Geschrieben am 8. Dezember 2018 von für Litmag, News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special DUE

Thomas Wörtche über Derek Raymonds „novels in mourning“

1335002078Derek Raymond – Poe, Kafka und Pulp

von Thomas Wörtche

Der Kosmos von Derek Raymond scheint nicht von dieser Welt, aber er beschreibt sie äußerst präzise. Ein graues Zwischenreich, in dem der Wind den Regen durch die dreckigen Straßen peitscht und die Sonne höchstens befremdliche Effekte zu erzielen vermag. Die Factory-Romane Derek Raymonds sind düstere Visionen aus den verborgensten Winkeln der menschlichen Seele und skalpellscharfe Analysen der Verhältnisse in einem Großbritannien, das einer riesigen Müllhalde ähnlicher ist als dem einst glänzenden Empire. Das Paris von Nightmare in the Street ist ein Maze für Klaustrophobe, ein Tummelplatz von Gewalt und Niedertracht. Raymonds Hauptfigur der Factory-Romane (He Died with his Eyes open, The Devil‘s Home on Leave, How the Dead Live, I Was Dora Suarez), der namenlose Detective-Sergeant und sein französischer Kollege Kleber aus Nightmare in the Street bewegen sich in diesem Kosmos nach eigenen Regeln und Ritualen, sie teilen die Welt lediglich mit dem Abschaum der Menschheit: Polizisten und Verbrecher, miese Ganoven, miese Bullen, korrupte Politiker, widerwärtige Spießer oder wahnsinnige Killer – das bleibt sich gleich. Kleber verliert das Spiel und endet verblutend auf dem nassen Pflaster, ein Utopia des Glücks vor Augen; der Sergeant always gets his man, aber das macht ihn unglücklich. Welch merkwürdig verdrehte Logik!

9781935554578_custom-598e700acc41c9d0d77df178dfe31047f4a7b34c-s1200-c159781935554585Kleber lebt in einem Netz sozialer Beziehungen, die gegen ihn verwendet werden, der Sergeant ist rücksichtslos gegen sich und andere. Seine Abteilung A 14, „Unexplained Deaths“ ist die Müllkippe der Metropolitan Police. Sie erledigt in einem kafkaesken Gebäude, eben der „Fabrik“, die Schmutzarbeit, für die kein Lob und keine Anerkennung zu holen sind. Die Abteilung arbeitet mit äußerst fragwürdigen Methoden, und selbst eine Suspendierung und Entlassung ist kein Grund, den Sergeant nicht wieder zum Schmutzwühlen loszuschicken, wenn der gar zu garstig geworden ist. „Unexplained Deaths“ beschäftigt sich mit totgetrampelten Pennern, abgestochenen Kindern, zerhackten Frauen und gekochten Leichen in Plastiksäcken. Der Sergeant steckt bis über beide Ohren im Dreck, und die Illusion, er könne davon unberührt bleiben, hat er schon gar nicht mehr. In seiner Welt scheint keine freundliche Sonne, in ihr leben die Ratten der Nacht. Er streift durch urinstinkende Abbruchhäuser, durch die schmuddeligen Randbezirke des Thatcherismus, er säuft sich durch klebrige und versiffte Pubs and Bars, schnüffelt durch das Leben schäbiger, gemeiner und gefährlicher Existenzen. Er bringt noch mehr Seelenschrott und Psychomüll zu Tage, als die Beteiligten vertragen können.

