Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

non fiction, kurz – Sachbücher, Oktober 2024

Sachliteratur, besprochen von Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW):

Mara Delius, Marc Reichwein (Hg.): 111 Action-Szenen der Weltliteratur
Draussenseiter. Das Kölner Strassenmagazin, Sept. 2024: Feindliche Architektur
Helen Fry: Women in Intelligence. The Hidden History of Two World Wars
Andrew Mckevitt: Gun Country: Gun Capitalism, Culture, and Control in Cold War America
David Yamane: Gun Curious: A Liberal Professor’s Surprising Journey Inside America’s Gun Culture

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„Feindliche Architektur“

(TW) Der Draussenseiter. Das Kölner Strassenmagazin unter der Chefreaktion der sehr geschätzten Kollegin und Freundin Christina Bacher, kümmert sich traditioneller- und notwendigerweise und im Klartext um die „unbequemen“ Themen unsere Gesellschaft.  Um Dinge und Verhältnisse, die wir saturierten Mittelschichtler als Statistiken zwar mehr oder weniger empört, und oft genug auch marginal zur Kenntnis nehmen – also Dinge und Verhältnisse von den wir lieber nichts Genaueres wissen wollen -: also Armut, Wohnungslosigkeit, Leben auf der Straße und alle angeschlossenen Probleme wie Krankheit, Sucht, Verwahrlosung usw. Und gleichzeitig betont der „Draussenseiter“, dass selbst in den prekärsten Umständen utopische Moment oder zumindest utopischer Vorschein möglich ist. Das nur mal grundsätzlich und vorneweg, auch als Aufruf, dem „Draussenseiter“ seine ihm gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Ausgabe 255 vom September 2024 thematisiert eine brachiale Technik im Kampf um den öffentlichen Raum – die „feindliche Architektur“, von manchen euphemistisch-verlogen „defensive architecture“ genannt. Dazu gehören, neben unzugänglichen Glas- und Betonfronten, vornehmlich bauliche Maßnahmen, die den Aufenthalt im öffentlichen Raum ohne Konsumverpflichtung extrem erschweren. Sitzbänke aus kaltem Stein oder Metall, oft mit fiesen Ausstülpungen, unbequemen Lehnen, sinnlosen Proportionen, zu kleinen Sitzflächen oder Schrägen, die ein sich hinlegen etwa, unmöglich machen.  Diese Objekte sprechen eine eindeutige Sprache: „Geh weg!“ Einzelhandelsverbände finden so etwas toll und auch eine Stadtpolitik, die das Elend am liebsten ganz aus der innerstädtischen Optik entfernt hätte. Auch behinderte und alte Menschen, die dringend auf regelmäßige Ruhemöglichkeiten angewiesen sind, sind Opfer einer solchen Politik. „Feindliche Architektur“ gehört solchermaßen zu einem größeren Zusammenhang: Zur Aufrechterhaltung der Illusion, dass es dieser Gesellschaft gut geht, dass es ein „Wir“ gibt (also dieses WIR, das in den Sonntagsreden von Politikern alle Couleur immer wieder aufscheint, aber bei allfälligen Zumutungen stets „Ihr“ meint, z.B. die, die den „Gürtel enger schnallen müssen“). „Feindliche Architektur“ dementiert dieses WIR ganz augenfällig und wenig thematisiert (doch, es gibt alle paar Jahre wieder wissenschaftliche Arbeiten dazu, auch mal hin und wieder ein Feature, aber dann herrscht wieder lautes Schweigen). Auch wenn der „Draussenseiter“ nur lokal zur Kenntnis genommen wird, ist aber die lokale Dokumentation und Thematisierung ein wichtiger Schritt, weil das Problem zunächst auf lokaler Ebene angegangen werden muss. Aus vielen lokalen Bewegungen könnte dann zumindest ein Bewusstsein für die Mechanismen von Herrschaft entstehen.

OASE Benedikt Labre e.V. (Hg.): Draussenseiter. Das Kölner Strassenmagazin. Ausgabe September 2024. 11 Ausgaben im Jahr. Straßenpreis 3,40 Euro. Im Abonnement als Straßenabo à 55 Euro (inklusive Porto), als Sponsorenabo à 85 Euro (inklusive Porto), als Förderabo à 150 Euro (inklusive Porto). Internetseite des Magazins hier.

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Überflüssiges Wissen, vergnüglich

(TW) Die „Action-Szenen der Weltliteratur“ waren oder sind eine vergnügliche Kolumne der WELT-Literaturredaktion. Sie erzählen von tragischen, komischen, bizarren oder sonstwie seltsamen Ereignissen, die den großen Geister der Weltliteratur zugestoßen sind. Ereignisse, die oft in den entsprechenden Biographien nur marginal behandelt sind oder auch gar nicht. Was man kennt und was man nicht kennt, hängt vom jeweiligen Beschäftigungsgrad mit Literatur ab, wer noch gar nichts kennt, findet einen unterhaltsamen, unkomplizierten Einstieg in die oft arg wunderliche Welt der Literatinnen und Literaten.

