Geschrieben am 15. Juni 2016 von für Crimemag, Film/Fernsehen

Netflix-Serie: Marseille

Die Marseille-Connection – Netflix jetzt auch mit französischer Serie

Muss fortan jede politische TV-Serie aussehen wie „House of Cards“? Netflix zeigt mit „Marseille“ gleich selber, wie es auch anders geht. Gérard Depardieu und Benoît Magimel spielen die Hauptrollen. Claudia Schwartz, Redakteurin im Feuilleton der NZZ, hat sich die Serie angesehen.

Es ist unschön für eine Filmnation, wenn sie die Revolution des Fernsehens verschläft, während die Amerikaner und die Skandinavier diese mit stilbildenden TV-Serien vorantreiben. Noch schmerzlicher aber wird es, wenn ein amerikanischer Produzent den Europäern im eigenen Land mit einer einheimischen Serie vorführt, wie man es machen könnte. Das erlebt in diesen Tagen mit „Marseille“ ausgerechnet Frankreich, vom Selbstverständnis her die Filmnation par excellence. Mit dem Achtteiler bekräftigt der Streaming-Dienst Netflix, dass man (nach transatlantischen Koproduktionen) nun mit Serien europäischen Zuschnitts auch auf dem alten Kontinent Fuß zu fassen gedenkt.

Marseille_hafen„Marseille“ schaut man gerne, weil die Serie alles bietet, was es zur guten Unterhaltung braucht: ein beachtliches schauspielerisches Ensemble, eine Erzählung über Macht, Politik, Intrigen und Liebe. Das alles wird ausgebreitet an einem – bildschönen – mediterranen Schauplatz, der im Lokalen die sozialen Themen reflektiert, welche europäische Städte in Zukunft zunehmend beschäftigen dürften. Kurzum: Das Ganze ist unvergleichlich viel besser als das, was Frankreich bisher in diesem Bereich produziert hat.

So beanspruchten die Amerikaner neben dem gewohnheitsmäßig stolzen Auftritt in Cannes in diesem französischen Film-Wonnemonat im Mai 2016 nun also die Show auch am Flachbildschirm für sich. Die französische Kritik reagierte im Vorfeld prompt düpiert: „Marseille“, so der bisherige Tenor, sei nicht mit Netflix‘ bisher größtem Coup, „House of Cards“, vergleichbar. Ja, und? Hat nun der Hype das letzte Wort? Müssen in der schönen neuen Serienwelt fortan immer gleich die erzählerischen Extreme ausgelotet werden, wie „House of Cards“ oder „Game of Thrones“ es vorführen? Und welcher Aufschrei wäre durch unser westliches Nachbarland gegangen, wenn „Marseille“ einen französischen Politiker nach dem betont zynischen Vorbild von Frank Underwood hervorgebracht hätte, der eine junge Journalistin, wenn sie ihm für Intrigen und mehr ausgedient hat, mal kurz vor die Metro schubst?

Ein Mann von politischem Ethos

Unser Bürgermeister von „Marseille“ zieht sich allenfalls ein bisschen Koks rein, wenn ihm Korruption und Mafia ungemütlich nahe rücken und ihn die Sorge um seine Stadt allzu sehr plagt. Dieser Robert Taro glaubte, das absehbare Ende seiner politischen Karriere mit einem von ihm herangezogenen Nachfolger selber gut vorbereitet zu haben. Nun muss er erkennen, dass er getäuscht wurde. Was folgt, ist ein Machtkampf zwischen zwei politischen Temperamenten – auch: zwischen zwei Generationen und ihrer unterschiedlichen politischen Moral.

Gérard Depardieu verkörpert Taro, der Politik noch als ehrliches Geschäft versteht. Ein Mann von politischem Ethos, für den es sicher in der Geschichte Marseilles auch ein reales Vorbild gibt. Was aber letztlich keine Rolle spielt, weil sich Frankreichs großer Schauspieler bedächtig und massiv ins Bild schiebt.

Depardieu befreit diese Serie im Nu von jedem Zweifel, ihre französische Handschrift vom Drehbuch (Dan Franck) über die Filmmusik (Alexandre Desplat) bis zur Besetzung sei nur Camouflage für einen unfreundlichen kulturellen Takeover. Aber selbstverständlich ist es ein Coup von Netflix, auf just diesem heiklen Terrain Depardieu, dem noch lebenden Urtier des französischen Films, Freilauf zu geben. Der (nicht mehr ganz so unumstrittene) Star baut denn in einer Mischung aus übergreifender Symbolkraft und persönlicher Nonchalance am eigenen Denkmal weiter.