97818524279629781852427993Der Sergeant ist einsam und sehr unglücklich.
Er weiß, so sagt er, was das Böse ist. Sein intimer Wegbegleiter, der auf seiner Schulter sitzt und alles in Destruktion und Verzweiflung verwandelt, was er anfasst. Das Tragische an der Hilfe, so heißt es einmal, ist, daß sie immer zu spät kommt. Es gibt kaum Höllenvisionen, die derart unversöhnlich sind wie die Hölle Greater London, und der die Axt schwingende Wahnsinnige tut dies doch nur, um von dem noch schlimmeren Orkus seiner Seele abzulenken. Derek Raymonds Bücher haben einen derartigen Grad von Schwärze erreicht, gegen den die wahrlich nicht heiteren David Goodis oder Jim Thompson wirken wie lächelnde Idylliker.
Alles ist nur noch als Zerfall denkbar: Die Sprache Raymonds ist ein Schwall von Obszönitäten, seine Dialoge gebrüllte und böse geflüsterte Beleidigungen und Flüche, beunruhigende Rituale, schweinische Angstschreie. Von Roman zu Roman wühlt sich die Factory-Serie tiefer in die nachtschwarzen Seiten menschlicher Existenz. Sie handelt von Menschen, die in grässliche Labyrinthe eingesperrt sind, aus denen es kein Entkommen gibt. Der einzige Fluchtweg ist für sie der Tod, und selbst der verspricht nicht immer Erlösung. Sie alle sind Täter und Opfer in einem, sie tappen hilflos durch die Korridore ihrer privaten Höllen und richten Höllen an für andere. Der Sergeant verfolgt sie bis in den letzten Winkel, selbst in Gegenden, von denen es euphemistisch heißt, sie gehörten ins „Krafft-Ebing- Country“. Er läßt sich buchstäblich auf sie ein und lastet auf ihnen wie ein Alpdruck.

Ein ähnlicher Alpdruck, wie für ihn seine eigene Biographie ist, die wir stückweise über die vier Bände verteilt, erfahren.
Die formalen Wege der üblichen Polizeiarbeit gelten für ihn nicht. Sie können Probleme nur formal und bürokratisch lösen. Der Sergeant aber will mehr, er will, bis zur bitteren Konsequenz und im schrecklichsten Sinne, die nackte Wahrheit und er will, alttestamentarisch, Gerechtigkeit.
Die Bücher Derek Raymonds verhalten sich dergestalt äußerst prekär zur gängigen Kriminalliteratur. Die „Aufklärung“ eines Falles, Gattungskonvention für Kriminalromane und manchmal nur spielerisches Korsett, ist bei Raymond in einem durchaus existenziellen Sinn radikalisiert.

51vrcLUPiaLich_war_dora_suarez-9783929010701_xxlFast sur-real, jedoch erschreckend logisch

