Geschrieben am 1. Juni 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2021

Ein Buch – Zwei Blicke: Sonja Hartl & Alf Mayer zu Louisa Luna „Tote ohne Namen“

Große Figur, keine überlebensgroße Rächerin

Es sind zwei Tote ohne Namen, mit denen es die Privatdetektivin und gelegentliche Kopfgeldjägerin Alice Vega in Louise Lunas Kriminalroman zu tun bekommt: zwei mexikanische Mädchen, zwischen 12 und 14 Jahren alt, zu Lebzeiten zur Prostitution gezwungen, nach dem Tod einfach abgeladen. Alter, Todesart und die Seriennummer der eingesetzten Spirale verbindet sie – und letztere verrät noch mehr: Es muss außer ihnen noch vier weitere Mädchen geben. Weil nun eine der Toten einen Zettel mit dem Namen von Alice Vega in der Hand hält, kommt die Polizei auf die Idee, sie zu engagieren – unter der Hand versteht sich, bar bezahlt. 

Tatsächlich lässt sich Vega darauf ein und lässt noch einen Kollegen von der Ostküste nach San Diego einfliegen: Max Caplan ist anders als sie. Ein ehemaliger Polizist, geschieden, hat eine Tochter und denkt über einen ruhigen Job als Detektiv für eine Anwältin nach. Die beiden haben eine Vergangenheit – „Tote ohne Namen“ ist der zweite Teil einer Reihe –, aber es gut, dass erst dieser Teil erscheint: dass diese Geschichte hier nur angedeutet wird, dass diese Figuren bereits einen Schritt weiter sind in ihrer Entwicklung und Beziehung, verleiht ihnen etwas angenehm widerspenstig-brüchiges. (Außerdem scheint dieser erste Fall auch mit einer Gefährdung von Caplans Tochter Nellie zu enden, das ist sehr oft ein recht überflüssiges und einfaches Mittel, um die Dramatik zu steigern.) 

Vega und Caplan beginnen nun also mit den Nachforschungen und versuchen, die noch lebenden vier Mädchen zu finden und die Hintermänner auszumachen. Von Anfang ist ihnen klar, dass weder der verantwortliche Detective Roland Otero noch die zwei Männer von der DEA mit offenen Karten spielen. Deshalb stecken sie schon bald in einem Schlamassel aus Korruption, Drogenhandel, Erpressung, Menschenhandel und Zwangsprostitution. Aber Vega vertraut auf die Waffe, die sie in ihrem Kofferraum hat – ein gelungener Running Gag, der dann erst auf Seite 188 mit viel Understatement aufgelöst wird – und ihrem Kampfgeist. Sie ist eine gelungene Figur, es ist klar, dass auch sie einige Traumata in der Vergangenheit hat, aber sie wird dadurch nicht zu einer überlebensgroßen Rächerin. Vielmehr vertraut sie auf sie sich selbst und die Hilfe anderer. Zusammen mit Max Caplan – der hier der bodenständigere von beiden ist – ergibt sie ein gutes Ermittlungsduo, von dem ich mehr lesen möchte. 

Louisa Luna verbindet in „Tote ohne Namen“ sehr gute hardboiled-Unterhaltung mit gesellschaftspolitischen Untertönen: Kinderhandel von Lateinamerika in die USA ist ein großes Problem, die Kinder werden verschleppt – und die Gleichgültigkeit der US-Behörden ist groß. Die zeigt sich in „Tote ohne Namen“ nicht nur in dem Verhalten vieler Figuren, sondern vor allem in der kurzen Schilderung des Besuchs in einem Lager, in dem Kinder mit unklarem Aufenthaltsstatus „verwahrt“ werden. Die Ausbeutung von Kindern wird regelrecht hingenommen, sogar von Jugendlichen, die aufgrund ihrer eigenen Privilegien aus Langeweile und Überheblichkeit wohl kaum mehr wissen, was richtig ist – und deren Eltern ihnen da offensichtlich auch keine Hilfe sind. Dazu kommt ein Durcheinander an Zuständigkeiten von Behörden, eine Einwanderungspolitik, die ihren Namen nicht verdient – und immer wieder Gleichgültigkeit, bei der man nicht weiß, ob sie aus Abgestumpftheit oder tatsächlicher Verachtung kommt. Aber letztlich es auch egal. Es geht hier um Menschen, um die sich niemand kümmert. Deshalb fiebert man mit Luna und Caplan unweigerlich mit, die zumindest einigen Mädchen helfen wollen.

Sonja Hartl

Louisa Luna: Tote ohne Namen (The Janes, 2020). Aus dem Englischen von Andrea O’Brien. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 444 Seiten, Klappenbroschur, 15,95 Euro.

