklicherweise am Ende doch zu kurz, lag zwischen Sam Mendes Spectre und Cary Fukunagas Abgesang.
Doch während es bei Angela Merkel genügte, als Bundeskanzlerin einfach den Dienst zu quittieren, musste man bei Daniel Craig gleich noch James Bond mit liquidieren. Denn mit der fünfundzwanzigsten Produktion der offiziellen James-Bond-Filmreihe ist alles anders geworden. Erfolgreich wurde in den letzten sechs Jahrzehnten bei Ian Flemings Kultagenten immer wieder ein Schauspielerwechsel vollzogen. Alle Neubesetzungen folgten dabei dem jeweiligen Zeitgeist, interpretierten die Rolle eigen und garantierten der Serie dadurch ihren Fortbestand. Sie verkörperten unterschiedliche Fleminge. Kontinuität durch Wandel, der in den Bond-Filmen durch Herausstellung von Gemeinsamkeiten und Bezügen zu vorherigen Filmen erzeugt wurde. Jeder neue Schauspieler konnte so problemlos eingeführt werden und jeder Vorgänger ausscheiden, ohne die Figur des James Bond selbst in Frage zu stellen. Denn so wie der Morgen niemals stirbt, starb auch Bond nie. Ein nicht unwichtiger Punkt bei einem titelgebenden Hauptcharakter.
Was Ernst Stavro Blofeld nie gelang, brachten Barbara Broccoli, ihr Regisseur und deren Autoren beim jüngsten Film treffsicher ins Ziel. Bond wurde durch Raketen ausgelöscht. Erstmals. Zwar flirteten Romane und Verfilmungen ab und an mit seinem Tod. Aber einen so radikalen Schluss gab es nie. Zwar wurde Bonds Nachfolgerin als neue 007 im Film eingeführt und damit jedem nochmals klar gemacht, dass die Lizenz zum Töten als reine Verwaltungsnummer immer wieder neu vergeben werden kann. Egal welcher Körper daran haftet. Doch handelte es sich bei James Bond eben nicht um seinen fiktiven und damit austauschbaren Dienstnamen, sondern um dessen Klaridentität. Im Lauf der Romanserie und der Bondverfilmungen tauchten immer wieder einzelne Fragmente seiner fiktiven Biografie auf. Mitunter widersprüchlich, aber stimmig im echten Herkunftsnamen Bond.
Ab jetzt können zwar wieder beliebig viele Schauspieler oder Schauspielerinnen in die Rolle als 007 schlüpfen, aber es kann eigentlich keinen weiteren James Bond mehr geben. Es sei denn, man möchte wieder einmal mit CASINO ROYALE beginnen. Die Rechte hätte man dazu. Aber um den Sargdeckel auf Flemings Ur-Bond-Geschichte sorgfältig zu schließen, löscht KEINE ZEIT ZU STERBEN auch noch Blofeld und Felix Leiter eiskalt mit aus. Freund und Feind im Tode vereint. Damit droht die 007-Filmreihe zwangsläufig zu einer beliebigen Spy-Movie-Serie zu verkommen, da das Wiederauftreten tragender Charaktere unnötig geworden ist. Die Filmreihe unterzieht sich einer Kernsanierung, bei dem sich der Odem Ian Flemings zunehmend verflüchtigt. Der Bond hat seine Schuldigkeit getan, der Bond kann gehen.
Die Entscheidung, wer Craigs Nachfolge antritt, soll im kommenden Jahr fallen. Da werden Klimakatastrophe und Coronavirus ihre Wiederholungen schalten und neue Krisenproduktionen das internationale Publikum testen. Angela Merkel wird dann Geschichte sein, schließlich hatte sie ihre fünf Bond-Filme. Donald Trump dagegen, dürfte seinen Teil bei den kommenden Zwischenwahlen leisten, um wieder zurückzukommen und als Präsident endlich einen James Bond-Film zu erleben. Dazu muss dieser aber zwangsläufig von den Toten auferstehen und nicht nur als 007. Vielleicht bemüht man einfach den Bobby-Ewing-Effekt. Der lässt bekanntlich Totgeglaubte aus der Dusche heraus einen guten Morgen wünschen. Man sollte aufpassen. Am Ende steht man eines Morgens mit Bobby Ewing unter der Dusche. Und dann ist wieder 1986, das Jahr, in dem Angela Merkel in der DDR promovierte, Donald Trump Botschafter in Moskau werden wollte und Timothy Dalton als neuer James Bond auftauchte. Zum Glück ist 2022.
Bodo V. Hechelhammer kam als Chefhistoriker des Bundesnachrichtendienstes (BND) – mit einem kundigen Faible für die populärkulturellen Spiegelungen der Agenten- und Geheimdienstwelt – mit uns in Kontakt und ist seitdem ein geschätzter Autor. Seine Texte bei CrimeMag hier. „Geheimdienst ist besonders spannend unter kulturhistorischer Sicht“, ein Interview von Alf Mayer mit dem Autor über das Buch Doppelagent Heinz Felfe entdeckt Amerika. Der BND, die CIA und eine geheime Reise im Jahr 1956 hier. Alf Mayers Besprechung von Spion ohne Grenzen. Heinz Felfe – Agent in sieben Geheimdiensten hier.