Derek Raymond nimmt die literarische Konvention blutig ernst. Jeder spielerische und gebrochene Verweis auf den literarischen Status von „Aufklärung“ (in diesem Sinn) ist bei ihm restlos getilgt. Der namenlose Sergeant ist ein Fanatiker der Wahrheit, kein Sympathieträger, kein neutraler Cicerone durch das Reich des Bösen; eher in seinem Eifer ein Torquemada, ein Savonarola für die Wahrheit, der mit bösem, schlagfertigem und gemeinem Witz zu operieren versteht. Auf seinem Kreuzzug legt er mit blutigen Werkzeugen Schicht um Schicht frei: der Seelen, der Menschen, der Gesellschaft und letztlich seiner selbst. Unter jeder Schicht, die er seinen Objekten der Begierde nach Wahrheit, also auch sich selbst, unter Schmerzen abhäutet, kommt eine neue, unappetitlichere und hoffnungslosere zum Vorschein, bis zum bösen Ende schließlich gar nichts mehr übrigbleibt, bis auf das, was er „das Böse“ nennt. Das nackte Grauen, das aber nicht wie die billigen und albernen Schockeffekte gängiger Psychopathenschmöker das „Böse“ im metaphysischen (bzw. geisterbahnhaften) Sinne heißen darf. Denn als letzter Grund lauern die Verheerungen einer wildgewordenen Zivilisation, deren essentielle Frage die nach dem Preis ist, und sei’s für ein Menschenleben: Gier, das was Menschen Menschen antun, um noch aus dem Widerwärtigsten einen schmierigen Gewinn zu ziehen. In dem vorerst letzten Band der Factory-Serie I was Dora Suarez treibt Raymond die Darstellung menschlicher Abscheulichkeiten und Perversionen auf eine schier unerträgliche Spitze. Die Perversionen, die in Dora Suarez als Ausweis grässlichster Unmenschlichkeit geschildert werden, sind in ihrer Ungeheuerlichkeit fast sur-real. Jedoch erschreckend logisch und in ihrer tableauartigen Stilisierung keine Sekunde undenkbar.
Dahinter steckt ein Weltbild, das sich in einfachen Kategorien nicht beschreiben lässt. Wiewohl es doch plausibel, verständlich und sogar, schockierend, akzeptabel erscheint.
31jP7IqB2ZL._SL500_BO1,204,203,200_51AV1gaGI3L._SX298_BO1,204,203,200_Derek Raymonds zeitweise visionärer Stil ist weder das Produkt eiskalten Designs (wie der von James Ellroy), noch entsteht er durch wild aufs Papier geschleuderte Sätze aus dem Unterbewusstsein. Man könnte ihn am besten zu erfassen suchen als in Literatur umgesetzte Lebenserfahrung.
Für Naivität besteht kein Anlaß: bei einem derart ambitionierten und bitterernsten Programm liegt der Schritt in die aufgeblasene Lächerlichkeit gefährlich nahe. Die Manie Raymonds, immer wieder die gleichen Situationen neu durchzuspielen, sein intensives Treten auf der Stelle, sein ständiges Kreisen um „sein“ Thema, bedeutet auch eine Gratwanderung entlang den Gefilden des „schwarzen Kitsches“. Ihn rettet die Autorität seiner Literarizität, und mehr noch, die Authentizität der Erfahrungen, seien sie nun realer oder psychischer Art, die er umzusetzen weiß. Normalerweise halte ich nichts davon, grundsätzlich die Authentizität von Erfahrungen zum Kriterium von gelungener Literatur zu machen, denn die schönsten und schlimmsten Erfahrungen schützen nicht vor schlechter Prosa. Dass aber für Raymond Schreiben mehr ist als das bequeme Abzocken von Geld,  geht aus jeder Zeile hervor und hebt ihn auf eine Ebene, wo gängige Kategorien hilflos werden. Raymond, bei aller autobiographischen Basis, die seine Bücher notwendigerweise haben, ist eben nicht nur ein „Selbstentblößer“ (Heißenbüttel), sondern ein äußerst bewußter Schriftsteller. Dennoch: eine existenzielle Komponente hat seine Literatur ohne jede Frage. Die diesbezügliche Maxime hat er, wie so vieles andere Autobiographische auch, den abgebrannten Schreiber Staniland formulieren lassen: „Jeder, der glaubt, dass das Schreiben ein angenehmer Bummel auf einen Lebensstil der Mittelklasse hin ist, wird nichts anderes als Scheiße schreiben.“

Bei Huren und Spielern – und Zola, Satre, Orwell, Shakespeare & Co.