Die heißeste Frau seit Modesty Blaise und Jenny Aaron

Ich begegnete diesem Buch in Melbourne, am Ende eines Besuchs bei Michael Heyward, dem Verleger von Peter Temple, Garry Disher und Stephen Greenall und einer beeindruckenden Backliste australischer Klassiker. Wir hatten uns darüber unterhalten, wie schwierig es für uns Vielleser ist, von einem Buch noch richtig überrascht zu werden, wie eher selten das noch vorkommt. „Blown away“ war der Ausdruck. Da trat er ans Regal, fischte „The Janes“ von Louisa Luna heraus, gab mir das Exemplar und meinte: „Try this one.“

Das ist jetzt 15 Monate her. Kaum ein Buch habe ich in dieser Zeit mit mehr Vergnügen gelesen. Immer noch ich ertappe mich dabei, wie ich lächeln muss, wenn ich an bestimmte Details denke. Louisa Lunas „Tote ohne Namen“ ist ein perfekter Thriller, straight und selbstbewusst, geölt und elegant, effektsicher und klug. Rasend spannend. Schnell erzählt. Mit Widerhaken. Dieses Buch macht Eindruck. Bleibt.

Der Originaltitel spielt mit „Jane Doe“, dem weiblichen Platzhalternamen für eine noch nicht identifizierte Person. Louisa Luna gewinnt dem Mädchenhandel-Drogenkartell-Killer-Behörden-Korruptions-Kuddelmuddel-alles-schon-gehabt-Plot neue, tiefe, dunkle Seiten ab und einen frischen Blick. Und am Ende versetzt sie uns einen moralischen Kinnhaken, der nicht unberührt lässt – so nah sind einem die Personen gekommen. Vor allem die Heldin Alice Vega, 35, Privatermittlerin. Ich bin versucht zusagen, die heißeste Frau seit Jenny Aaron und Modesty Blaise.

Die Erzählperspektive wechselt von auktorial manchmal zu der von Cap. Max Caplan, frischer Ex-Polizist. Ermittlungs-Partner von Alice Vega. Es ist ein Männerblick, geschrieben von einer Frau. Hier gilt er Caps Tochter Nell:

„Vor ein paar Monaten hatte sie sich die Haare abgeschnitten und schwarz gefärbt. Jetzt waren sie kurz, hingen ihr gerade noch über die Ohren und standen nach allen Seiten ab. Ihre Kleidung hatte sie auch radikal verändert. Früher war sie eher sportlich rumgelaufen, Khakihosen und Kapuzenpulli, jetzt trug sie Jeans mit Löchern auf den Knien und enge Trägerhemdchen oder T-Shirts mit aufgerissen Säumen. Die Augen waren geschminkt wie die von Amy Winehouse. Cap störte es nicht, dass sie sich erwachsener anzog (wie er es nannte), aber was dieser neue Look über ihr Seelenleben aussagte, gefiel ihm gar nicht: zerrissen, haltlos.“

Auf Seite 83 späht Cap abends eher zufällig in Vegas Zimmer, kann den Blick nicht wenden. 

„Sein Herz pochte wie wild, als er langsam erkannte, was sie da machte.
Dort, mitten im Zimmer, vollführte Vega einen Handstand.
Es brannte kein Licht, aber Cap erkannte die Konturen ihres Körpers und sah, dass sie bekleidet war. Ihr Blick war von ihm abgewandt, zum Bett gerichtet, ihr Haar hing wie ein Vorhang über dem Boden. Sie bewegte sich nicht.
Mehrere Minuten verharrte er vor ihrem Fenster und sah ihr zu. Wie konnte sie das so lange halten?“

Später fragt sie ihn, ob er sie beim Handstand gesehen hat. Cap lügt nicht. Sagt ja. Es war schon das zweite Mal. „Ist so eine Angewohnheit von mir“, sagt sie. „Hilft mir beim Nachdenken.“ Okay. Stundenlang Handstand. Sollte man mal probieren.