Ich zum Beispiel wusste nicht, dass der sanfte Robert Walser zu einem Tobsuchtsanfall fähig war, oder dass Peter Handke beim Autofahren in Alaska einen Totalschaden produziert hat oder das Max Frisch gerne einen Nazi von einem Berggipfel geschubst hätte. Dass Rimbaud mit Waffen gedealt und Patrick Leigh Fermor auf Kreta einen Nazi-General gekidnappt hatte, Beckett von einem Zuhälter niedergestochen wurde oder dass Napoleon über Wieland lachen musste, war mir bekannt, weil solche Anekdoten in meine Arbeitsgebiete gehören. Wir gehen von der Faktensicherheit der Geschichtchen aus, so banal sie auch von Fall zu Fall sein mögen. Alle 111 Action-Szenen der Weltliteratur aber, so der Buchtitel, und das ist überaus nett, rütteln ein wenig an den Marmorbildern, zu denen sich manch großer Geist im Zuge der „Kanonisierung“ petrifiziert hat. Und das Schöne – manches davon ist absolut überflüssiges Wissen. Und das mögen wir, weil es einfach Spaß macht.

Mara Delius, Marc Reichwein (Hg.): 111 Action-Szenen der Weltliteratur. Die Andere Bibliothek, Bd. 477. Aufbau Verlag, Berlin 2024. 382 Seiten, 26 Euro (Erfolgsnachdruck).

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Vieles immer noch ein Geheimnis

(AM) Es ist erst der Anfang, noch lange nicht das vollständige Bild der Beteiligung von Frauen an der Schattengeschichte von Spionage und Geheimdienstarbeit vor, zwischen und in den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Women in Intelligence. The Hidden History of Two World Wars ist der Beginn der Aufarbeitung einer Leerstelle. Dies aus vornehmlich britischer Sicht. Die Londoner Historikerin Helen Fry – Autorin von über 25 Büchern zur Sozialgeschichte des Zweiten Weltkriegs, dabei besonders der britischen Geheimdienste, ihre Internetseite hier – war bei ihrer langjährigen Recherchearbeit (als eine der wenigen Wissenschaftlerinnen auf diesem Feld) immer wieder dieses Defizits gewahr geworden. Jetzt setzt sie die Frauen auf die Landkarte. Ihr Wissen um MI5, MI6, SOE, MI9, MI19, um die M Rooms, um Section X und zahlreiche Agentennetzwerke der Alliierten überall im von den Nazis besetzen Europa kommt ihr dabei zugute.

Es ist das erste Sachbuch dieser Art. Andreas Pflüger hatte für seinen Roman »Ritchie Girl« eine Frau erfunden, die in der Männerwelt der Nazi-Jäger, Vernehmer und Ermittler ihren Platz behauptet (meine Besprechung hier). Helen Fry porträtiert in ihrem panoramischen Überblick aus jetzt zugänglichen Akten eine veritable weibliche Truppe von Führungs- und Feldagentinnen, Codeknackerinnen, Luftbildauswerterinnen, Vernehmerinnen, Widerstandskämpferinnen. Von wegen, dass Frauen immer nur eine Bürorolle zustand. Sie waren auch strategisch operativ, andere standen hinter den Linien »ihren Mann«. Manche waren Doppelagentinnen, manche betrieben Fluchtrouten, sie alle waren im Krieg gegen die Nazis wichtig. An der bisherigen unvollständigen Darstellung ihrer Rolle, so betont Helen Fry, ist nicht nur der bisher vorherrschend männliche Blick auf die Geheimdienstwelt schuld, sondern auch viel Geheimhaltung und Aktensperre. Das löst sich nun 75 Jahre später allmählich auf. Mata Hari hatte viele Schwestern. Wir müssen uns von einem Klischee verabschieden.

Helen Fry: Women in Intelligence. The Hidden History of Two World Wars. Yale University Press, New Haven und London 2023, Paperback-Ausgabe 2024. 448 Seiten, GBP 11,99.

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Ein Liberaler mit Pistole

(AM) Vier kurze Worte, zusammen acht Buchstaben waren es, mit denen Kamela Harris in der TV-Debatte mit Donald Trump dessen Anschuldigung konterte, die Demokraten würden alle Amerikaner entwaffnen wollen: »I own a gun.« Sie selbst besitze eine Waffe. Ein paar Tage später legte die »Marxistin« (so Trump) bei einem Wahlkampfauftritt nach: »Wer bei mir einbricht, wird erschossen.« Das Verhältnis der US-Amerikaner zu ihren Waffen und zu ihrem Selbstverteidigungsrecht ist, sagen wir, komplex. Siehe etwa auch das haarsträubende Fotoprojekt »Ameriguns« des Italieners Gabriele Galimberti.