Nach seinen eigenen Worten war Derek Raymond seit dem Alter von elf Jahren davon überzeugt, schreiben zu müssen. Die Voraussetzungen für eine typische literarische Laufbahn waren gegeben. Derek Raymond, als Robert William Arthur Cook 1931 in London geboren, stammt aus einer reichen Familie von Textil-Magnaten. Folgerichtig kam er 1944 nach Eton, und fand mit 16 Jahren, dass es dort nichts von wirklichem Interesse für ihn zu lernen gab. Anstatt nun den nächsten Schritt zu tun, der einem anständigen Upper-Middle-Class-Briten zukommt, und seinen Platz in Oxford anzutreten, verschwand er und trieb sich in London bei Huren und Spielern herum. Er habe, so Raymond, immer sehr viel mit der Polizei zu tun gehabt, auf der anderen Seite, versteht sich. Nach zwei Jahren beim Militär (eine Erfahrung, die neben den Erinnerungen an die Londoner Bombennächte eminent prägend für ihn war; seine Texte sind von nachgerade kryptischen Anspielungen auf diese beiden Komplexe durchsetzt) begann er sein Trampleben durch diese Welt. Vier Jahre im franquistischen Spanien, Journalist für den Londoner Standard, in dieser Funktion 1961 Berichterstatter aus dem Krieg in Algerien, sechs Jahre als Wein- und Ölbauer in Italien, ein Jahr in den USA als Kellner und Herausgeber einer spanischsprachigen Zeitschrift, zwei Jahre Paris, eineinhalb Jahre in Tanger, wieder zwei Jahre in London als Taxifahrer für eine Gesellschaft namens Globe (siehe auch He Died with his Eyes Open), zwei Monate auf Einladung der Regierung in Rußland und schließlich die ruhigen Jahre „in the middle of nowhere“, irgendwo im Massif Central. Diese Biographie, die ihre Linien und Falten in Raymonds Gesicht eingegraben hat, erklärt schon einiges mehr. Sie erklärt, daß ihn das Schreiben vor dem Absturz bewahrt hat, vor dem Scheitern seiner Existenz. Sie erklärt nicht, warum Raymond kein autodidaktischer Schreiber ist, dem das Verfassen von Literatur lediglich zur Selbsttherapie dient.
Denn unterhält man sich mit ihm über seine literarischen und geistigen Einflüsse, bleibt von der Vorstellung eines literarischen Hobos nicht viel übrig. Als seine großen Meister nennt Raymond Emile Zola, Jean Paul Sartre, Evelyn Waugh, George Orwell, Charles Dickens, Cesare Pavese und Nathaniel West, dazu Shakespeare und T.S. Eliot.

91KyIW81hbL9781935554608Traumhaft sicheres Gespür für lebendige Sprache

Nun wäre es höchst überflüssig, Raymonds Romane zu durchforsten, um konkrete Spuren der aufgezählten erlauchten Geister auszugraben. Daß er von seinen Vorbildern gelernt hat (sie aber nicht nachgeahmt hat), wird klar erkennbar, zum Beispiel an seinen Dialogen, die, obwohl von Obszönität und Gewalttätigkeit strotzend, trotzdem und deswegen gute Dialoge sind, mit einem wunderbaren und traumhaft sicheren Gespür für lebendige Sprache konstruiert und geschrieben, eine Eigenschaft, die Raymond so sehr an Evelyn Waugh oder T.S. Eliot’s The Waste Land schätzt.
Genauso wird man mühelos Splitter von der verzweifelt komischen Weltsicht Nathaniel Wests oder dem gnadenlosen Determinationsdenken Zolas finden, und das Programm, Stimme sein zu wollen für die Schutzlosen, die Mühseligen und Beladenen, darf man ruhig mit Orwell in Verbindung bringen. Aber das Entscheidende ist der labyrinthische und ausweglose Entwurf einer Hölle auf Erden und deren Umsetzung in eine ganz eigene Prosa, die keine écriture automatique und keine drogengetränkten Halluzinationen eines William S. Burroughs braucht. Die schwarzen Romane Derek Raymonds haben eine ganz andere gedankliche und literarische Herkunft und Nachbarschaft: zu Edgar Allan Poe und Franz Kafka. Kaum etwas jedoch wäre idiotischer als in Raymond einen Epigonen von Poe und Kafka sehen zu wollen. In seinem singulären Fall kann es unter keinen Umständen darum gehen, irgendeinen x-beliebigen „schwarzen“ Engländer mit „bildungsbürgerlichem“ Flächenfeuer zu falscher Dignität hochzujubeln, ihn über Poe und Kafka „marketingmäßig“ retten zu müssen, wie ein ungestümer Kritiker wirrköpfig vermutete. Was Raymond mit Poe und Kafka teilt, ist der Entwurf einer Welt von Unglücklichen, ihre beklemmende und gleichzeitig glasklar präzise Literarisierung.