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Darüber hinaus bietet „Marseille“ ein differenzierteres Bild der europäischen Hafenstadt, deren Image in vergangenen Dekaden oft auf das unvergleichliche soziale Gefälle verpflichtet worden ist: Bei diesem ethnischen und konfessionellen Melting Pot wäre es naheliegend gewesen, ins Bashing dieser Stadt mit ihrer gesellschaftlichen Fehlentwicklung einzustimmen. Die Serie meidet aber eher den engen Fokus auf die Verderbtheit organisierter Kriminalität, wie sie die italienische Mafia-Serie „Gomorrha“ in ihrer Unmittelbarkeit zeichnet. Was nicht heißen soll, dass hier Probleme in Harmlosigkeit überblendet werden.

Unbefriedigend bleibt allerdings der formale Anspruch. Unter der Regie von Florent-Emilio Siri fügen sich die Szenen dramaturgisch nur holprig zum großen Ganzen zusammen. Der Regisseur drehte in den Achtzigern in Marseille Videoclips, drehte mit Bruce Willis in Hollywood („Hostage“) und lässt Autos als Zeichen für soziale Unruhe in der Totale in Flammen aufgehen. Visuelles Storytelling auf der Höhe unserer Zeit sieht anders aus. Eine Serie über viele Episoden kompositorisch zusammenzuhalten, ist eine inszenatorische Tour de Force; Siri mag ein solider Regisseur sein, als Show-Runner ist er hier offensichtlich überfordert.

Dass die Ästhetik von „Marseille“ zusehends zum Vehikel der Geschichte verkommt, ist umso bedauerlicher, als die Serie den Schauplatz am Mittelmeer gerade wegrückt vom allgemeinen Symbolfeld und näher hin zum gegenwärtigen konkreten Problemraum. Das hält den Drehbuchautor Dan Franck nicht davon ab, eine eher leichte Tonalität vorzugeben: Seine Vorlage entwirft das Sittengemälde einer europäischen Stadt unserer Zeit und fragt gleichzeitig nach deren Zukunft. Inmitten von all dem agiert Depardieu: Sein Robert Taro steht für die Hoffnung, dass Politik zum moralischen Handeln fähig ist. Dieser Bürgermeister ist sich bewusst, wie sehr eine Gesellschaft und ihre politische Kultur zusammenhängen.

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Mehr schuldbeladen als skrupellos

In den Fragen nach Städtebau und Stadtentwicklung, die hier als politisches Alltagsgeschäft verhandelt werden, entwickelt „Marseille“ eine realistische Qualität, die sichtbar macht, wie ernsthaft Netflix seinen amerikanischen Griff nach dem filmischen Kerngeschäft in Europa angeht. Ausgerechnet Frankreich, das einzige europäische Land mit einer nennenswerten Filmindustrie, bekommt nun vorgezeichnet, wie man dem breiten Publikum einen brisanten Stoff schmackhaft machen kann – anhand von zutiefst menschlichen Charakteren mit zutiefst menschlichen Schwächen.

In Lucas Barrès stellt sich Taro ein mit allen Wassern gewaschener Gegenspieler in den Weg. Benoît Magimel spielt eindringlich diesen Aufsteiger, der Gut und Böse nicht so genau unterscheidet. Mit machiavellistischer Verve benutzt er alle ausnahmslos, um seinen persönlichen Rachefeldzug zu verwirklichen. Sein fehlendes moralisches Bewusstsein erweist sich als Folge von Entbehrungen: Barrès wuchs als ein Kind dieser Stadt in einem vom Lebensglück weniger bedachten nördlichen Problembezirk auf. „Marseille“ erzählt davon, was passiert, wenn unsere Städte sozial auseinanderdriften.

Vor allem aber mit der zentralen Figur des Robert Taro, der aufrichtig der Sache dienen will, bewegt sich „Marseille“ eher in den realpolitischen Sphären von «Borgen», als dass es sich mit dem zynisch-überzeichneten Machtpoker der Underwoods gemeinmacht. „Marseille“ setzt nicht auf jene These von der permissiven Gesellschaft, in der das Böse in soziopathischer Anverwandlung längst ein Zeichen für Normalität geworden ist. Die Modernität der Erzählung konkretisiert sich im Ringen um Entscheidungen. „Marseille“ hält keinen politischen Relativismus hoch. Die Politik ist hier mehr eine Welt für Schuldbeladene denn für Skrupellose.

Claudia Schwartz

Mit freundlicher Erlaubnis des Verlags der „Neuen Zürcher Zeitung“.

„Marseille“, alle acht Episoden à 60 Minuten seit 5. Mai 2016 bei Netflix.

Claudia Schwartz trat 1994 trat in die Feuilletonredaktion der NZZ ein, war zehn Jahre deren Kulturkorrespondentin in Berlin und ist bei der NZZ als Autorin federführend für Fernsehkritik. Ihre NZZ-Artikel hier. Ihre Präsenz auf Twitter hier.

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