Auf Seite 97 marschiert Vega vor Cap auf ein Haus zu. „Ohne ihre Jacke konnte er ihre Figur besser sehen, als es normalerweise der Fall war, besonders ihren Hintern. Hör auf, ihr auf den Hintern zu glotzen!, mahnte er sich, aber das brachte nicht viel. Er war einfach zu perfekt.“ Die Autorin und ihre Figur lassen solche Blicke männliche Blicke sein, zetteln darüber keinen Aufstand an. Im Gegenteil: Wer hier die Hosen auf dem zudem schöneren Hinten anhat, das ist immer klar: „Mit Vega zusammen zu sein, wenn ihr Hirn den Turbo einschaltete, war genug um ihn wach zu halten. Besser als Red Bull.“ – Oder, an anderer Stelle: „Probiere es zuerst mit Logik. Das war Vegas Motto.“

„Was ist denn da im Kofferraum?“

Vega – die man schnell nur noch beim Familiennamen nennt, wie Reacher auch – verhört einen jungen Mann. Textet an Cap, der draußen im Auto sitzt. „Jetzt winken“, sagt die SMS. 
„Siehst du den Typen da drüben? Er kann alles mithören, was wir sagen.“
Vega fuchtelte mit ihrem Handy.
„Da ist ein Mikro drin. Wenn mir was passiert, kommt er rüber und zeigt dir, was im Kofferraum ist.“
„Was ist denn im Kofferraum“, fragt Corey.
„Neugierig? Dann greif mich an.“
… „Egal, was ihr mit mir anstellt, egal, was du da im Kofferraum hast, das alles ist ein Furz gegen das, was die Typen und ihre Leute mit mir machen, wenn ich sie verpfeife.“
„Echt?“ Vega setzte sich auf den Tischrand. „Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen.“

Der ominöse Kofferraum wird kurz zuvor das erste Mal erwähnt. Es wird ein running gag in diesem Buch. 

„Eine halbe Stunde. Wenn ich dann nicht wieder draußen bin und du keine Nachricht von mir hast, nimmst du das, was im Kofferraum ist und holst mich raus.“
„Was ist im Kofferaum?“, ruft er ihr nach.
„Musst du nicht wissen, wenn du’s nicht brauchst.“

So lautet auch Hitchcocks klassische Definition des McGuffin.

Im neugierigen Internetzeitalter käme er damit nicht durch. Irgendwann erlöst uns Louisa Luna. Es ist ein übergroßer Bolzenschneider, den sie schultert wie eine Axt. Irgendwann geht er verloren. Als Vega ihn wiederfindet, „lächelt sie erfreut, als sei es ein lange verschollener Freund“. Nimmt ihn mit zu einem Verhör im Krankenhaus. Vega tippt damit nur an den Gips – und der Typ schreit, bettelt und winselt, dass man BITTE diese Frau wegbringen müsse.

Einer meiner Lacher im Buch. 

Lächeln musste ich oft bei Nell, Caps halbwüchsiger Tochter, einer Art frühreifer Madame Maigret. Ein Teenager, den schon lange nichts mehr erschüttern kann. Wenn Cap seine Arbeit mit nach Haus bringt, ist sie es, die ernsthafte Gespräche mit ihm führt und Schlussfolgerungen zieht: „Im Prinzip machen sie die Mädchen zu Sexspielzeugen. Setzen ihnen Spiralen ein und zappen ihnen den Verstand weg.“

Vega kauft einen Stapel Pornozeitschriften. Es gibt einen Witz über eine Pferdezeitschrift mit nackten Frauen. Oder ist es eine Frauenzeitschrift mit nackten Pferden? Vega ist da bereits auf einer Metaebene: „Ich denke über Motivationen nach. Und darüber, dass es für Männer nur drei Dinge gibt: Sex, Drogen und Geld. Das magische Dreieck. Jeder Mann, der ein Verbrechen begeht, tut dies, weil er an einer dieser drei Sachen interessiert ist – oder gleich an allen dreien.“

„Tote ohne Namen“ ist das fünfte Buch und der zweite Kriminalroman von Louisa Luna. Neunmalkluge Blogger machen Stunk, warum denn nicht zuerst der erste Roman mit Alice Vega und Max Caplan übersetzt worden sei. So als ob Herausgeber und Verlag zu dumm oder unfähig gewesen seien, sich darum gekümmert zu haben. „Eine fragwürdige Veröffentlichungspolitik“ sieht gar ein besonders eifriger Buchhalter, andere beten das nach. Hat einer von diesen Möchtegernkommissaren denn „Two Girls Down“ (von 2018) gelesen? Nun, ich habe es getan. Und schon gleich wieder vergessen. Louisa Lunas Krimi-Erstling ist dünne Kost, meilenweit entfernt von dem, was sie uns mit „Tote ohne Namen“ serviert. Soll vorkommen so etwas. Ist sogar Chandler passiert.

Alf Mayer

Von Sonja Hartl angeregt, und gerne zu ergänzen: „Wir könnten mal eine Liste mit den besten Dingen in Kofferräumen machen.“ 

Platz 1: George Clooney und Jennifer Lopez in „Out of Sight“
Platz 2: Dieser Bolzenschneider…

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