nightmare 1852429089Durch geschlossene Türen und Wände

Was sich an der Factory-Serie, sozusagen als letzte Konvention, noch als Kriminalliteratur beschreiben ließe, freilich als eine, deren Düsternis kaum noch verdunkelbar erscheint, hat Raymond mit Nightmare in the Street aufgekündigt. „Black Novel“ ist in diesem Zusammenhang und bei diesem Buch der einzige Begriff, der für diesen verstörenden Text als „Klassifikation“ noch in Frage kommt. Natürlich sind ein paar Splitter und Elemente des Kriminalromans übriggeblieben, aber sie sind nur der alleroberflächlichste Rahmen des Buches: Polizist, wegen Brutalität vom Dienst suspendiert, arbeitet für Unterwelt-Freund, seine Frau wird bei den folgenden Auseinandersetzungen getötet, der abtrünnige Bulle macht sich auf die Suche nach den Mördern und überlebt den Rachefeldzug nicht. Aber man sieht schon: so referiert klingt die Handlung schal und banal.
Stellen Sie sich jedoch vor, Poe, Kafka und ein unbekannter Pulp-Writer hätten nach einer schlimmen Nacht, in einem schmutzigen Morgengrauen, beschlossen, eine wirklich deprimierende Geschichte zu schreiben. Herausgekommen wäre etwas, das nicht allzu weit weg von Nightmare in the Street gelegen hätte.
Die tote Elenya, die ihrem Kleber erscheint, durch geschlossene Türen und Wände geht, selbst als Tote und Verstümmelte in körperlicher Makellosigkeit das Lager mit ihm teilt, aber doch wirklich nie ganz „da“ ist,  ist eine nahe Verwandte der Ligeia, Eleonora, Berenice, Morella oder wie die Poe’schen Frauen alle heißen, die das Schattenreich der lebenden Toten oder der toten Lebenden bevölkern, einen leisen Duft von Verwesung ausströmend. Franz Kafka hätte eine klaustrophobe Situation beigesteuert, die engen Räume, in denen Kleber sich bewegt; von einer Bar in die andere, die sich alle gleichen, wie der eine Keeper dem anderen. Den Boulevard Sebastopol rauf und runter, ins Hotel, aus dem Hotel. Minimalisiert sind auch die ewig und marternd sich wiederholenden Gespräche, mit der lebenden Elenya, mit der toten Elenya, mit Mark, dem Freund, mit den Halsabschneidern und kleinen Strolchen an schmierigen Tresen, mit indolenten Barmännern und abgetakelten Huren, mit korrupten Bullen und herzlosen Bürgern (eine Technik, die Raymond auch in I was Dora Suarez benutzt und wem angesichts der abwegigen Selbstbestrafungsmaschine des durchgeknallten Tony Spavento nicht Kafkas In der Strafkolonie einfällt, dem kann ich nicht helfen).
Der Pulp-Schreiber hätte die Dialoge geliefert. Drohungen und Flüche, Hilfeschreie, rätselhafte Überlegungen, verbale Kraftprotzerei, „wise cracks“. Er hätte die Gewalt hereingebracht, die latente und offene Brutalität.