Der Soziologie-Professor David Yamane, ein Liberaler aus der San Francisco Bay Area, wurde mit 42 Jahren Schusswaffenbesitzer. Begab sich dann, ganz im Rahmen seiner Profession, auf eine zwölfjährige Reise durch die »Gun Culture« Amerikas. Sein Buch Gun Curious: A Liberal Professor’s Surprising Journey Inside America’s Gun Culture verbindet persönliche Erfahrung mit soziologischer Beobachtung und Neugier auf fremde Erfahrung und Erkenntnis, gewährt überraschende Innenansichten einer Realität, die wir als höchst polarisiert wahrnehmen. Yamane macht verständlich, warum eine Waffe Sinn für die macht, die sie besitzen, illustriert die Haltung einer »defensive gun ownership« und deren Risiken, debattiert einen verantwortungsvollen Umgang mit Waffen. Und schaut dabei vielen sehr unterschiedlichen Amerikanern beim Waffentragen, -kaufen, -pflegen, -schiessen und -diskutieren zu.

Das alles unaufgeregt und sachlich. Ein produktiver Beitrag dazu, das Thema ruhiger anzugehen und mit Waffenträgern ins Gespräch zu treten.

David Yamane: Gun Curious: A Liberal Professor’s Surprising Journey Inside America’s Gun Culture. Exposit Books, Jeffersen/ NC 2024. 214 Seiten, 16 Fotos, Trade Paperback, USD 19,95.

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Konsumkapitalismus: Waffen als patriotische Ware

(AM) Für uns Europäer ist es schwer nachvollziehbar, wie ein Verfassungszusatz aus der Zeit der Kolonialkriege die weltweit einzigartige heutige US-Realität – mit über 400 Millionen Feuerwaffen in Privatbesitz – zu prägen vermag. Der Geschichtsprofessor Andrew C. Mckevitt füllt hier mit Gun Country: Gun Capitalism, Culture, and Control in Cold War America eine wichtige Lücke. Sein Buch konzentriert sich auf die unmittelbare Nachkriegszeit, als die Politik entschied, dass es besser sei, das ganze überschüssige Handfeuer-Waffenarsenal des Zweiten Weltkriegs in Privatbesitz zu überführen als es den Kommunisten weltweit in die Hände fallen zu lassen. In anderen Worten: Waffen und Munition zu einer Ware zu machen – und gleichzeitig im Namen von Geschäft & Politik die Angst zu schüren, dass Selbstverteidigung für jeden patriotischen (und weißen) Amerikaner überlebens-notwendig sei.

Andrew C. McKevitt ergänzt den Aufstieg der USA zur globalen Miltär- und Wirtschaftsmacht mit der Ökonomiegeschichte einer großflächigen »privaten« Aufrüstung: Verbraucher-Kapitalismus im Dienste patriotischer Politik. Oder umgekehrt. Besonders verkaufsfördernd dabei: die Ideologie des Kalten Krieges und so manche Rassenhetze, besonders der mit der Angst vor einer Bewaffung des schwarzen Amerikas.

Nicht umsonst provozierten die 1966 im kalifornischen Oakland gegründen»Black Panther« (ursprünglich die Black Panther Party for Self-Defense) gerne mit Karabiner-Fotos. Bürgerrechtsanliegen und Weltrevolution verbanden sich bei den Panthern mit dem von Malcolm X übernommenen Begriff »by wathever means necessary« – was immer an Mitteln notwendig ist. Malcolm X hatte gepredigt, dass die Friedfertigkeit Martin Luther Kings ein Irrweg sei, gegen das ungerechte rassistische Regime sei die Selbstverteidigung »mit allen Mitteln« notwendig und erlaubt, dies auch um zu einer Rassengerechtigkeit zu kommen. Diese Idee illustrierte er, in dem er für das Magazin Ebony in Anzug und Krawatte posierte und dabei mit einem Gewehr in der Hand aus dem Fenster schaute, ein extrem lässiger und provokanter Scharfschützenauftritt. Die Waffe im metaphorischen Einsatz produzierte einen Einschlag bei vielen weißen Betrachtern. Gewehre und Revolver waren zentral für das öffentliche Bild der Panther, ihren Rekruten lehrten sie: »Die Waffe ist das einzige Ding, das die Schweine (pigs) verstehen. Das Gewehr ist die einzige Sache, die uns befreien und uns unsere Freiheit bringen wird.«

Als sich in den späten 1960er in den USA erste Gesetzgebungs-Initiativen zur Waffenkontrolle formierten, war es schon zu spät. Eigener Waffenbesitz hatte sich in die nationale DNA geschrieben. Von diesem Bewaffnungslevel wieder herunter zu kommen, wird schwierig bis unmöglich sein. – Siehe auch meine Besprechung von Paul Austers »Blood Bath Nation« in dieser Rubrik.

Andrew Mckevitt: Gun Country: Gun Capitalism, Culture, and Control in Cold War America. University of North Carolina Press, Chapel Hill/ NC 2023.336 Seiten, 20 Abbildungen, Tradepaperback, USD 24,95.