51850wc6dNL._SX298_BO1,204,203,200_Protokoll eines allmählichen Überschnappens

Und so wäre eine technisch meisterhafte Synthese entstanden, kühl und aseptisch. Aber Raymond nutzt diesen Rahmen und artikuliert überall seine Obsessionen, seine Ängste, Verzweiflungen und Utopien – aus einem deprimierenden Buch wird plötzlich ein erschreckendes. Man hat es plötzlich nicht mehr mit einem harmlos und beruhigend zu goutierenden Stück Unterhaltung zu tun, sondern steht, manchmal erschrocken und ratlos vor einer offengelegten Seele. Nightmare in the Street ist zwar vieles: eine beißende und schmerzhafte Summa eines Lebens, autobiographische Selbstzerfleischung, das Hohelied auf Lebenseinstellungen, die eine moderne Sozialtechnologie für erledigt hielt. Ein grotesker Roman von grandiose Lächerlichkeit (es gibt darin eine Szene von krasser Drastik und eben grotesker Lächerlichkeit, die gleichzeitig erschütternd zu lesen ist: wenn der nackte Kleber die bluttriefenden Fetzen seiner hochgesprengten Elenya aus dem Rosenbeet einsammelt) ein schwerer Blues in the Night, ein unbequemer Alpdruck und ein Roman, der quälend zu lesen ist. Vor allem aber ist Nightmare in the Street ein Protokoll des allmählichen Wahnsinns. Die Grenzen verwischen sich, die Grenzen dessen, was sich in Klebers Kopf und in der Realität abspielt. Der Wahnsinn, dem Kleber verfällt, ist ein Resultat von Leid und Schmerz, er ist kein klinisch sauber zu rubrizierender Wahnsinn, dessen Symptome sich jeder Hohlkopf aus einem psychiatrischen Lehrbuch abschreiben kann. nightmare 1852429089Nightmare in the Street ist das Protokoll eines allmählichen Überschnappens, das diesen Prozeß als die einzig humane Möglichkeit des würdevollen Überlebens definiert. Kleber endet in zwei Hälften geschossen. Seine Gosseninstinkte haben versagt, todessuchend läuft er dem Killer vor die Flinte. Seine letzten Eindrücke sind eine Vision von Elenya, gewonnen hat das Verbrechen, das Kleber so unbarmherzig verfolgt hat.
Und doch ist der Schlusssatz („Und die Liebe war überall, zuletzt.“) eine Utopie – tröstlich und gleichzeitig, angesichts des entzwei geschossenen Klebers, unendlich hämisch, fast teuflisch böse. Die existenzielle Ausweglosigkeit, die Raymonds Bücher durchweg konstruieren, die er selbst „old fashioned“ nennt, weil man noch keine Antwort darauf gefunden habe, „warum“ das alles so sein müsse, hat auch ihn zu der Behauptung bewogen, was die Weiterentwicklung und die Funktion „Black Novel“ sein könnte: Eine „novel in mourning“ zu sein, eine Form der Trauer. Trauer über die miesen Alternativen, an denen auch Kleber scheitert, an denen der Sergeant zum Mörder wird. Trauer über die Schicksale von Menschen, die niemand der Betrachtung für wert erachtet, Trauer über eine Gesellschaft, deren eigene bösen Seiten sie für normal hält, Trauer über weggeworfenes Leben und wütende Trauer über die überlebenden Verursacher der ganzen Scheiße. Der Punkt also, wo die Trauer in I was Dora Suarez umkippt in hemmungslose, eiskalte und gefährliche Wut.
Mit dieser Volte schließt Raymond wieder an das Pulp-Element an. Allerdings kein beliebiger Pulp

Derek-Raymond-Roter-NebelDerek-Raymond+Ich-war-Dora-Suarez-Factory-04In der britischen „schwarzen“ Tradition 

Das sogenannte Mutterland des Krimis, England, nistet in unseren Köpfen immer noch als das Land des Häkelkrimis, der Landhäuser mit den mörderischen Großneffen und den vergifteten Rosendornen. Diese historisch wichtige Spielart besetzt allmählich den Begriff „britisch“ hierzulande derart hartnäckig und zählebig, dass man eine andere britische Tradition gar nicht mehr sehen will. Wer Dickens richtig gelesen hat, käme nie auf die Idee, in ihm einfach einen behäbig-gemütlichen viktorianischen Erzähler zu sehen, und ähnlich steht es mit dem Kriminalroman. Zwar knallen uns die „Anforderungen des Marktes“ und immer neue Varianten des „Mörders von Dartmoor“ um die Ohren, aber es gab und gibt immer noch Namen wie Donald Carter (= Wilbur Wright), Jack S. Scott, G.F. Newman, Dan Kavanagh und vor allem Ted Lewis. Bei denen ist England keine ländliche Idylle mit spinnerten Ladys und dämlichen Pfarrern. Bei denen ist England schon lange so, wie es laut Clockwork Orange erst in der Zukunft sein sollte oder wie es Julian Rathbone mit unendlicher Süffisanz in Nasty, very notwendigerweise im Thatcherism enden ließ. Es ist großstädtisch, ein hartes working-class-Pflaster, die Countryside ist kein bisschen reizend verschroben, eher dumpf und engstirnig. Über dem ganzen England lastet eine ungeheure latente und offene Gewalttätigkeit, die vielleicht am beklemmensten in Ted Lewis Carter‘s Return die Atmosphäre beherrscht. All dies findet seinen Widerhall in der britischen „schwarzen“ Tradition – Derek Raymond, der aus seinen Londoner Jahren Ted Lewis aus ihrer gemeinsamen Stammkneipe kannte, bezweifelt zum Beispiel, dass in Get Carter auch nur ein Detail hinzugedichtet sei. Natürlich erkennt Raymond die Vorreiter-Stellung von Ted Lewis auf diesem Gebiet vorbehaltlos an. Im Gegensatz zur deutschen Rezeption etwa, die sich manchmal wie kichernde Jungfern aufführt: für sie existiert dieser Zweig gar nicht. Aber diese Tradition ist auch die „schmutzige“ Tradition von Derek Raymond.

5126934947_9795561135_zJedem Angebot zur Versöhnlichkeit verweigernd

„Mein Sergeant“, erklärt Derek Raymond auf die Frage, warum er die Form der Black Novel benutze, „ist der Schlüssel, der die Gesellschaft öffnet. Er funktioniert wie ein Büchsenöffner für eine Dose mit Sardinen. Wenn die Dose auf ist, ist der Inhalt garantiert immer verwest und stinkt.“ Diese literarische Großstruktur, die sich deckt mit dem Theorem des amerikanischen P.I.-Romans („Der P.I. ist der Maulwurf durch die verschiedenen Schichten der Gesellschaft“ – Arthur Lyons) hat ja nicht umsonst probate Mittel entwickelt, mit den Schattenseiten moderner Gesellschaften umzugehen. Deswegen bekennen sich Raymonds Bücher, und wenn sie auch noch so sehr von Poe und Kafka (auch die hatten probate Mittel entwickelt, um mit Phänomenen der Moderne umzugehen) kommen mögen, offensiv auch zur Gosse. Sie tun dies in verletzender und schonungsloser Offenheit. Raymond-Bücher rütteln wie rasend an den Fundamenten und Wertesystemen bürgerlicher Gesellschaften, vehement, eloquent, radikal, unfein, wütend, gewalttätig und rigoros.
Die düsteren Visionen, die monströsen Obsessionen, die luftabschnürenden Erinnerungen und die quälenden Reflexionen, all das, was Kleber und den Sergeant wie viele der Figuren Raymonds in ihren schweißnassen Nachtmahren quält und sie schreiend aus dem Schlaf auffahren lässt (nicht die Karrierepolizisten, die haben keine Träume, sondern Pensionsansprüche), sind böse und unversöhnlich Attacken wider literarische Moden, wider zeitgeistige Glätte. Raymond argumentiert historisch und a-historisch, subjektiv und inter-subjektiv, sozial und asozial, auf Konventionen pfeifend, keinen Kompromiss akzeptierend. Kleber und der Sergeant verhalten sich, in jedem schlicht rationalistischen Vernunftbegriff gemessen, irrational und unartig. Von keinem „vernünftigen“ Wort zu überzeugen, zeigen sie gerne die Interessenhaftigkeit dieser Art von Vernunft. Freilich hat der grobe Verstoß gegen den gesellschaftlichen Konsens seinen Preis: Kleber zahlt mit seinem Leben, der Sergeant mit dem letzten Funken Integrität, die er noch hat: er wird zum Mörder. Raymonds Helden sind anachronistisch und unpassend, als Figuren und als literarische Konstrukte. Sie legen sich quer und verweigern sich jedem Angebot zur Versöhnlichkeit.

raymond_dateien-189x300Man soll die These von der Black Novel als Literatur „von unten“ sicher nicht überstrapazieren, zumal man bei Derek Raymond in aparte Widersprüche geraten würde, denn sicherlich ist seine literarische und soziale Herkunft gerade keine von unten, und auch seine Bücher sind nicht irgendwie proletarisch als Programm – was verlogen wäre. Dennoch ist ihr Gestus einer von „unten“. Sie eröffnen Perspektiven auf das Leben, nicht wie es „wirklich“ ist, sondern wie es in vielen Fällen „auch“ ist.
Raymond thematisiert die Nachtseiten menschlicher Existenz, und er tut dies in höchstem Maße parteiisch. Aber nicht anklagend und weinerlich. Sein Gestus ist eher der der Verweigerung, des Bestehens auf dem „egal-was-ihr-erzählt-so-ist-es-nicht“. Er verweigert die beruhigende Einsicht in die Segnungen des Sozialstaates, er verweigert die Akzeptanz der beschwichtigenden Formeln der Sozialtechnologen, dass alles nur ein strukturelles Problem sei, und er verweigert sich auch dem „postmodernen“ Konsens, dass Fiktion und Wirklichkeit in eins übergingen. Die Macht der Fiktionen und ihr Glücksversprechen zeigt das Beispiel Kleber. Tragisch bloß, dass Kleber am Ende tot ist.
Mit sauber geschrubbten Konzepten von „easy-reading“ haben die Romane Raymonds nichts, aber auch gar nicht zu tun; auch nicht mit den Konventionen des seriellen Kriminalromans. Seine Bücher sind ohne Zweifel literarisch und stilisiert, aber nicht nach den Mustern und Vorschriften, von denen man glauben mag, es gäbe sie verbindlich für jede Art von Literatur. Sie sind unbequem, unbehaglich und hochgradig verstörend.

Thomas Wörtche

9780356206547-us

 

Editorische Anmerkungen: Dieser Text stammt aus den Jahren 1989 oder 1990, genau kann ich das nicht mehr rekonstruieren, genauso, wie ich nicht mehr weiß, ob „I was Dora Suarez“ damals schon als Buch erschienen war oder ob ich mich auf das Manuskript bezogen habe. Erschienen ist er im „Jahrbuch der Kriminalliteratur 1990“, die aktuelle Fassung hier ist nur sehr milde redigiert.

1993, ein Jahr vor seinem Tod, erschien Derek Raymonds autopoetologisch-biograpisches Buch „The Hidden Files“, in dem er viele der hier angesprochenen Themen ausfaltet (eben auch die novel in mourning) und biographische Details schriftlich fixiert, die ich nur in ihrer mündlichen Fassung kannte. Ich habe den Text dennoch nicht „aktualisiert“. Meine Informationen gründeten damals auf vielen Gesprächen in langen Nächten, die ich mit Derek Raymond in Paris, London, Madrid und Berlin geführt habe oder bei Treffen auf Festivals (Gijón, Grenoble, etc.). Vieles ist im Nebel der Erinnerung verschwommen. Unsere umfangreiche Korrespondenz bis zu seinem Tod ist, leider, da vornehmlich per Fax, und deswegen buchstäblich verblasst, verloren gegangen. Teile davon sind allerdings in die „Hidden Files“ eingegangen. Ein Teil meines Materials/meiner Erinnerungen wird auch in Nele Hoffmanns Studie „A Taste for Crime“ einer neuen Einschätzung unterzogen.

Ganz herzlichen Dank an Vera Mayer für die typographische Rekonstruktion dieses Textes.

Derek Raymond bei Pulpmaster hier.

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